Ein Einstieg
T.K.V. Desikachar
Emilio, Sie arbeiten als Psychiater und sind gleichzeitig ein Kenner des Yoga. Machen Sie eigentlich einen Unterschied zwischen der Spiritualität, wie Sie sie in Indien erlebt haben, und der, die in den westlichen Ländern existiert?
Émilio Serrano
Für mich ist die Spiritualität mehr eine innere Haltung als Religiosität oder ein philosophischer Gedanke. In diesem Sinne habe ich mehr Spiritualität in Indien erlebt als hier und eine andere Art, im Alltag wirklich zu sein, zu leben. Hierzulande spricht man sehr viel von Spiritualität, aber man würde nie lächeln, wenn man mitten im Stau steht, so wie ich ihr in Madras begegnet bin. Freundlichkeit, Verständnis, die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, wie ich sie in Indien erlebt habe, sind für mich ein wichtiger Teil der Spiritualität, auch wenn sie sehr weit vom Yoga, von den Tempeln und von den Philosophien entfernt ist.
T.K.V. Desikachar
Menschen kommen zum Yoga aus den unterschiedlichsten Gründen: Entspannung, das Bedürfnis, den Körper zu bewegen usw … Hinter diesen Erklärungen meine ich, mehr oder weniger versteckt, ein anderes Bedürfnis zu erkennen. Im Laufe der Zeit fragen viele nach einer spirituellen Praxis. Manche kommen so zu ihren Wurzeln zurück, die sie abgeschnitten hatten. Das Vorgehen im Yoga, das mit einer Praxis von Körperübungen beginnt und allmählich zu einer mehr spirituellen Praxis wird, ist es der Spiritualität oder mehr der Psychologie zuzurechnen?
Émilio Serrano
Zurzeit haben wir uns in Europa vom Glauben gelöst, wie er uns von unseren Eltern vermittelt wurde. Ich denke, dass viele Leute sich damit abgefunden haben, Atheisten zu sein. Trotzdem möchten sie aber an etwas glauben. Auf den Teil der Frage, die den Yoga betrifft, kann ich nicht antworten. Das ist nicht mein Metier. Ich kenne jedoch Yogalehrer, die mir erzählen, dass viele Leute in ihrer Yoga-Praxis mehr suchen, als nur körperliches Wohlergehen, sie möchten sich mehr auch der inneren Suche zuwenden. Was den Bereich der Psychologie betrifft, so habe ich bereits in den Sechzigerjahren den Wunsch nach Spiritualität auftauchen sehen. Das war die Zeit von LSD, von Halluzinogenen, die Zeit der Hippies. Nicht wenige Psychotherapeuten haben die Krawatte gegen ein langes Gewand eingetauscht und sind Gurus geworden. So kam es, dass zwanzig Jahre lang die Psychotherapie mit der „Psycho-Religions-Therapie“ vermischt war. Im Grunde war dies eine lockere Zeit für uns Therapeuten. Ich fand es sehr viel angenehmer, statt mich mit Depressiven, Selbstmord-Gefährdeten oder Drogenabhängigen herumzuschlagen, mit intelligenten, kreativen Leuten zu arbeiten, denen es gut ging, die tanzten, dichteten oder komponierten. Wir hatten damals alle versucht, mehr Guru zu sein als Psychotherapeut. Aber Sie kennen die Wahl, die ich für meine Person getroffen habe.
T.K.V. Desikachar
In Indien ist es gewissermaßen obligatorisch, bei seinen Wurzeln zu bleiben, auch wenn man von einer anderen Tradition stärker angezogen wird und den Eindruck hat, in ihr erfolgreicher zu sein. Hierzulande lösen sich die Leute ohne großes Zögern aus ihrer Tradition heraus, sei es die katholische, die jüdische oder eine andere. Aber sie bleiben auf der Suche nach etwas anderem. Je mehr sie sich mit anderen spirituellen Herangehensweisen wohlfühlen, desto stärker möchten sie ihre Wurzeln austauschen. Sie haben sehr viel Erfahrung in der Arbeit mit dem menschlichen Geist. Meinen Sie, dass dies wünschenswert ist und funktionieren kann?
Émilio Serrano
Man kann die religiöse Erziehung, die wir in unserer Kindheit genossen haben, mit einem Computerprogramm vergleichen. Es ist ein sehr komplexes Programm, das auf dem Speicher sehr viel Platz beansprucht und dessen Wurzeln mit den Wurzeln anderer Programme verwoben sind. Plötzlich kommt über das Internet ein Virus in dieses System. Die gesamte Struktur beginnt sich zu verschlechtern. In der Psychologie würde man dies als Gehirnwäsche bezeichnen. Manchmal gelingt es einem noch, die Festplatte aufzuräumen. Im anderen Fall ist es sinnvoller, neue Programme zu kaufen und sie im Computer zu installieren. Genauso funktioniert unser Gehirn! Diese Beschreibung ist nicht nur eine Parabel oder eine Metapher. Wenn man kein neues Programm lädt, kann das alte Programm, das von dem Computervirus befallen ist, uns für den Rest unseres Lebens stören. Lebt man weiter in seinem eigenen Land, dann kann man das ursprüngliche Programm nicht unterdrücken. In unserer Kultur kann man das „religiöse Programm“ nicht benutzen und es gleichzeitig für eine bestimmte Zeit einfach durch das Programm gesellschaftlicher Ambitionen, ein Wissenschaftsprogramm oder ein Shopping-Programm ersetzen. Irgendwann befriedigt das neue Programm allein einen, aber auch nicht mehr. Etwas fehlt und man sehnt sich danach.
T.K.V. Desikachar
Imogen, spielt die Spiritualität bei Ihrer Arbeit als Yogalehrerin eine Rolle?
Imogen Dalmann
Bei der Mehrheit der Leute, die zum Yoga kommen, steht diese spirituelle Suche nicht im Vordergrund. Und um ehrlich zu sein: Ich bin darüber auch gar nicht unglücklich. Wenn mich jemand aufsucht und aus einem bestimmten Grund Yoga üben will, wegen eines gesundheitlichen Problems oder auch einfach nur wegen eines Gefühls von Unzufriedenheit, dann bemerke ich oft Folgendes. Das, was Sie in Ihrem Vortrag „Die Reinigung des Gefäßes“ genannt haben, führt immer wieder zu folgendem Phänomen: Der betreffende Mensch beginnt sich zu fragen, ob sein Prozess für ihn nicht noch weitergehen könnte. Sie haben gesagt, dass die Spiritualität dann beginnt, wenn man sich nicht mehr im Außen verliert. Nun führt Yoga-Praxis oft dazu, dass wir uns weniger verloren fühlen. So finde ich es nur natürlich, wenn sich in der Folge ein zusätzliches oder gar ein neues Bedürfnis einstellt. Manche Menschen sind zehn Jahre lang mit einem wöchentlichen Yogakurs vollkommen zufrieden, ohne jemals das Bedürfnis nach Verinnerlichung zu spüren. Andere wiederum treffen, trotz einer sehr regelmäßigen Praxis, auf viele Hindernisse bei der Reinigung des Gefäßes, sodass sie oft ganz und gar mit dem Yoga aufhören, noch bevor sie die erste Etappe erreicht haben. Wir treffen aber auch auf Leute, die uns zunächst aus einem banal erscheinenden Grund konsultieren, um später ein großes Interesse an einer tieferen Erforschung ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Als Yogalehrer und Yogalehrerinnen stellt uns dies vor verschiedene Probleme: Wir benötigen viel Geduld, Aufmerksamkeit und auch Kreativität, um jemandem zu helfen, die ersten Schritte auf diesem Weg zu unternehmen. Bestimmte Aspekte der indischen Kultur sind häufig keine wirkliche Hilfe. Der Yoga dagegen ist oft ungemein nützlich, weil er vorschlägt, sich Schritt für Schritt voranzuarbeiten. Wichtig dabei ist aber, dass es uns gelingt, dem Ganzen einen westlichen Inhalt zu geben. Dieser Weg ist lang und mühsam; aber die Erfahrung sagt mir: Wenn er voranschreitet und wir die Geduld haben zu warten, findet sich immer ein Mittel, einem Menschen den Weg zu seinem Inneren zu öffnen, wenn er es denn möchte.
T.K.V. Desikachar
Sie sprachen gerade davon, dass indische Ideen nicht immer passend sind. Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Imogen Dalmann
Ich denke zum Beispiel an die tiefe Verwurzelung im Glauben an Gott, wie wir sie in Indien finden. Wie Emilio vorhin erläutert hat, können wir uns im Westen nicht in dem gleichen Maße auf diesen Glauben stützen. Mit dem indischen Glaubensmodell an einen allumfassenden Gott zum Beispiel erreichen wir sehr häufig nicht den westlichen Menschen, an den wir uns wenden. Im Westen nimmt das humanistische Modell für viele Menschen oft einen weit größeren Platz ein als die christliche Religion. Ein anderes Beispiel: Die indische Gesellschaft wird getragen vom Gedanken des dharma. Dharma bezeichnet neben anderem die Aufgaben und Verantwortung eines Menschen in der Gesellschaft. Es wird als angeboren verstanden und kann dementsprechend nicht infrage gestellt werden. Kaum jemand im Westen könnte einer solchen Idee folgen.