Spiritualität und Yoga Teil 2

Als Fortsetzung und Ergänzung zum Thema Spiritualität und Yoga wird an dieser Stelle eine Diskussion zwischen T.K.V. Desikachar, dem spanischen Psychiater Émilio Serrano und der Ärztin und Yogalehrerin Imogen Dalmann aus Deutschland wiedergegeben. (Übersetzt von Andrea Tocki)

Die Diskussion fand 1999 anlässlich des Symposiums „Yoga für das 2. Jahrtausend“ in Narbonne, Frankreich, statt.

Spiritualität und Yoga Teil 2

Als Fortsetzung und Ergänzung zum Thema Spiritualität und Yoga wird an dieser Stelle eine Diskussion zwischen T.K.V. Desikachar, dem spanischen Psychiater Émilio Serrano und der Ärztin und Yogalehrerin Imogen Dalmann aus Deutschland wiedergegeben. (Übersetzt von Andrea Tocki)

Die Diskussion fand 1999 anlässlich des Symposiums „Yoga für das 2. Jahrtausend“ in Narbonne, Frankreich, statt.

Spiritualität und Yoga Teil 2

Als Fortsetzung und Ergänzung zum Thema Spiritualität und Yoga wird an dieser Stelle eine Diskussion zwischen T.K.V. Desikachar, dem spanischen Psychiater Émilio Serrano und der Ärztin und Yogalehrerin Imogen Dalmann aus Deutschland wiedergegeben. (Übersetzt von Andrea Tocki)

Die Diskussion fand 1999 anlässlich des Symposiums „Yoga für das 2. Jahrtausend“ in Narbonne, Frankreich, statt.

Ein Einstieg

T.K.V. Desikachar
Emilio, Sie arbeiten als Psychiater und sind gleichzeitig ein Kenner des Yoga. Machen Sie eigentlich einen Unterschied zwischen der Spiritualität, wie Sie sie in Indien erlebt haben, und der, die in den westlichen Ländern existiert?

Émilio Serrano
Für mich ist die Spiritualität mehr eine innere Haltung als Religiosität oder ein philosophischer Gedanke. In diesem Sinne habe ich mehr Spiritualität in Indien erlebt als hier und eine andere Art, im Alltag wirklich zu sein, zu leben. Hierzulande spricht man sehr viel von Spiritualität, aber man würde nie lächeln, wenn man mitten im Stau steht, so wie ich ihr in Madras begegnet bin. Freundlichkeit, Verständnis, die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, wie ich sie in Indien erlebt habe, sind für mich ein wichtiger Teil der Spiritualität, auch wenn sie sehr weit vom Yoga, von den Tempeln und von den Philosophien entfernt ist.

T.K.V. Desikachar
Menschen kommen zum Yoga aus den unterschiedlichsten Gründen: Entspannung, das Bedürfnis, den Körper zu bewegen usw … Hinter diesen Erklärungen meine ich, mehr oder weniger versteckt, ein anderes Bedürfnis zu erkennen. Im Laufe der Zeit fragen viele nach einer spirituellen Praxis. Manche kommen so zu ihren Wurzeln zurück, die sie abgeschnitten hatten. Das Vorgehen im Yoga, das mit einer Praxis von Körperübungen beginnt und allmählich zu einer mehr spirituellen Praxis wird, ist es der Spiritualität oder mehr der Psychologie zuzurechnen?

Émilio Serrano
Zurzeit haben wir uns in Europa vom Glauben gelöst, wie er uns von unseren Eltern vermittelt wurde. Ich denke, dass viele Leute sich damit abgefunden haben, Atheisten zu sein. Trotzdem möchten sie aber an etwas glauben. Auf den Teil der Frage, die den Yoga betrifft, kann ich nicht antworten. Das ist nicht mein Metier. Ich kenne jedoch Yogalehrer, die mir erzählen, dass viele Leute in ihrer Yoga-Praxis mehr suchen, als nur körperliches Wohlergehen, sie möchten sich mehr auch der inneren Suche zuwenden. Was den Bereich der Psychologie betrifft, so habe ich bereits in den Sechzigerjahren den Wunsch nach Spiritualität auftauchen sehen. Das war die Zeit von LSD, von Halluzinogenen, die Zeit der Hippies. Nicht wenige Psychotherapeuten haben die Krawatte gegen ein langes Gewand eingetauscht und sind Gurus geworden. So kam es, dass zwanzig Jahre lang die Psychotherapie mit der „Psycho-Religions-Therapie“ vermischt war. Im Grunde war dies eine lockere Zeit für uns Therapeuten. Ich fand es sehr viel angenehmer, statt mich mit Depressiven, Selbstmord-Gefährdeten oder Drogenabhängigen herumzuschlagen, mit intelligenten, kreativen Leuten zu arbeiten, denen es gut ging, die tanzten, dichteten oder komponierten. Wir hatten damals alle versucht, mehr Guru zu sein als Psychotherapeut. Aber Sie kennen die Wahl, die ich für meine Person getroffen habe.

T.K.V. Desikachar
In Indien ist es gewissermaßen obligatorisch, bei seinen Wurzeln zu bleiben, auch wenn man von einer anderen Tradition stärker angezogen wird und den Eindruck hat, in ihr erfolgreicher zu sein. Hierzulande lösen sich die Leute ohne großes Zögern aus ihrer Tradition heraus, sei es die katholische, die jüdische oder eine andere. Aber sie bleiben auf der Suche nach etwas anderem. Je mehr sie sich mit anderen spirituellen Herangehensweisen wohlfühlen, desto stärker möchten sie ihre Wurzeln austauschen. Sie haben sehr viel Erfahrung in der Arbeit mit dem menschlichen Geist. Meinen Sie, dass dies wünschenswert ist und funktionieren kann?

Émilio Serrano
Man kann die religiöse Erziehung, die wir in unserer Kindheit genossen haben, mit einem Computerprogramm vergleichen. Es ist ein sehr komplexes Programm, das auf dem Speicher sehr viel Platz beansprucht und dessen Wurzeln mit den Wurzeln anderer Programme verwoben sind. Plötzlich kommt über das Internet ein Virus in dieses System. Die gesamte Struktur beginnt sich zu verschlechtern. In der Psychologie würde man dies als Gehirnwäsche bezeichnen. Manchmal gelingt es einem noch, die Festplatte aufzuräumen. Im anderen Fall ist es sinnvoller, neue Programme zu kaufen und sie im Computer zu installieren. Genauso funktioniert unser Gehirn! Diese Beschreibung ist nicht nur eine Parabel oder eine Metapher. Wenn man kein neues Programm lädt, kann das alte Programm, das von dem Computervirus befallen ist, uns für den Rest unseres Lebens stören. Lebt man weiter in seinem eigenen Land, dann kann man das ursprüngliche Programm nicht unterdrücken. In unserer Kultur kann man das „religiöse Programm“ nicht benutzen und es gleichzeitig für eine bestimmte Zeit einfach durch das Programm gesellschaftlicher Ambitionen, ein Wissenschaftsprogramm oder ein Shopping-Programm ersetzen. Irgendwann befriedigt das neue Programm allein einen, aber auch nicht mehr. Etwas fehlt und man sehnt sich danach.

T.K.V. Desikachar
Imogen, spielt die Spiritualität bei Ihrer Arbeit als Yogalehrerin eine Rolle?

Imogen Dalmann
Bei der Mehrheit der Leute, die zum Yoga kommen, steht diese spirituelle Suche nicht im Vordergrund. Und um ehrlich zu sein: Ich bin darüber auch gar nicht unglücklich. Wenn mich jemand aufsucht und aus einem bestimmten Grund Yoga üben will, wegen eines gesundheitlichen Problems oder auch einfach nur wegen eines Gefühls von Unzufriedenheit, dann bemerke ich oft Folgendes. Das, was Sie in Ihrem Vortrag „Die Reinigung des Gefäßes“ genannt haben, führt immer wieder zu folgendem Phänomen: Der betreffende Mensch beginnt sich zu fragen, ob sein Prozess für ihn nicht noch weitergehen könnte. Sie haben gesagt, dass die Spiritualität dann beginnt, wenn man sich nicht mehr im Außen verliert. Nun führt Yoga-Praxis oft dazu, dass wir uns weniger verloren fühlen. So finde ich es nur natürlich, wenn sich in der Folge ein zusätzliches oder gar ein neues Bedürfnis einstellt. Manche Menschen sind zehn Jahre lang mit einem wöchentlichen Yogakurs vollkommen zufrieden, ohne jemals das Bedürfnis nach Verinnerlichung zu spüren. Andere wiederum treffen, trotz einer sehr regelmäßigen Praxis, auf viele Hindernisse bei der Reinigung des Gefäßes, sodass sie oft ganz und gar mit dem Yoga aufhören, noch bevor sie die erste Etappe erreicht haben. Wir treffen aber auch auf Leute, die uns zunächst aus einem banal erscheinenden Grund konsultieren, um später ein großes Interesse an einer tieferen Erforschung ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Als Yogalehrer und Yogalehrerinnen stellt uns dies vor verschiedene Probleme: Wir benötigen viel Geduld, Aufmerksamkeit und auch Kreativität, um jemandem zu helfen, die ersten Schritte auf diesem Weg zu unternehmen. Bestimmte Aspekte der indischen Kultur sind häufig keine wirkliche Hilfe. Der Yoga dagegen ist oft ungemein nützlich, weil er vorschlägt, sich Schritt für Schritt voranzuarbeiten. Wichtig dabei ist aber, dass es uns gelingt, dem Ganzen einen westlichen Inhalt zu geben. Dieser Weg ist lang und mühsam; aber die Erfahrung sagt mir: Wenn er voranschreitet und wir die Geduld haben zu warten, findet sich immer ein Mittel, einem Menschen den Weg zu seinem Inneren zu öffnen, wenn er es denn möchte.

T.K.V. Desikachar
Sie sprachen gerade davon, dass indische Ideen nicht immer passend sind. Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Imogen Dalmann
Ich denke zum Beispiel an die tiefe Verwurzelung im Glauben an Gott, wie wir sie in Indien finden. Wie Emilio vorhin erläutert hat, können wir uns im Westen nicht in dem gleichen Maße auf diesen Glauben stützen. Mit dem indischen Glaubensmodell an einen allumfassenden Gott zum Beispiel erreichen wir sehr häufig nicht den westlichen Menschen, an den wir uns wenden. Im Westen nimmt das humanistische Modell für viele Menschen oft einen weit größeren Platz ein als die christliche Religion. Ein anderes Beispiel: Die indische Gesellschaft wird getragen vom Gedanken des dharma. Dharma bezeichnet neben anderem die Aufgaben und Verantwortung eines Menschen in der Gesellschaft. Es wird als angeboren verstanden und kann dementsprechend nicht infrage gestellt werden. Kaum jemand im Westen könnte einer solchen Idee folgen.

Die Meditation im Yoga

T.K.V. Desikachar
Wir alle wissen, dass sich der Yoga nicht in den Körperhaltungen, den Āsanas erschöpft. Sie repräsentieren nicht die Essenz des Yoga, sondern sind nur Bestandteil eines gesamten Systems. Ich treffe oft auf zwei ganz gegensätzliche Meinungen:

  • Der Körperyoga ist gut, der ganze Rest jedoch nicht.
  • Wenn man sich nur für den Körper interessiert, verrät man den Yoga.

Wir sprechen hier nicht über die Anwendung des Yoga für Menschen mit gesundheitlichen Problemen, sondern über Yoga als ein Mittel der persönlichen Weiterentwicklung. Das westliche Wort, das sich in diesem Zusammenhang am meisten dem Yoga annähert, ist Meditation. In Indien ist es sehr einfach: Wenn der Schüler bereit ist, lehrt man ihn Meditation. Das heißt, man gibt ihm einen Gegenstand oder auch einen Satz, der für ihn einen Wert hat, zu seiner Persönlichkeit passt und für ihn akzeptabel ist. Auf diesen Meditationsgegenstand soll er seine Aufmerksamkeit heften und mit ihm in Beziehung treten. Wenn der Schüler ernsthaft ist und das Meditationsobjekt gut gewählt wurde, wird der Schüler eine Erfahrung machen, die ihn verändern wird. Dabei möchte ich aber noch auf etwas hinweisen: Meditations-Techniken zu unterrichten, ist eine Sache. Eine andere ist es, jemanden in Meditation zu unterrichten. Es gibt viele Techniken und man kann sie ohne Vorbedingungen erwerben. Ich benutze das Wort „erwerben“ absichtlich! Aber meiner Erfahrung nach kann man das Unterrichten immer vergleichen mit einem Würfelspiel: Der Lehrer oder die Lehrerin denkt nach und bereitet etwas vor, was sie dem Schüler vorschlägt. Aber die Situation ist immer offen: Entweder es klappt oder es klappt nicht. Es hält vor oder eben nicht. Manche Leute praktizieren Meditation, aber mechanisch, und es kommt dabei nichts raus. Auf jeden Fall sehe ich drei Möglichkeiten; die beiden ersten sind einfach, die Dritte ist schwierig:

  • ich erwerbe Meditationstechniken
  • ich „mache“ meine Meditation
  • ich meditiere

Imogen, Sie praktizieren Yoga seit Langem und bilden in Berlin Yogalehrerinnen und Yogalehrer aus. Wie verstehen Sie Meditation? Und: Lässt sich Meditation in Ihre Ausbildung von Yogalehrern einbeziehen?

Imogen Dalmann
Ich bin davon überzeugt, dass Meditation in den Prozess der Yogalehrerausbildung einbezogen werden sollte. Warum: Es ist nicht immer so, dass Menschen Yogalehrer aufsuchen, mit dem klaren Ziel: Ich möchte meditieren lernen. In aller Regel erwacht der Wunsch danach, wenn sich der Geist ein wenig geklärt und wenn die entsprechende Person gute Erfahrungen mit dem Üben gemacht hat. Warum sollte der Yoga also nicht auch helfen können auf der Suche nach Frieden mit sich und der Welt? Im Unterrichten von Āsana und Prāṇāyāma versierte Yogalehrerinnen und –lehrer, können nicht ausschließen, dass ihre Schüler und Schülerinnen sie mit dem Wunsch nach Meditationsunterricht konfrontieren. Dann sollten sie wissen, was der Yoga darunter versteht und entscheiden können, ob sie unterrichten wollen und wie.

Eine Suche

Imogen Dalmann
Nicht selten bringt es die Auseinandersetzung mit Meditation im Ausbildungslehrgang mit sich, dass die eine oder der andere sich an diesen Schritt des Yoga-Übens heranwagt.
Ich möchte gerne am Beispiel einer schon etwas älteren Frau verdeutlichen, wie ich das meine und was mir dabei wichtig scheint. Sieben Jahre Teilnahme an einem Yogakurs in ihrem Dorf haben ihr Mut und Lust auf das eigene Weitergeben von Yoga gemacht. So kam sie zu uns in die Ausbildung. Während der Ausbildungszeit praktizierte sie regelmäßig Āsana und Prāṇāyāma und begann, andere Frauen ihres Dorfes zu unterrichten. Im Rahmen der Yogalehrerausbildung kam auch das zur Sprache, was über Körper- und Atemübungen des Yoga hinausgeht. Dieses Thema interessierte sie und weckte in ihr die Hoffnung auf eine Verbesserung bestimmter Störungen und Unzulänglichkeiten, unter denen sie litt. Sie sehnte sich nach mehr innerer Ruhe und Frieden. So wollte sie meditieren lernen.
Auf der Suche nach einem geeigneten Meditationsgegenstand, die einige Monate dauerte, wählte sie immer wieder Objekte aus der Natur. Bis sie eines Sommers begann, sich auf die Blume zu konzentrieren, die sie in ihrem Garten am meisten mochte. Nach einigen Monaten war sie in der Lage, ihre Lieblingsblume in allen Einzelheiten zu beschreiben. Während des Winters setzte sie die Konzentrationsübung mit einer Fotografie fort. In dieser Art und Weise verfuhr sie während mehrerer Jahre. Stück für Stück entdeckte sie sehr subtile Aspekte ihrer Blume, ihr Verständnis von der Blume ging weit über das hinaus, was sie sah. Vergangene Woche erzählte sie mir, dass sie manchmal die Kraft spüren könnte, die der Blume innewohnt, fast als ob sie sich mit dieser Kraft identifizierte und sie dies sehr glück­lich und zufrieden mache.
Diese Geschichte ist für mich fast wie ein Modell: Wir müssen erkennen, woran die Menschen ein Interesse haben und ihnen helfen, dabei zu bleiben, mehr nicht. In diesem Modell bedarf es keiner Erwähnung einer „Höheren Macht“.
Bei unserem letzten Zusammentreffen sagte mir die Frau, von der ich spreche, etwas Interessantes: Ich frage mich, ob es noch etwas gibt, was über diese Kraft hinausgeht, die ich spüre. Aber diese Frage ängstigt mich, weil alles, was man mir von Gott und höherer Kraft erzählt hat, für mich immer nur bedrohlich gewesen ist. In meinem Verständnis straft Gott und hat immer ein kontrollierendes Auge auf die Menschen. Meinem Eindruck nach ist diese Frau sehr stark mit einer ihr inne wohnenden Kraft verbunden. Aber das alte Programm, um mit Emilios Worten zu sprechen, ist immer noch da, droht ihre Erfahrungen zu trüben und kann sie auf ihrem Weg behindern, wenn es sich in ihrem Kopf mit ihrer neuen Erfahrung verbindet. Die Vorstellungen, die in unserer Religion und in unserer Kultur von Gott, von höheren Mächten und ihrer Präsenz in uns existieren, sind manchmal überhaupt keine Hilfe. Schlimmer noch, sie können zuweilen sogar störend und hinderlich sein, wenn eine Person sich ernsthaft mit ihrem inneren Selbst beschäftigen möchte.

Einfach nur zuhören

Émilio Serrano
Ich glaube, im Yoga Sūtra steht, dass die Wirklichkeit unabhängig von dem Zeugen, der sie beobachtet, existiert. Die Spiritualität, ist sie ein Glaubenssystem, eine Lebenseinstellung, eine Art zu handeln oder zu sein? In jedem Fall wäre es unmöglich, zu behaupten, dass sie unabhängig von menschlichen Wesen existiert, dass sie ein losgelöstes Etwas sei.

T.K.V. Desikachar
Ich stimme allem zu, was Sie gerade gesagt haben. Es gibt die sehr interessante Geschichte eines Mannes, der Yoga übte, um ruhiger zu werden. Aber je mehr er übte, umso unruhiger wurde er. Wenn er von seiner Praxis nach Hause kam, schlug er jeden Tag die Tür ein wenig heftiger ins Schloss. Anfänglich machten seine Familienmitglieder ihn darauf aufmerksam, dass er eigentlich seine Praxis übe, um ruhiger zu werden, nun aber wie ein Tornado durchs Haus fege. Schließlich gewöhnte sich seine Familie daran, und der Mann fuhr fort, zu üben. Eines Abends war seine Frau in Sorge, weil sie den gewohnten Türknall nicht gehört hatte. Sie ging nachsehen und fand ihren Mann draußen vor der Tür. Er sagte ihr ganz ruhig: Ich habe geklopft, aber Ihr habt mich nicht gehört. Er war ein anderer Mann geworden. Was sich in uns abspielt, kann sich in einem Tornado ausdrücken und uns die Türen knallen lassen. Es kann sich aber auch in einem kleinen, zurückhaltenden Klopfen ausdrücken. Es ist letztlich immer unser Verhalten, das sich ändert. Wir sind Menschen und als solche spirituell oder eben nicht.

Religion, Aberglaube und Spiritualität

Frage aus dem Publikum
Wel­chen Unterschied machen Sie zwischen Spiritualität, Religion und Aberglauben?

T.K.V. Desikachar
Auf dem Gebiet des Aberglaubens sind die Inder Experten. Allem Möglichen schenken wir blind unser Vertrauen und verlieren dabei keinen Gedanken an die Weiterentwicklung der Wissenschaft oder die Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wir wiederholen bestimmte Verhaltensweisen oder Gewohnheiten auch dann noch, wenn sie überhaupt keinen Sinn mehr ergeben: Wir streichen ein neues Haus in den teuersten Farben an. Aber wir können es nicht beziehen, bevor nicht ein Priester gekommen ist, um Mist auf dem Dach auszuschütten. Warum?
Jemand könnte ein Auge auf das Haus werfen, weil es so neu und so schön ist und es verhext. Wenn es nun beschmutzt ist, hätten die Leute nur Augen für den Dreck. Kein Neid würde provoziert werden und niemand würde einen Zauber über das Haus aussprechen.
Etwas ähnlich Lächerliches: Niemand betritt ein Haus, wenn nicht über Jahre hinaus ein riesiger Kürbis am Eingang gestanden hat, der in Form einer merkwürdigen Fratze geschnitzt worden ist. Es gibt bei uns viele solche Praktiken, die auf einen Aberglauben zurückzuführen sind. Aber ich habe auch anderswo Erfahrungen mit solcher Art von Aberglauben gemacht: In den Ländern, in denen man mit Messer und Gabel isst, erkundige ich mich stets, wie ich das Besteck hinlegen soll, nachdem ich die Mahlzeit beendet habe. In Frankreich antwortet man mir: „Auf diese Art und Weise“, in England „Auf jene Art und Weise“ und in den USA „Egal wie“! Es liegt keine Logik darin und ich hüte mich, nach einem Grund für solch ein Verhalten zu fragen. Vielleicht hat es in der Vergangenheit einmal einen Grund dafür gegeben, es auf die eine oder andere Weise zu machen. Vielleicht ist es eine Art, etwas Bestimmtes auszudrücken? Aber das ging verloren und wir begnügen uns damit, weiter so zu tun, wie man es uns geheißen hat.
Kommen wir nun zur Religion, die dem Konzept der Spiritualität nah verbunden ist. Das Wort Religion bedeutet vereinigen, zu sich selbst zurückfinden. Jetzt beginnt die Spiritualität auch da, wo man anfängt, den Blick nach innen zu wenden. Das Wort Religion ist belastet. Wir denken sofort an den Buddhismus, das Christentum, den Islam und an deren jeweilige Dogmen und Praktiken.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sind Religion und Spiritualität sehr unterschiedlich. Man kann einer Religion angehören, ohne wirklich eine innere religiöse oder spirituelle Haltung zu haben. Wenn ich zum Beispiel Hindu bin, macht allein das schon im allgemeinen Verständnis einen religiösen Mann aus mir. Niemand verlangt von mir, dass ich mich auf den Weg nach innen mache. Jemand kann einer Religion anhängen, ohne die mindeste spirituelle Einstellung. Aber man kann auch spirituell sein, ohne einer Religion anzugehören. Viele Mitglieder meiner Familie unterstellen mir, keine religiösen Gefühle zu haben, weil ich nicht das tue, was sie im Namen unserer Religion praktizieren. Sie sind übrigens dabei auch nicht glücklicher, als ich es bin.
Die existierenden Religionen sind in aller Regel wie ein Kleidungsstück, das wir von unseren Vorfahren geerbt oder selbst ausgewählt haben. Egal, ob es uns befriedigt oder nicht, wir haben eine starke Verbindung dazu. In Indien klebt uns dieses Kleidungsstück dermaßen an der Haut, dass wir uns nicht vorstellen können, ohne es zu leben. Hingegen kann man hier dieses Kleidungsstück leichter ablegen: Oft höre ich: Ich wurde getauft, aber ich praktiziere das Christentum nicht mehr.
Das Licht in uns, von dem ich sprach, Gott, Bewusstsein oder etwas anderes, existiert unabhängig von diesem Kleidungsstück. Wir können das Licht nicht verändern, aber es kann uns unterschiedlich erscheinen, je nachdem welches Kleidungsstück wir tragen.
In Indien existiert das Wort Religion nicht. Wir benutzen den Ausdruck darśana – Spiegel. Ein Spiegel ist das Werkzeug, das uns erlaubt, uns zu sehen. In den Upaniṣaden, die ausschließlich traditionelle religiöse Texte sind, spricht man vom Höchsten immer im Zusammenhang mit Licht.

Jenseits der Worte

Émilio Serrano
Ich übe meinen Beruf als Psychotherapeut jetzt schon fast vierzig Jahre aus, aber ich habe noch niemals erlebt, dass ein Patient zu mir gekommen ist und mir seine Seele auf den Schreibtisch gelegt hat. Ich treffe auf Menschen, die vom Teufel besessen sind. Andere haben Stigmatisierungen, etwa Brandmale an den Händen. Viele sprechen regelmäßig mit Gott oder mit den unterschiedlichsten Heiligen. Aber ich bin niemals auf einen real greifbaren, objektiven wissenschaftlichen Beweis gestoßen dafür, dass Spiritualität existiert. Im Prinzip kann ich alles durch kognitive, biologische, genetische oder sogar historische Prozesse erklären.
Wenn ich mir einen Gott als Schöpfer all des Wirrwarrs vorstelle, das ich um mich herum sehe, dann möchte ich ihm am liebsten die Adresse eines Kollegen geben, da er offenbar nichts verstanden hat. Wenn ich andererseits bei meiner Arbeit den Rahmen der rein biologischen Prozesse nicht verlasse, unterscheide ich mich nicht mehr von einem Automechaniker: Ich repariere Denkmaschinen, ich sorge dafür, dass sie funktionieren und meine, dass damit alles erledigt ist. In bestimmten Momenten gelingt es mir, mit dem rein rationalen und mechanischen Denken aufzuhören. Dann fange ich an, meine andere Gehirnhälfte zu benutzen. Und ich beginne zu verstehen, dass das, was jeden Tag geschieht, etwas Besonderes sein kann, auch wenn mir dabei keine Logik auffällt. In einem solchen Augenblick kann ich mich entscheiden zu glauben, dass der Mensch etwas mehr ist als eine biologische Maschine. Diese Entscheidung lässt mich Aspekte des Menschen entdecken, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Dies wiederum hat eine Rückwirkung auf meine Arbeit: Die Patienten spüren, dass ich in ihnen mehr sehe als eine einfache Maschine.
Und von diesem Moment an wird der spirituelle Aspekt klarer durchscheinen. Wenn man anfängt, eine bestimmte spirituelle, nicht religiöse Dimension in sein Leben zu bringen, wird dies in jedem Augenblick unserer Existenz zum Vorschein kommen. Ich weiß nicht, ob es Grenzen für dieses Phänomen gibt. Ich denke auch nicht, dass ich meine Arbeit machen könnte, ohne zu glauben oder daran glauben zu wollen, dass wir mehr sind als Denkmaschinen. Ich höre ganz bewusst hier auf und so kann ich darüber auch nicht mehr erzählen. Es gibt viele Worte, um zu erklären, was die Seele, der Geist, das Selbst sind. Aber ich meine, dass Worte, die kognitiven Benennungen, die Magie des Ganzen verschwinden lassen. Worte bringen uns leicht wieder in eine unscharfe Dimension, die nicht die der Spiritualität ist. Genauso wie sich die Quantenphysik auf einem anderen Niveau bewegt als die Newtonsche Physik, existiert die Spiritualität auf einem Niveau, das weder rational noch kognitiv ist.

T.K.V. Desikachar
Eine Passage in den Upaniṣaden sagt genau dasselbe: yato vaco nivartante – die Worte sind machtlos; und weiter aprapya manasa saha – sogar der Geist kann dies nicht erfassen.

Wir in Indien haben einen außergewöhnlichen Glauben, ein außergewöhnliches Vertrauen. Was Spiritualität betrifft, so zitieren wir die alten Texte, ohne sie infrage zu stellen. Wir akzeptieren sie so, wie sie sind, und wir glauben, dass sie die Wahrheit sagen. Aber hier im Westen funktioniert euer Geist anders, er stellt Dinge infrage. Emilio, der Wissenschaftler, hat uns gerade gesagt, dass es einen Bereich jenseits der Worte gibt. Was tun Sie, Imogen, wenn man Ihnen die Frage stellt, die wir gerade zu beantworten suchen?

Imogen Dalmann
Zunächst ist es mir wichtig, zu klären, woher eine solche Frage rührt. Solche Art von Fragen entspringt oft nur den intellektuellen Schichten des Geistes. Sie wird dann nicht aus einem echten Bedürfnis heraus gestellt, kommt nicht aus dem Herzen. Im Dialog versuche ich zu verstehen, ob es sich hier um eine rein intellektuelle Analyse im Sinne eines Denkspiels handelt oder ob ich mir einer persönlichen Fragestellung gegenübersehe, die mein Gegenüber nicht anders ausdrücken konnte. Dann sehe ich zu, dass die Person „ihr Gefäß reinigt“, wie Sie es nennen. Dazu schlage ich gelegentlich ein Prāṇāyāma vor, mit anschließender Reflexion über diese Frage oder eine andere besondere Aufgabe.
Ich denke gerade an eine bestimmte Person, die mir gesagt hatte, sie wolle sich enger mit Gott verbinden. Wir haben versucht, herauszufinden, was sie mit Gott assoziiert. „Eine sehr schöne Kraft, mit der ich mich jeden Tag nach meiner Praxis zu verbinden suche.“ Aber mit diesem Bild stößt sie in ihrer Meditation auf Zweifel und Schwierigkeiten, in dem Moment, in dem sie an all das Hässliche denkt, das sie umgibt.
Ich sehe meine Rolle darin, der Person zu helfen, etwas Wichtiges zu erkennen: Ob die auftauchenden Zweifel ein Ausweichmanöver sind oder im Gegenteil ein Schritt in die von ihr gewünschte Richtung. Das verstehe ich unter „das Gefäß reinigen“. Ist der Prozess dann einmal in Gang gekommen, so ist es gar nicht schwierig, bei der echten Fragestellung zu bleiben. Wie Emilio schon sagte, muss man nicht unbedingt viele Worte über das Thema Spiritualität verlieren, sie verstricken einen zu sehr in die intellektuelle Ebene.
Wenn man Meditation unterrichtet, erzählen einem die Schüler oft von ihren Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind äußerst unterschiedlich und für die Schüler von nachhaltigem Eindruck. Ich halte es für schwierig, eine Auslese unter diesen Erfahrungen zu treffen. Einerseits trifft man auf simple Täuschungen oder sehr körperliche Erfahrungen, Lichterscheinungen usw., real oder auch nicht, die auf mystische Art vom Schüler interpretiert werden. Andererseits lassen sich tiefer gehende, realere Erfahrungen beobachten, die aus „einer Reinigung des Gefäßes“ resultieren, wie Sie das vorhin genannt haben. Können Sie uns helfen, hier ein wenig klarer zu sehen?

T.K.V. Desikachar
Sie haben die Antwort gestern selbst formuliert. Sie sagten: Wenn jemand mir gegenübersitzt, versuche ich zu verstehen und nicht zu beurteilen.
Was der Schüler erzählt, ist für ihn Realität. Er glaubt daran, dass es in dieser Weise wirklich geschieht. Emilio erzählte gestern von einer Patientin, die erzählte, dass sie sich täglich um einen Tiger kümmern müsste. Vielleicht war es nur ein Kaninchen, aber für sie war es wirklich ein Tiger. Wir müssen zuhören und der Person auch das Gefühl geben, dass wir dies tun. Die Tiger-Frau empfindet sich vielleicht ohnehin schon als etwas lächerlich, indem sie ungewöhnliche Dinge wahrnimmt und darüber spricht. Sie kann über diese Wahrnehmungen nicht mit jedem reden. Aber sie hofft, dass wir ihr zuhören und sie verstehen können. Wir müssen sie in dieser Situation respektieren, ihr wirklich zuhören und wenn wir dazu in der Lage sind, das auch deutlich machen: Ja, ich verstehe Sie. Vielleicht kennen Sie diese Geschichte aus dem Zen.

Ein junges Mädchen wohnte in der Nachbarschaft eines Zen-Meisters. Sie war in einen Bauern verliebt und wurde von ihm schwanger. Da sie es nicht wagte, ihren Eltern die Wahrheit zu sagen, behauptete sie, dass der Zen-Meister der Vater ihres Kindes sei. Als das Baby geboren war, brachten die Eltern es zum Meister. Hier ist Ihr Kind, sagten sie ihm. Wirklich? antwortete er und behielt das Baby und sorgte für es. Die junge Mutter war sehr unglücklich, weil sie sich nicht um ihr Kind kümmern konnte. Nach einer sechsmonatigen Leidenszeit gestand sie ihren Eltern, dass der Bauer der wirkliche Vater war. Die Eltern waren sehr verärgert und kehrten zum Zen-Meister zurück. Es tut uns schrecklich leid. Es war alles nur ein Irrtum. Sie sind nicht der Vater. Wirklich? antwortete er und gab Ihnen das Kind zurück. ▼

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Ein Einstieg

T.K.V. Desikachar
Emilio, Sie arbeiten als Psychiater und sind gleichzeitig ein Kenner des Yoga. Machen Sie eigentlich einen Unterschied zwischen der Spiritualität, wie Sie sie in Indien erlebt haben, und der, die in den westlichen Ländern existiert?

Émilio Serrano
Für mich ist die Spiritualität mehr eine innere Haltung als Religiosität oder ein philosophischer Gedanke. In diesem Sinne habe ich mehr Spiritualität in Indien erlebt als hier und eine andere Art, im Alltag wirklich zu sein, zu leben. Hierzulande spricht man sehr viel von Spiritualität, aber man würde nie lächeln, wenn man mitten im Stau steht, so wie ich ihr in Madras begegnet bin. Freundlichkeit, Verständnis, die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, wie ich sie in Indien erlebt habe, sind für mich ein wichtiger Teil der Spiritualität, auch wenn sie sehr weit vom Yoga, von den Tempeln und von den Philosophien entfernt ist.

T.K.V. Desikachar
Menschen kommen zum Yoga aus den unterschiedlichsten Gründen: Entspannung, das Bedürfnis, den Körper zu bewegen usw … Hinter diesen Erklärungen meine ich, mehr oder weniger versteckt, ein anderes Bedürfnis zu erkennen. Im Laufe der Zeit fragen viele nach einer spirituellen Praxis. Manche kommen so zu ihren Wurzeln zurück, die sie abgeschnitten hatten. Das Vorgehen im Yoga, das mit einer Praxis von Körperübungen beginnt und allmählich zu einer mehr spirituellen Praxis wird, ist es der Spiritualität oder mehr der Psychologie zuzurechnen?

Émilio Serrano
Zurzeit haben wir uns in Europa vom Glauben gelöst, wie er uns von unseren Eltern vermittelt wurde. Ich denke, dass viele Leute sich damit abgefunden haben, Atheisten zu sein. Trotzdem möchten sie aber an etwas glauben. Auf den Teil der Frage, die den Yoga betrifft, kann ich nicht antworten. Das ist nicht mein Metier. Ich kenne jedoch Yogalehrer, die mir erzählen, dass viele Leute in ihrer Yoga-Praxis mehr suchen, als nur körperliches Wohlergehen, sie möchten sich mehr auch der inneren Suche zuwenden. Was den Bereich der Psychologie betrifft, so habe ich bereits in den Sechzigerjahren den Wunsch nach Spiritualität auftauchen sehen. Das war die Zeit von LSD, von Halluzinogenen, die Zeit der Hippies. Nicht wenige Psychotherapeuten haben die Krawatte gegen ein langes Gewand eingetauscht und sind Gurus geworden. So kam es, dass zwanzig Jahre lang die Psychotherapie mit der „Psycho-Religions-Therapie“ vermischt war. Im Grunde war dies eine lockere Zeit für uns Therapeuten. Ich fand es sehr viel angenehmer, statt mich mit Depressiven, Selbstmord-Gefährdeten oder Drogenabhängigen herumzuschlagen, mit intelligenten, kreativen Leuten zu arbeiten, denen es gut ging, die tanzten, dichteten oder komponierten. Wir hatten damals alle versucht, mehr Guru zu sein als Psychotherapeut. Aber Sie kennen die Wahl, die ich für meine Person getroffen habe.

T.K.V. Desikachar
In Indien ist es gewissermaßen obligatorisch, bei seinen Wurzeln zu bleiben, auch wenn man von einer anderen Tradition stärker angezogen wird und den Eindruck hat, in ihr erfolgreicher zu sein. Hierzulande lösen sich die Leute ohne großes Zögern aus ihrer Tradition heraus, sei es die katholische, die jüdische oder eine andere. Aber sie bleiben auf der Suche nach etwas anderem. Je mehr sie sich mit anderen spirituellen Herangehensweisen wohlfühlen, desto stärker möchten sie ihre Wurzeln austauschen. Sie haben sehr viel Erfahrung in der Arbeit mit dem menschlichen Geist. Meinen Sie, dass dies wünschenswert ist und funktionieren kann?

Émilio Serrano
Man kann die religiöse Erziehung, die wir in unserer Kindheit genossen haben, mit einem Computerprogramm vergleichen. Es ist ein sehr komplexes Programm, das auf dem Speicher sehr viel Platz beansprucht und dessen Wurzeln mit den Wurzeln anderer Programme verwoben sind. Plötzlich kommt über das Internet ein Virus in dieses System. Die gesamte Struktur beginnt sich zu verschlechtern. In der Psychologie würde man dies als Gehirnwäsche bezeichnen. Manchmal gelingt es einem noch, die Festplatte aufzuräumen. Im anderen Fall ist es sinnvoller, neue Programme zu kaufen und sie im Computer zu installieren. Genauso funktioniert unser Gehirn! Diese Beschreibung ist nicht nur eine Parabel oder eine Metapher. Wenn man kein neues Programm lädt, kann das alte Programm, das von dem Computervirus befallen ist, uns für den Rest unseres Lebens stören. Lebt man weiter in seinem eigenen Land, dann kann man das ursprüngliche Programm nicht unterdrücken. In unserer Kultur kann man das „religiöse Programm“ nicht benutzen und es gleichzeitig für eine bestimmte Zeit einfach durch das Programm gesellschaftlicher Ambitionen, ein Wissenschaftsprogramm oder ein Shopping-Programm ersetzen. Irgendwann befriedigt das neue Programm allein einen, aber auch nicht mehr. Etwas fehlt und man sehnt sich danach.

T.K.V. Desikachar
Imogen, spielt die Spiritualität bei Ihrer Arbeit als Yogalehrerin eine Rolle?

Imogen Dalmann
Bei der Mehrheit der Leute, die zum Yoga kommen, steht diese spirituelle Suche nicht im Vordergrund. Und um ehrlich zu sein: Ich bin darüber auch gar nicht unglücklich. Wenn mich jemand aufsucht und aus einem bestimmten Grund Yoga üben will, wegen eines gesundheitlichen Problems oder auch einfach nur wegen eines Gefühls von Unzufriedenheit, dann bemerke ich oft Folgendes. Das, was Sie in Ihrem Vortrag „Die Reinigung des Gefäßes“ genannt haben, führt immer wieder zu folgendem Phänomen: Der betreffende Mensch beginnt sich zu fragen, ob sein Prozess für ihn nicht noch weitergehen könnte. Sie haben gesagt, dass die Spiritualität dann beginnt, wenn man sich nicht mehr im Außen verliert. Nun führt Yoga-Praxis oft dazu, dass wir uns weniger verloren fühlen. So finde ich es nur natürlich, wenn sich in der Folge ein zusätzliches oder gar ein neues Bedürfnis einstellt. Manche Menschen sind zehn Jahre lang mit einem wöchentlichen Yogakurs vollkommen zufrieden, ohne jemals das Bedürfnis nach Verinnerlichung zu spüren. Andere wiederum treffen, trotz einer sehr regelmäßigen Praxis, auf viele Hindernisse bei der Reinigung des Gefäßes, sodass sie oft ganz und gar mit dem Yoga aufhören, noch bevor sie die erste Etappe erreicht haben. Wir treffen aber auch auf Leute, die uns zunächst aus einem banal erscheinenden Grund konsultieren, um später ein großes Interesse an einer tieferen Erforschung ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Als Yogalehrer und Yogalehrerinnen stellt uns dies vor verschiedene Probleme: Wir benötigen viel Geduld, Aufmerksamkeit und auch Kreativität, um jemandem zu helfen, die ersten Schritte auf diesem Weg zu unternehmen. Bestimmte Aspekte der indischen Kultur sind häufig keine wirkliche Hilfe. Der Yoga dagegen ist oft ungemein nützlich, weil er vorschlägt, sich Schritt für Schritt voranzuarbeiten. Wichtig dabei ist aber, dass es uns gelingt, dem Ganzen einen westlichen Inhalt zu geben. Dieser Weg ist lang und mühsam; aber die Erfahrung sagt mir: Wenn er voranschreitet und wir die Geduld haben zu warten, findet sich immer ein Mittel, einem Menschen den Weg zu seinem Inneren zu öffnen, wenn er es denn möchte.

T.K.V. Desikachar
Sie sprachen gerade davon, dass indische Ideen nicht immer passend sind. Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Imogen Dalmann
Ich denke zum Beispiel an die tiefe Verwurzelung im Glauben an Gott, wie wir sie in Indien finden. Wie Emilio vorhin erläutert hat, können wir uns im Westen nicht in dem gleichen Maße auf diesen Glauben stützen. Mit dem indischen Glaubensmodell an einen allumfassenden Gott zum Beispiel erreichen wir sehr häufig nicht den westlichen Menschen, an den wir uns wenden. Im Westen nimmt das humanistische Modell für viele Menschen oft einen weit größeren Platz ein als die christliche Religion. Ein anderes Beispiel: Die indische Gesellschaft wird getragen vom Gedanken des dharma. Dharma bezeichnet neben anderem die Aufgaben und Verantwortung eines Menschen in der Gesellschaft. Es wird als angeboren verstanden und kann dementsprechend nicht infrage gestellt werden. Kaum jemand im Westen könnte einer solchen Idee folgen.

Die Meditation im Yoga

T.K.V. Desikachar
Wir alle wissen, dass sich der Yoga nicht in den Körperhaltungen, den Āsanas erschöpft. Sie repräsentieren nicht die Essenz des Yoga, sondern sind nur Bestandteil eines gesamten Systems. Ich treffe oft auf zwei ganz gegensätzliche Meinungen:

  • Der Körperyoga ist gut, der ganze Rest jedoch nicht.
  • Wenn man sich nur für den Körper interessiert, verrät man den Yoga.

Wir sprechen hier nicht über die Anwendung des Yoga für Menschen mit gesundheitlichen Problemen, sondern über Yoga als ein Mittel der persönlichen Weiterentwicklung. Das westliche Wort, das sich in diesem Zusammenhang am meisten dem Yoga annähert, ist Meditation. In Indien ist es sehr einfach: Wenn der Schüler bereit ist, lehrt man ihn Meditation. Das heißt, man gibt ihm einen Gegenstand oder auch einen Satz, der für ihn einen Wert hat, zu seiner Persönlichkeit passt und für ihn akzeptabel ist. Auf diesen Meditationsgegenstand soll er seine Aufmerksamkeit heften und mit ihm in Beziehung treten. Wenn der Schüler ernsthaft ist und das Meditationsobjekt gut gewählt wurde, wird der Schüler eine Erfahrung machen, die ihn verändern wird. Dabei möchte ich aber noch auf etwas hinweisen: Meditations-Techniken zu unterrichten, ist eine Sache. Eine andere ist es, jemanden in Meditation zu unterrichten. Es gibt viele Techniken und man kann sie ohne Vorbedingungen erwerben. Ich benutze das Wort „erwerben“ absichtlich! Aber meiner Erfahrung nach kann man das Unterrichten immer vergleichen mit einem Würfelspiel: Der Lehrer oder die Lehrerin denkt nach und bereitet etwas vor, was sie dem Schüler vorschlägt. Aber die Situation ist immer offen: Entweder es klappt oder es klappt nicht. Es hält vor oder eben nicht. Manche Leute praktizieren Meditation, aber mechanisch, und es kommt dabei nichts raus. Auf jeden Fall sehe ich drei Möglichkeiten; die beiden ersten sind einfach, die Dritte ist schwierig:

  • ich erwerbe Meditationstechniken
  • ich „mache“ meine Meditation
  • ich meditiere

Imogen, Sie praktizieren Yoga seit Langem und bilden in Berlin Yogalehrerinnen und Yogalehrer aus. Wie verstehen Sie Meditation? Und: Lässt sich Meditation in Ihre Ausbildung von Yogalehrern einbeziehen?

Imogen Dalmann
Ich bin davon überzeugt, dass Meditation in den Prozess der Yogalehrerausbildung einbezogen werden sollte. Warum: Es ist nicht immer so, dass Menschen Yogalehrer aufsuchen, mit dem klaren Ziel: Ich möchte meditieren lernen. In aller Regel erwacht der Wunsch danach, wenn sich der Geist ein wenig geklärt und wenn die entsprechende Person gute Erfahrungen mit dem Üben gemacht hat. Warum sollte der Yoga also nicht auch helfen können auf der Suche nach Frieden mit sich und der Welt? Im Unterrichten von Āsana und Prāṇāyāma versierte Yogalehrerinnen und –lehrer, können nicht ausschließen, dass ihre Schüler und Schülerinnen sie mit dem Wunsch nach Meditationsunterricht konfrontieren. Dann sollten sie wissen, was der Yoga darunter versteht und entscheiden können, ob sie unterrichten wollen und wie.

Eine Suche

Imogen Dalmann
Nicht selten bringt es die Auseinandersetzung mit Meditation im Ausbildungslehrgang mit sich, dass die eine oder der andere sich an diesen Schritt des Yoga-Übens heranwagt.
Ich möchte gerne am Beispiel einer schon etwas älteren Frau verdeutlichen, wie ich das meine und was mir dabei wichtig scheint. Sieben Jahre Teilnahme an einem Yogakurs in ihrem Dorf haben ihr Mut und Lust auf das eigene Weitergeben von Yoga gemacht. So kam sie zu uns in die Ausbildung. Während der Ausbildungszeit praktizierte sie regelmäßig Āsana und Prāṇāyāma und begann, andere Frauen ihres Dorfes zu unterrichten. Im Rahmen der Yogalehrerausbildung kam auch das zur Sprache, was über Körper- und Atemübungen des Yoga hinausgeht. Dieses Thema interessierte sie und weckte in ihr die Hoffnung auf eine Verbesserung bestimmter Störungen und Unzulänglichkeiten, unter denen sie litt. Sie sehnte sich nach mehr innerer Ruhe und Frieden. So wollte sie meditieren lernen.
Auf der Suche nach einem geeigneten Meditationsgegenstand, die einige Monate dauerte, wählte sie immer wieder Objekte aus der Natur. Bis sie eines Sommers begann, sich auf die Blume zu konzentrieren, die sie in ihrem Garten am meisten mochte. Nach einigen Monaten war sie in der Lage, ihre Lieblingsblume in allen Einzelheiten zu beschreiben. Während des Winters setzte sie die Konzentrationsübung mit einer Fotografie fort. In dieser Art und Weise verfuhr sie während mehrerer Jahre. Stück für Stück entdeckte sie sehr subtile Aspekte ihrer Blume, ihr Verständnis von der Blume ging weit über das hinaus, was sie sah. Vergangene Woche erzählte sie mir, dass sie manchmal die Kraft spüren könnte, die der Blume innewohnt, fast als ob sie sich mit dieser Kraft identifizierte und sie dies sehr glück­lich und zufrieden mache.
Diese Geschichte ist für mich fast wie ein Modell: Wir müssen erkennen, woran die Menschen ein Interesse haben und ihnen helfen, dabei zu bleiben, mehr nicht. In diesem Modell bedarf es keiner Erwähnung einer „Höheren Macht“.
Bei unserem letzten Zusammentreffen sagte mir die Frau, von der ich spreche, etwas Interessantes: Ich frage mich, ob es noch etwas gibt, was über diese Kraft hinausgeht, die ich spüre. Aber diese Frage ängstigt mich, weil alles, was man mir von Gott und höherer Kraft erzählt hat, für mich immer nur bedrohlich gewesen ist. In meinem Verständnis straft Gott und hat immer ein kontrollierendes Auge auf die Menschen. Meinem Eindruck nach ist diese Frau sehr stark mit einer ihr inne wohnenden Kraft verbunden. Aber das alte Programm, um mit Emilios Worten zu sprechen, ist immer noch da, droht ihre Erfahrungen zu trüben und kann sie auf ihrem Weg behindern, wenn es sich in ihrem Kopf mit ihrer neuen Erfahrung verbindet. Die Vorstellungen, die in unserer Religion und in unserer Kultur von Gott, von höheren Mächten und ihrer Präsenz in uns existieren, sind manchmal überhaupt keine Hilfe. Schlimmer noch, sie können zuweilen sogar störend und hinderlich sein, wenn eine Person sich ernsthaft mit ihrem inneren Selbst beschäftigen möchte.

Einfach nur zuhören

Émilio Serrano
Ich glaube, im Yoga Sūtra steht, dass die Wirklichkeit unabhängig von dem Zeugen, der sie beobachtet, existiert. Die Spiritualität, ist sie ein Glaubenssystem, eine Lebenseinstellung, eine Art zu handeln oder zu sein? In jedem Fall wäre es unmöglich, zu behaupten, dass sie unabhängig von menschlichen Wesen existiert, dass sie ein losgelöstes Etwas sei.

T.K.V. Desikachar
Ich stimme allem zu, was Sie gerade gesagt haben. Es gibt die sehr interessante Geschichte eines Mannes, der Yoga übte, um ruhiger zu werden. Aber je mehr er übte, umso unruhiger wurde er. Wenn er von seiner Praxis nach Hause kam, schlug er jeden Tag die Tür ein wenig heftiger ins Schloss. Anfänglich machten seine Familienmitglieder ihn darauf aufmerksam, dass er eigentlich seine Praxis übe, um ruhiger zu werden, nun aber wie ein Tornado durchs Haus fege. Schließlich gewöhnte sich seine Familie daran, und der Mann fuhr fort, zu üben. Eines Abends war seine Frau in Sorge, weil sie den gewohnten Türknall nicht gehört hatte. Sie ging nachsehen und fand ihren Mann draußen vor der Tür. Er sagte ihr ganz ruhig: Ich habe geklopft, aber Ihr habt mich nicht gehört. Er war ein anderer Mann geworden. Was sich in uns abspielt, kann sich in einem Tornado ausdrücken und uns die Türen knallen lassen. Es kann sich aber auch in einem kleinen, zurückhaltenden Klopfen ausdrücken. Es ist letztlich immer unser Verhalten, das sich ändert. Wir sind Menschen und als solche spirituell oder eben nicht.

Religion, Aberglaube und Spiritualität

Frage aus dem Publikum
Wel­chen Unterschied machen Sie zwischen Spiritualität, Religion und Aberglauben?

T.K.V. Desikachar
Auf dem Gebiet des Aberglaubens sind die Inder Experten. Allem Möglichen schenken wir blind unser Vertrauen und verlieren dabei keinen Gedanken an die Weiterentwicklung der Wissenschaft oder die Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wir wiederholen bestimmte Verhaltensweisen oder Gewohnheiten auch dann noch, wenn sie überhaupt keinen Sinn mehr ergeben: Wir streichen ein neues Haus in den teuersten Farben an. Aber wir können es nicht beziehen, bevor nicht ein Priester gekommen ist, um Mist auf dem Dach auszuschütten. Warum?
Jemand könnte ein Auge auf das Haus werfen, weil es so neu und so schön ist und es verhext. Wenn es nun beschmutzt ist, hätten die Leute nur Augen für den Dreck. Kein Neid würde provoziert werden und niemand würde einen Zauber über das Haus aussprechen.
Etwas ähnlich Lächerliches: Niemand betritt ein Haus, wenn nicht über Jahre hinaus ein riesiger Kürbis am Eingang gestanden hat, der in Form einer merkwürdigen Fratze geschnitzt worden ist. Es gibt bei uns viele solche Praktiken, die auf einen Aberglauben zurückzuführen sind. Aber ich habe auch anderswo Erfahrungen mit solcher Art von Aberglauben gemacht: In den Ländern, in denen man mit Messer und Gabel isst, erkundige ich mich stets, wie ich das Besteck hinlegen soll, nachdem ich die Mahlzeit beendet habe. In Frankreich antwortet man mir: „Auf diese Art und Weise“, in England „Auf jene Art und Weise“ und in den USA „Egal wie“! Es liegt keine Logik darin und ich hüte mich, nach einem Grund für solch ein Verhalten zu fragen. Vielleicht hat es in der Vergangenheit einmal einen Grund dafür gegeben, es auf die eine oder andere Weise zu machen. Vielleicht ist es eine Art, etwas Bestimmtes auszudrücken? Aber das ging verloren und wir begnügen uns damit, weiter so zu tun, wie man es uns geheißen hat.
Kommen wir nun zur Religion, die dem Konzept der Spiritualität nah verbunden ist. Das Wort Religion bedeutet vereinigen, zu sich selbst zurückfinden. Jetzt beginnt die Spiritualität auch da, wo man anfängt, den Blick nach innen zu wenden. Das Wort Religion ist belastet. Wir denken sofort an den Buddhismus, das Christentum, den Islam und an deren jeweilige Dogmen und Praktiken.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sind Religion und Spiritualität sehr unterschiedlich. Man kann einer Religion angehören, ohne wirklich eine innere religiöse oder spirituelle Haltung zu haben. Wenn ich zum Beispiel Hindu bin, macht allein das schon im allgemeinen Verständnis einen religiösen Mann aus mir. Niemand verlangt von mir, dass ich mich auf den Weg nach innen mache. Jemand kann einer Religion anhängen, ohne die mindeste spirituelle Einstellung. Aber man kann auch spirituell sein, ohne einer Religion anzugehören. Viele Mitglieder meiner Familie unterstellen mir, keine religiösen Gefühle zu haben, weil ich nicht das tue, was sie im Namen unserer Religion praktizieren. Sie sind übrigens dabei auch nicht glücklicher, als ich es bin.
Die existierenden Religionen sind in aller Regel wie ein Kleidungsstück, das wir von unseren Vorfahren geerbt oder selbst ausgewählt haben. Egal, ob es uns befriedigt oder nicht, wir haben eine starke Verbindung dazu. In Indien klebt uns dieses Kleidungsstück dermaßen an der Haut, dass wir uns nicht vorstellen können, ohne es zu leben. Hingegen kann man hier dieses Kleidungsstück leichter ablegen: Oft höre ich: Ich wurde getauft, aber ich praktiziere das Christentum nicht mehr.
Das Licht in uns, von dem ich sprach, Gott, Bewusstsein oder etwas anderes, existiert unabhängig von diesem Kleidungsstück. Wir können das Licht nicht verändern, aber es kann uns unterschiedlich erscheinen, je nachdem welches Kleidungsstück wir tragen.
In Indien existiert das Wort Religion nicht. Wir benutzen den Ausdruck darśana – Spiegel. Ein Spiegel ist das Werkzeug, das uns erlaubt, uns zu sehen. In den Upaniṣaden, die ausschließlich traditionelle religiöse Texte sind, spricht man vom Höchsten immer im Zusammenhang mit Licht.

Jenseits der Worte

Émilio Serrano
Ich übe meinen Beruf als Psychotherapeut jetzt schon fast vierzig Jahre aus, aber ich habe noch niemals erlebt, dass ein Patient zu mir gekommen ist und mir seine Seele auf den Schreibtisch gelegt hat. Ich treffe auf Menschen, die vom Teufel besessen sind. Andere haben Stigmatisierungen, etwa Brandmale an den Händen. Viele sprechen regelmäßig mit Gott oder mit den unterschiedlichsten Heiligen. Aber ich bin niemals auf einen real greifbaren, objektiven wissenschaftlichen Beweis gestoßen dafür, dass Spiritualität existiert. Im Prinzip kann ich alles durch kognitive, biologische, genetische oder sogar historische Prozesse erklären.
Wenn ich mir einen Gott als Schöpfer all des Wirrwarrs vorstelle, das ich um mich herum sehe, dann möchte ich ihm am liebsten die Adresse eines Kollegen geben, da er offenbar nichts verstanden hat. Wenn ich andererseits bei meiner Arbeit den Rahmen der rein biologischen Prozesse nicht verlasse, unterscheide ich mich nicht mehr von einem Automechaniker: Ich repariere Denkmaschinen, ich sorge dafür, dass sie funktionieren und meine, dass damit alles erledigt ist. In bestimmten Momenten gelingt es mir, mit dem rein rationalen und mechanischen Denken aufzuhören. Dann fange ich an, meine andere Gehirnhälfte zu benutzen. Und ich beginne zu verstehen, dass das, was jeden Tag geschieht, etwas Besonderes sein kann, auch wenn mir dabei keine Logik auffällt. In einem solchen Augenblick kann ich mich entscheiden zu glauben, dass der Mensch etwas mehr ist als eine biologische Maschine. Diese Entscheidung lässt mich Aspekte des Menschen entdecken, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Dies wiederum hat eine Rückwirkung auf meine Arbeit: Die Patienten spüren, dass ich in ihnen mehr sehe als eine einfache Maschine.
Und von diesem Moment an wird der spirituelle Aspekt klarer durchscheinen. Wenn man anfängt, eine bestimmte spirituelle, nicht religiöse Dimension in sein Leben zu bringen, wird dies in jedem Augenblick unserer Existenz zum Vorschein kommen. Ich weiß nicht, ob es Grenzen für dieses Phänomen gibt. Ich denke auch nicht, dass ich meine Arbeit machen könnte, ohne zu glauben oder daran glauben zu wollen, dass wir mehr sind als Denkmaschinen. Ich höre ganz bewusst hier auf und so kann ich darüber auch nicht mehr erzählen. Es gibt viele Worte, um zu erklären, was die Seele, der Geist, das Selbst sind. Aber ich meine, dass Worte, die kognitiven Benennungen, die Magie des Ganzen verschwinden lassen. Worte bringen uns leicht wieder in eine unscharfe Dimension, die nicht die der Spiritualität ist. Genauso wie sich die Quantenphysik auf einem anderen Niveau bewegt als die Newtonsche Physik, existiert die Spiritualität auf einem Niveau, das weder rational noch kognitiv ist.

T.K.V. Desikachar
Eine Passage in den Upaniṣaden sagt genau dasselbe: yato vaco nivartante – die Worte sind machtlos; und weiter aprapya manasa saha – sogar der Geist kann dies nicht erfassen.

Wir in Indien haben einen außergewöhnlichen Glauben, ein außergewöhnliches Vertrauen. Was Spiritualität betrifft, so zitieren wir die alten Texte, ohne sie infrage zu stellen. Wir akzeptieren sie so, wie sie sind, und wir glauben, dass sie die Wahrheit sagen. Aber hier im Westen funktioniert euer Geist anders, er stellt Dinge infrage. Emilio, der Wissenschaftler, hat uns gerade gesagt, dass es einen Bereich jenseits der Worte gibt. Was tun Sie, Imogen, wenn man Ihnen die Frage stellt, die wir gerade zu beantworten suchen?

Imogen Dalmann
Zunächst ist es mir wichtig, zu klären, woher eine solche Frage rührt. Solche Art von Fragen entspringt oft nur den intellektuellen Schichten des Geistes. Sie wird dann nicht aus einem echten Bedürfnis heraus gestellt, kommt nicht aus dem Herzen. Im Dialog versuche ich zu verstehen, ob es sich hier um eine rein intellektuelle Analyse im Sinne eines Denkspiels handelt oder ob ich mir einer persönlichen Fragestellung gegenübersehe, die mein Gegenüber nicht anders ausdrücken konnte. Dann sehe ich zu, dass die Person „ihr Gefäß reinigt“, wie Sie es nennen. Dazu schlage ich gelegentlich ein Prāṇāyāma vor, mit anschließender Reflexion über diese Frage oder eine andere besondere Aufgabe.
Ich denke gerade an eine bestimmte Person, die mir gesagt hatte, sie wolle sich enger mit Gott verbinden. Wir haben versucht, herauszufinden, was sie mit Gott assoziiert. „Eine sehr schöne Kraft, mit der ich mich jeden Tag nach meiner Praxis zu verbinden suche.“ Aber mit diesem Bild stößt sie in ihrer Meditation auf Zweifel und Schwierigkeiten, in dem Moment, in dem sie an all das Hässliche denkt, das sie umgibt.
Ich sehe meine Rolle darin, der Person zu helfen, etwas Wichtiges zu erkennen: Ob die auftauchenden Zweifel ein Ausweichmanöver sind oder im Gegenteil ein Schritt in die von ihr gewünschte Richtung. Das verstehe ich unter „das Gefäß reinigen“. Ist der Prozess dann einmal in Gang gekommen, so ist es gar nicht schwierig, bei der echten Fragestellung zu bleiben. Wie Emilio schon sagte, muss man nicht unbedingt viele Worte über das Thema Spiritualität verlieren, sie verstricken einen zu sehr in die intellektuelle Ebene.
Wenn man Meditation unterrichtet, erzählen einem die Schüler oft von ihren Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind äußerst unterschiedlich und für die Schüler von nachhaltigem Eindruck. Ich halte es für schwierig, eine Auslese unter diesen Erfahrungen zu treffen. Einerseits trifft man auf simple Täuschungen oder sehr körperliche Erfahrungen, Lichterscheinungen usw., real oder auch nicht, die auf mystische Art vom Schüler interpretiert werden. Andererseits lassen sich tiefer gehende, realere Erfahrungen beobachten, die aus „einer Reinigung des Gefäßes“ resultieren, wie Sie das vorhin genannt haben. Können Sie uns helfen, hier ein wenig klarer zu sehen?

T.K.V. Desikachar
Sie haben die Antwort gestern selbst formuliert. Sie sagten: Wenn jemand mir gegenübersitzt, versuche ich zu verstehen und nicht zu beurteilen.
Was der Schüler erzählt, ist für ihn Realität. Er glaubt daran, dass es in dieser Weise wirklich geschieht. Emilio erzählte gestern von einer Patientin, die erzählte, dass sie sich täglich um einen Tiger kümmern müsste. Vielleicht war es nur ein Kaninchen, aber für sie war es wirklich ein Tiger. Wir müssen zuhören und der Person auch das Gefühl geben, dass wir dies tun. Die Tiger-Frau empfindet sich vielleicht ohnehin schon als etwas lächerlich, indem sie ungewöhnliche Dinge wahrnimmt und darüber spricht. Sie kann über diese Wahrnehmungen nicht mit jedem reden. Aber sie hofft, dass wir ihr zuhören und sie verstehen können. Wir müssen sie in dieser Situation respektieren, ihr wirklich zuhören und wenn wir dazu in der Lage sind, das auch deutlich machen: Ja, ich verstehe Sie. Vielleicht kennen Sie diese Geschichte aus dem Zen.

Ein junges Mädchen wohnte in der Nachbarschaft eines Zen-Meisters. Sie war in einen Bauern verliebt und wurde von ihm schwanger. Da sie es nicht wagte, ihren Eltern die Wahrheit zu sagen, behauptete sie, dass der Zen-Meister der Vater ihres Kindes sei. Als das Baby geboren war, brachten die Eltern es zum Meister. Hier ist Ihr Kind, sagten sie ihm. Wirklich? antwortete er und behielt das Baby und sorgte für es. Die junge Mutter war sehr unglücklich, weil sie sich nicht um ihr Kind kümmern konnte. Nach einer sechsmonatigen Leidenszeit gestand sie ihren Eltern, dass der Bauer der wirkliche Vater war. Die Eltern waren sehr verärgert und kehrten zum Zen-Meister zurück. Es tut uns schrecklich leid. Es war alles nur ein Irrtum. Sie sind nicht der Vater. Wirklich? antwortete er und gab Ihnen das Kind zurück. ▼

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