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Heilkunst Yoga

Ein Blick ins Buch

Wie der Geist heilt

Aus dem Kapitel 10

Verhinderung krank machender Muster

Um die Wirkung von Yogatherapie zu erklären, haben wir Ihnen im 8. Kapitel drei Bereiche menschlicher Lebensprozesse vorgestellt: das Bewegungssystem, die neuronalen und hormonellen Regulationssysteme und schließlich das Mentale, unseren Geist, unsere Psyche. Dabei zeigte sich, dass diese Bereiche nur in ihrer großen Verbundenheit und Abhängigkeit voneinander zu verstehen sind. Da der Geist im Heilungsprozess eine besondere Rolle spielt, soll es an dieser Stelle nochmals ausführlich um dieses Thema gehen. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang vor allem stellen, lauten: Welche Beziehungen bestehen zwischen Geist und Gesundheit? Auf welche Weise kann das Mentale Heilungsprozesse unterstützen? Wie kann ein Mensch auf seine innere Befindlichkeit Einfluss nehmen? Welche Wirkungen kann man von einer solchen Intervention erwarten?1

Stimmungen, Gefühle, Wahrnehmungsmuster, Einstellungen und Erwartungen haben einen Einfluss auf die vielfältigen Regulationssysteme des Körpers und damit auch auf die Entwicklung von Gesundheit und Krankheit. Die wissenschaftliche Suche nach den Ursachen stressbedingter Erkrankungen liefert uns wichtige ­Erkenntnisse darüber, wie die mentalen Befindlichkeiten eines Menschen seine Körperfunktionen beeinflussen. Warum kann Stress krank machen? Jeder Mensch reagiert auf besondere, vor allem auch unerwartete Herausforderungen mit einer festen Abfolge neuronaler und hormoneller Reaktionen. Sie bilden eine Struktur, die heute gerne als »Stressachse« bezeichnet wird.2 Der Mensch wird durch dieses System in die Lage versetzt, in kürzester Zeit die nötige Bereitstellung lebensnotwendiger Ressourcen perfekt zu organisieren. Unter bestimmten Umständen kann das System aber auch zum Ausgangspunkt krank machender Impulse werden – so zum Beispiel, wenn das intensive und andauernde Gefühlserleben, einer Anforderung nicht gewachsen zu sein, diese Stressachse unter Daueraktivierung stellt. Dann gerät sie rasch zum Zentrum einer Kaskade schwerwiegender Fehlregulationen. Die gesundheitlichen Folgen reichen von einer Schwächung der Immunabwehr bis zu Veränderungen des Gehirnstoffwechsels, die das Entstehen einer Depression begünstigen.

Die Ergebnisse der Stressforschung zeigen, dass bestimmte mentale Muster des Erlebens und Verarbeitens ein flexibles und angemessenes Arbeiten zentraler Regulationssysteme des Körpers verhindern und so den Weg zu einer Krankheit bahnen können3. Doch Vorsicht: Weder macht intensiver Stress immer krank noch lassen sich eindeutige Zusammenhänge zwischen bestimmten mentalen Strukturen und der Wahrscheinlichkeit des Auftretens ganz bestimmter Erkrankungen nachweisen. Die Forschung der letzten dreißig Jahre zeigt sehr einhellig auf, dass der Weg von einer belastenden mentalen Struktur zur Krankheit nie geradlinig und vorhersehbar abläuft. Die Hypothese etwa, Krebserkrankungen oder Migräne knüpften sich an besondere mentale Strukturen, Stimmungen oder Gefühle, hat sich in vielfältigen Untersuchungen als falsch herausgestellt. Es gibt weder eine »Krebs-« noch eine »Migränepersönlichkeit«. Und auch simple psychologisierende »Erklärungen« sind widerlegt: Einen Hörsturz bekommen vermehrt nicht jene Menschen, die ein Zuhören-Müssen als Überlastung erleben. Tatsächlich kann jede Überlastung mit dem daraus resultierenden Stress einen Hörsturz auslösen. Das Zusammenspiel genetischer Faktoren mit der individuellen Biografie, den aktuellen Lebensumständen und vielem anderen mehr ist vielschichtig und so komplex wie die Ursachen für das Entstehen körperlicher Störungen. Deshalb können schreckliche Krankheiten auch Menschen ereilen, die glücklich und zufrieden sind und »mit sich im Reinen« leben.

Kein Zweifel mehr besteht aber heute darüber, dass die Heilung jeder körperlichen und geistigen Störung durch eine übermäßige und andauernde Aktivierung der Stressachse behindert wird. Wird Stress hingegen reduziert, eröffnet dies den körpereigenen Regulationssystemen wieder mehr Raum, sodass Ungleichgewichte beseitigt werden und therapeutische Interventionen eine größere Wirksamkeit entfalten können.

Durch die Eindrücklichkeit dieser Erkenntnisse gewinnen präventive und therapeutische Programme zur Stressreduktion auch in der etablierten Medizin eine immer größere Bedeutung. Ein Beispiel dafür ist die dort zunehmende Verbreitung von Kursen in »MBSR« (»Mindfullness Based Stress Reduction«, also »achtsamkeitsbasierte Stressreduktion«), die in ihrer positiven Wirkung vielfach bestätigt wurden4. Es handelt sich dabei um ein Programm, in dem die in diesem Buch vorgestellten Techniken des Yoga eine zentrale Rolle spielen: achtsam praktizierte Āsanas, Entspannungstechniken, Me­­di­tationsübungen und die Auseinandersetzung mit hinderlichen Denk- und Verhaltensmustern. Die Reduktion krank machender Stressreaktionen ist demnach eine der am besten dokumentierten Wirkungen von Yoga.

 

Eigenaktivierung heilender Ressourcen

In einem zweiten Schwerpunkt der Diskussion zum Einfluss des Geistes auf Krankheitsprozesse geht es um die Frage, ob und wie bestimmte mentale Einstellungen und Stimmungen die menschlichen Regulationssysteme positiv modulieren, also eine direkte Aktivierung heilender Ressourcen bewirken können. Während zum Wie noch vieles zu klären bleibt, besteht über das Ob inzwischen Klarheit: Menschen können über bestimmte Einschätzungen, Vorstellungen und Überzeugungen in nachweisbarer Weise positiv Einfluss auf ein Heilungsgeschehen nehmen. Mit anderen Worten: Wenn Sie wirklich daran glauben, dass Ihnen etwas helfen wird, werden Ihre Chancen auf die Entfaltung von dessen heilender Wirkung erhöht. Dabei macht es bezogen auf Ihr Vertrauen in eine bestimmte Therapie keinen Unterschied, ob es sich um ein Medikament, eine Operation, eine Yogapraxis oder ein therapeutisches Gespräch handelt. Umgekehrt gilt: Fehlt es Ihnen an Vertrauen oder empfinden Sie gar eine Ablehnung gegenüber einem Medikament, einer Therapeutin oder einem chirurgischen Eingriff, so provoziert dies in Ihnen Prozesse, die den therapeutischen Erfolg mindern.

Dass unser Wissen über das Zustandekommen dieser Wirkung in den letzten Jahren so enorm zugenommen hat, liegt an der immer intensiveren Erforschung des sogenannten Placeboeffektes, der in der Medizin lange Zeit zu Unrecht ein Schattendasein führte. Kurz gesagt beschreibt er folgendes Phänomen, das wir aus vielen aktuellen Untersuchungen über die Wirkung von Schmerzmitteln kennen: Wird ein Scheinmedikament zusammen mit der Information verabreicht, es sei ein starkes Schmerzmedikament, so kann dies bei einem Patienten zu einem relevanten schmerzmildernden Effekt führen. Auf der anderen Seite schwächt sich die Wirkung selbst starker Opiate dann ab, wenn sie bei ihrer Verabreichung als unwirksame Medikamente beschrieben werden. Das ist für sich genommen schon eine erstaunliche Tatsache. Das Wichtigste daran aber ist: Diese Effekte sind keineswegs »eingebildet« in dem Sinne, dass sich jemand den spürbaren Einfluss auf sein Schmerzerleben nur »einredet«. Vielmehr kann man heute bei solchen Experimenten über die computertomographische Erfassung von Veränderungen der Aktivität bestimmter Gehirnregionen eine tatsächliche Verringerung der Schmerzimpulse bildlich nachweisen.5 Auch die Mechanismen, die diesen Effekt ermöglichen, wurden dank der Untersuchungen zu den Wirkungen von Medikamenten und Therapien grundsätzlich klar, wenngleich Placeboeffekte hier ausschließlich als Störungen angesehen und dahingehend untersucht worden waren. Entsprechend negativ waren die Assoziationen, wenn von Placeboeffekten die Rede war. Inzwischen stellt sich die Situation ganz anders dar.6 Heute ist nachgewiesen, dass es sich bei dem Placeboeffekt nicht um eine Täuschung über eine Wirkung handelt. Vielmehr wird mit dem Placeboeffekt eine mögliche Täuschung über die Ursache einer Wirkung beschrieben: Während Sie glauben, es sei ein wirksames Schmerzmittel, das Ihnen die Kopfschmerzen erträglicher gemacht hat, haben Sie in Wirklichkeit durch ein Wirkversprechen Ihr Potenzial körpereigener Mechanismen angestoßen, das den Prozess der Schmerzentstehung, Weiterleitung und Modulation in Ihnen verändert hat.

In den oben beschriebenen Experimenten gelingt dies allerdings nur mithilfe eines Tricks: Man muss Sie belügen. Das Potential, das dem Placeboeffekt offensichtlich zugrunde liegt, lässt sich jedoch auch gezielt und ganz bewusst nutzen, also ohne die Zuhilfenahme einer »Selbsttäuschung«. Wie dies gelingen kann, ist inzwischen Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung geworden. Es zeigt sich dabei erwartungsgemäß, dass die Aktivierung innerer Heilkräfte schon immer einen mehr oder weniger wichtigen Anteil an jedem Heilungsprozess hat. Der Begriff Placebo ist für diese Vorgänge eigentlich ganz passend, heißt er doch wörtlich übersetzt: »Ich werde gefallen.« Augenscheinlich verfügt das mensch­liche System über Mechanismen, erwünschten Wirkungen durch mentale Prozesse den Weg zu bereiten – umgekehrt ist der Geist in der Lage, Wirkungen eines von außen gegebenen Einflusses abzuschwächen, sei es Regen, Kälte, ein unverdauliches Essen, aber eben auch die Wirkung eines Schmerzmedikamentes.

Dies alles lässt sich auch anders ausdrücken: Jede Einflussnahme, jede Manipulation, jede Therapie, der ein Mensch ausgesetzt ist, bleibt bis zu einem gewissen Grad »selbstbestimmt«. Nur wenn Sie Ihrem Arzt, Ihrer Ärztin vertrauen und damit zulassen, dass deren Einfluss auch maximale Wirkungen entwickeln kann, werden die verabreichten Medikamente den höchstmöglichen Effekt zeigen. Und wie für Medikamente trifft dies natürlich auch auf Yogaübungen zu. Es sind deshalb auch nicht unerklärliche Wunderheilkräfte besonderer TherapeutInnen, die fördernd auf einen Heilungsprozess einwirken. Vielmehr ist es das Selbstheilungssystem der KlientInnen allein, das durch die Wertschätzung der TherapeutInnen mobilisiert wird. Echte Empathie und Zuversicht auf der therapeutischen Seite kommen also immer dem Gesundungsprozess der PatientInnen zugute.

Mit dem »Heilfaktor Beziehung« wird in verschiedenen Therapieformen unterschiedlich umgegangen. Ein Chirurg wird dafür zum Beispiel in einer einfühlsamen und ausführlichen Patientenaufklärung seine Kompetenz und Erfahrung in die Waagschale werfen. Die Vorgehensweise in bestimmten Formen der Psychotherapie wiederum besteht in der gezielten Arbeit am Aufbau einer intensiven und besonderen Beziehung, wobei die damit verbundenen Emotionen und Erwartungen im therapeutischen Prozess selbst thematisiert und genutzt werden. In der Yogatherapie sind es das ehrliche Interesse und die den KlientInnen vermittelte (nicht einfach behauptete, sondern gut begründete) Zuversicht, die für den »Heilfaktor Beziehung« bestimmend sind, gestützt auf die Kompetenz und die Erfahrung des Yogalehrers, der Yogalehrerin.

 

»Ich kann selbst zu meiner Gesundung beitragen«

Ein wichtiger Aspekt für die mentale Unterstützung von Heilung ist die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung. Sie lässt sich als eine besondere Form der im Zusammenhang mit dem Placeboeffekt diskutierten Wirkungen verstehen und ist schon länger Gegenstand vielfältiger Forschung. Hier geht es nicht um das Vertrauen in Hilfe von außen. Gefragt wird vielmehr danach, wie viel Vertrauen ein Mensch in seine eigenen Möglichkeiten setzt und welchen Einfluss dies auf den Heilungsprozess hat. Gerade bei chronischen Erkrankungen konnte man zeigen, welche positiven Wirkungen auf den Krankheitsverlauf von einem großen Vertrauen in die eigene Kraft ausgehen, wie positiv sich also eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung auswirkt. Leidet man etwa unter starken Rückenproblemen, so sind die Chancen dafür, dass diese Schmerzen nicht chronisch werden, ungleich größer, wenn man nicht allein einer Spritze oder Massage Linderung zutraut, sondern davon überzeugt ist, die Schmerzen durch eigenes Tun in den Griff zu bekommen.7

Die Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung ist ein ganz wesentlicher Aspekt einer jeden Yogatherapie. Sie entwickelt sich ohne besonderes Zutun entlang der Erfahrungen, über die im Zusammenhang mit einer Yogapraxis häufig berichtet wird: Durch eigenes Üben wird eine positive Veränderung bewirkt, ein Status quo gehalten oder eine Verschlechterung hinausgezögert und dies schlägt sich nieder im Gefühl, selbst wieder zum handelnden Subjekt zu werden und Einfluss nehmen zu können. Der Sanskrit-Begriff »Svatantra« bedeutet: mein »eigenes Werkzeug« sein, »für mich selbst stehen können«. Er gilt dem Yoga nicht ohne Grund als zentrales Anliegen jeder regelmäßigen Praxis.

 

Ein heikles Thema: Akzeptanz

Nicht nur im Yoga stellt sich bei der Diskussion um einen angemessenen und heilsamen Umgang mit Leid und Krankheit immer wieder die Frage nach der Akzeptanz. Welche Rolle spielt für den Hei­lungsprozess die Fähigkeit, eine Krankheit mit all ihren Konsequenzen annehmen zu können? Das Akzeptieren-Können erhält natürlich dann eine ganz besondere Bedeutung, wenn eine Therapie keine völlige Gesundung erwarten lässt, was bei vielen chronischen Erkrankungen der Fall ist. Die Frage nach der Akzeptanz eines Leidens stellt sich aber ebenso bei jedem akuten gesundheitlichen Problem eines ­Menschen.

Ob es nun bewusst geschieht oder nicht: Ein Akzeptieren stellt schon die erste Voraussetzung dafür dar, dass Sie sich überhaupt auf einen therapeutischen Prozess einlassen. Sie verschließen die Augen nicht mehr vor der Tatsache, dass Sie krank sind. Alle KlientInnen, deren Geschichten wir Ihnen in diesem Buch beispielhaft erzählt haben, hatten diesen ersten Schritt schon hinter sich, als sie sich für einen therapeutischen Versuch mit Yoga entschieden.

Verstand und Gefühl hatten ihnen zu der Einsicht verholfen, dass etwas nicht gut lief, dass ihre Situation ernst war, dass sie nicht so weitermachen sollten wie bisher. Wer akzeptiert hat, dass sein Knie so geschädigt ist, dass es einer besonderen Beachtung, Aktivität, Zuwendung und somit Unterstützung durch Üben bedarf, wird initiativ. Er wird auch nicht allzu viel Mühe haben, regelmäßig ein Yogaprogramm zu üben. Was aber, wenn sich trotz aller Bemühungen nur wenig verbessert oder sich eine Erkrankung als ein kompliziertes, chronisches oder gar lebensbedrohliches Leiden entpuppt?

Unendlich schwierig anzunehmen sind solche Situationen, und dennoch spricht die Erfahrung der Betroffenen eine eindeutige Sprache: Das Akzeptieren einer aktuellen Realität wird fast immer als Entlastung erlebt, reduziert Ängste und Stress und bietet die besten Chancen, gesunde Ressourcen zu aktivieren. Akzeptanz fordert keineswegs ein euphorisches Willkommenheißen, kein »Umarmen der Krankheit«, wie man es hier und da hört. Es geht nicht darum, seine Krankheit zu lieben – auch die Immunabwehr des Körpers reagiert in keiner Weise freundlich auf Viren, Bakterien oder Krebszellen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als ein nüchternes Konstatieren einer neuen, besonderen Situation.

Das ist angesichts einer ernsthaften Erkrankung alles andere als einfach und braucht oft viel Zeit. Jede zuratende Aufforderung zur Akzeptanz wirkt dabei in der Regel kontraproduktiv, selbst wenn sie gut gemeint ist. Viel zu oft wird das Thema der Akzeptanz von Krankheit auch im Gewand gewichtiger spiritueller Weisheiten ­eingebracht. All das macht Betroffene noch einsamer, als sie sich in ihrer Situation sowieso schon fühlen.

Akzeptieren zu lernen, so wie wir es verstehen, heißt dagegen: Einen ganz persönlichen Weg zu finden, mit einer Krankheit angemessen umzugehen. Ob und wie sehr dies jemandem gelingt, zeigt sich vor allem daran, wie tragfähig sich getroffene Entscheidungen erweisen – zum Beispiel für oder gegen eine Chemotherapie –, daran, wie gut jemand die immer wieder drohende innere Unruhe, Sorge und Angst bewältigen kann oder auch daran, wie sehr jemand davor gefeit ist, kopflos Heilung in undurchsichtigen und wirkungslosen Therapieangeboten zu suchen.

 

Perspektivenwechsel

Eine Krankheit vermittelt oft das Gefühl, ausgeliefert und hilflos zu sein. Die Art und Weise, wie kranke Menschen sich in ihrer Krankheit erleben, kann sich aber sehr wohl verändern. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist ein Wechsel der Perspektive ausgesprochen wichtig. Dann wird erfahrbar: »Ich bin mehr als meine Krankheit.«

Die Chance eines Perspektivenwechsels wird für bestimmte Bereiche psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Süchte und Angststörungen schon lange diskutiert. Inzwischen schreiben fortschrittliche TherapeutInnen diesem Thema eine wichtige Rolle für die Heilung zu – und zwar hinsichtlich jeder Art von chronischen Erkrankungen – und versuchen auf unterschiedliche Weise, bei ihren PatientInnen einen solchen Perspektivenwechsel anzustoßen.

Aus einem neuen Blickwinkel auf sich selbst zu schauen gelingt nicht von heute auf morgen; eine solche Sicht kann aber erlernt werden. Die Yogatherapie schafft Gelegenheiten dafür durch das Üben. Hier kann ein kranker Mensch sich für die Zeit seiner Praxis besser, aktiver oder auch fröhlicher fühlen als gewöhnlich. Plötzlich sind Dinge möglich, die er nicht erwartet hätte: zum Beispiel ein schmerzfreies Bewegen oder eine wohltuende Stille während der Praxis trotz der sich Tag und Nacht drehenden Gedankenkreisel. Die Stimmung ist für einige Zeit hell, Dauerschmerzen haben sich für ein paar Minuten oder Stunden verringert oder gelegt. Auf diese Weise erleben die Übenden eine Wirklichkeit, die sich für eine gewisse Zeit als Alternative gegen das ebenfalls erlebte Leid behauptet. Die Eindimensionalität des Selbsterlebens als Opfer der Krankheit wird in Frage gestellt. Darin liegt die Chance, dieses Leid als nur einen Zustand neben anderen zu relativieren. Enttäuschung und Frustration können nun als vorübergehend und veränderbar wahrgenommen werden. Man versteht, dass sie als Empfindungen nur ein Teil des Selbst sind; dass auch Kompetenz und Zuversicht dazu gehören, dass immer beides existiert.

Dies einmal erfahren zu haben genügt allerdings nur selten für einen sicheren Wandel des Selbsterlebens. Die Erfahrung muss sich viele Male wiederholen, in jeder Übungspraxis aufs Neue – und schließlich auch im Alltag. Auf diese Weise bekommen kranke Menschen wieder Zugang zu ihren Ressourcen. Wir beobachten, dass in diesem Prozess nach und nach ein neuer, dauerhafter Standpunkt gefunden werden kann gegenüber Einschränkungen, Funktionsstörungen, Schmerzen oder Missstimmungen. Das genau meint Perspektivenwechsel. War jemand vorher befangen und gefangen in der Dynamik seiner Krankheit, so kann er von einem neuen Blickwinkel aus auf sich selbst schauen und sich als jemanden erleben, der unter anderem krank ist. Er hat einen inneren Abstand zu seinem Leid bekommen.

Vielleicht fällt Ihnen an dieser Stelle das Schlagwort ein: »positiv denken«. Es ist eine viel genutzte und effiziente Methode, um den neuen Standpunkt zu finden, von dem hier die Rede ist. Aber auch hier gilt: Ein positives Assoziieren heißt nicht, die Wirklichkeit zu verdrängen; richtig verstanden und genutzt soll es Ihnen nicht nahelegen und einreden, alles sei »nicht so schlimm«. Nein – gerade weil alles so schlimm ist, sind positive Assoziationen nötig, ist es nötig, Ziele zu haben und Wünsche zu formulieren.

Wenn man krank ist, sind die Ausgangsbedingungen für einen Perspektivenwechsel einerseits ungünstig. Der Blick aus einer Perspektive der Einschränkung, die mit jeder Erkrankung auftaucht, ergreift schnell die Identität der ganzen Person, während der Zugang zu dem – gleichfalls zum eigenen Selbst gehörenden – »gesunden« Teil der Persönlichkeit schwerfällt. Andererseits entwickelt ein kranker Mensch immer eine größere Achtsamkeit für sich selbst. Bleibt diese nicht in Enge, Besorgnis und eingeschränkter Wertung befangen, sondern speist sich aus einem beruhigten Gemüt, dann kann sie zu einer Hilfe werden. Aus dem neuen Blickwinkel eröffnet sich die Möglichkeit, vorhandene Lücken in der Mauer des Leids zu finden. Im Bewusstsein jedes kranken Menschen ruht verborgen die Gewissheit, dass er gesunde Funktionen und Stärken hat. Einen Blick auf diese Gewissheit zu erhaschen – bildlich gesprochen: den zerrissenen Faden zu ihr hin wieder zu knoten – stellt einen wichtigen Faktor im Heilungsprozess dar.

 

Verbindung heilt

»Yoga ist Verbindung«8 – ein Verständnis von Yoga, das der Yogalehrer T.K.V. Desikachar nie müde wurde zu betonen. Nahegelegt wird dieses Verständnis schon durch den Namen selbst: »Yoga« ist eine Ableitung aus der indoeuropäischen Wortwurzel »yuj«, aus der sich auch das deutsche Wort »Joch« ableiten lässt: Ein Joch verbindet zwei Ochsen miteinander in einem hölzernen Geschirr. So können sie einen Pflug oder Wagen ziehen, für den ein Tier alleine zu schwach wäre.

Das Bild steht auch für einen wichtigen Aspekt des Yoga im therapeutischen Prozess: In-Verbindung-Sein stärkt jene Kräfte in einem Menschen, die Gesundheit und Heilung fördern.9 Was jedoch ein ernsthaft kranker Mensch als wichtige und unterstützende Verbindung erlebt, präsentiert sich im therapeutischen Gespräch sehr vielgestaltig. Es gehört dazu das schon oft angesprochene Sich-in-Verbindung-fühlen-Können mit dem eigenen Körper, der eigenen Kraft, den eigenen Wünschen und Hoffnungen. Genauso ist die Verbindung mit Menschen, die ihm helfen, wenn er krank ist, ein Teil davon: mit Menschen, die trotz Einschränkungen und Beschwerlichkeiten mit ihm seinen Alltag leben, vielleicht auch der Kontakt zu Menschen, die ähnliches Leid erleben oder erlebt haben. Und nicht selten geht es dabei auch um etwas über all das hinaus, um etwas, das Sicherheit geben oder Trost spenden kann.

In diesem Sinne hat der Neurobiologe Gerald Hüther einmal treffend beschrieben, was nach heutigem Wissen die Heilung unterstützt. Es ist das Vertrauen, selbst zur eigenen Heilung beitragen zu können, also das Gefühl der Eigenkompetenz. Es ist aber auch das Vertrauen, dass mir jemand zur Seite stehen wird, wenn ich es allein nicht schaffe. Und schließlich die Zuversicht, die aus dem Vertrauen erwächst, dass ich in diese Welt gehöre.10

Ein solches Vertrauen und das Herstellen echter Verbundenheit sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie entwickeln sich erst aus einer bestimmten inneren Gestimmtheit heraus, aus einer Offenheit und der Fähigkeit der Zuwendung zu sich selbst. Den Weg dorthin fasst der Philosoph Ernst Tugendhat treffend zusammen: »Menschen können, statt in ihren Zielen und Sorgen aufzugehen, sich in sich sammeln und eine affektive Ausgeglichenheit anstreben«, auch wenn sie das nicht müssen, wie er realistisch hinzufügt. Und weiter: »…sie können in diesem Gesammeltsein sich angesichts der übrigen Welt relativieren« – und auch das ist nur eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit11. Aber wenn für Menschen ein solches »Bei-sich-sein« zusammen mit einem »Sich-verbunden-fühlen« zu einer wirklichen Erfahrung wird, liegt darin eine große Kraft, ein großer Halt. Es ist eine Erfahrung, die viele Gesichter haben kann. Manche finden sie in ihrem religiösen Glauben an Gott, einen »Urgrund« oder eine besondere, transzendente, alles durchdringende Kraft. Viele andere gehen aber heute stattdessen einen anderen Weg, einen säkularen – wie Tugendhat selbst – ganz ohne Bezug auf eine Transzendenz.

Es sind unsere sehr persönlichen Einstellungen und Lebenserfahrungen, die ein solches Erleben, solche Gewissheiten prägen. Für die Menschen, die zu uns kommen lassen sich diese Einstellungen und Erfahrungen immer seltener einordnen in einen bestimmten religiösen Rahmen oder in gängige Vorstellungen darüber, was unter Spiritualität zu verstehen sei. Was ihnen jedoch gemeinsam ist, sind eben diese beiden Aspekte: Das Sich-verbunden-Fühlen und das Sich-selbst-Relativeren. Beides zusammen macht gelassener, ruhiger, verständiger, offener und lässt offensichtlich unvermeidbares Leid besser ertragen.

Die hier vorgestellten Konzepte und Techniken des Yoga bewähren sich dabei als verlässliche Hilfe, dem menschlichen Geist die Möglichkeit des Sich-Verbindens und Sich-Sammelns zu eröffnen und zu erhalten. Ganz unabhängig davon, wie dabei die persönliche Ausgestaltung eines Verbunden-Seins im Einzelnen aussehen mag. Es lässt sich auch so beschreiben: Yoga kann helfen, sich von erlittenen Dingen nicht fortreißen zu lassen, sondern ihnen in einer Haltung zu begegnen, die darin besteht, die mit dem Leben verbundene Herausforderung anzunehmen. Es ist die Herausforderung, unser zerbrechliches und stets von außen und von innen gefährdete Leben selbstbewusst und in Würde zu bestehen.12

 

Zusammenfassung

Die heilende Kräfte des Geistes erwachsen aus

  • der Aktivierung auf Gesundheit ausgerichteter Prozesse der Selbstorganisation
  • der Vermeidung krank machender Muster
  • der Entlastung durch Akzeptanz und Zuversicht
  • Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Eigenkompetenz
  • einem Perspektivwechsel im Überwinden des Selbsterlebens als eindimensional kank
  • der Erfahrung von Verbundenheit