Diese Artikelreihe widmet sich ganz der Yogapraxis.
Egal, ob du mehr über Meditation oder Prāṇāyāma erfahren möchtest, fundierte Informationen zu einzelnen Āsana suchst oder dich für bestimmte Zielgruppen interessierst – hier wirst du fündig!
Äußere Veränderungen waren schon immer eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Yogas.
Unter der Überschrift Tradition – Yoga im Wandel findest du daher nicht nur Artikel zu Hintergrund, Geschichte und wichtigen traditionellen Texten und Schriften, sondern auch Beiträge, die sich unter dem Stichwort TravellingYoga mit Veränderungen und notwendigen Anpassungen im Yoga auseinandersetzen.
Das Menschenbild, das Patañjali im Yoga Sūtra skizziert, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es ist nicht auf eine bestimmte religiöse Weltanschauung oder definierte Glaubenssätze festgelegt. Vielmehr stellt das Yoga Sūtra einen grundlegenden Leitfaden für den Weg durch alltägliche und spirituelle Erfahrungen dar.
Patañjali macht zum Beispiel keine Aussagen zum Konzept der Reinkarnation, einer zentralen Vorstellung in anderen indischen Traditionen. Sein Interesse an der Beziehung zwischen Mensch und Gott liegt hauptsächlich darin, wie sehr die Hinwendung zu Gott einem Menschen helfen kann, seinen Geist und sein Leben positiv zu verändern.
Offene Weite – Das Menschenbild Patañjalis
Das Menschenbild, das Patañjali im Yoga Sūtra skizziert, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es ist nicht auf eine bestimmte religiöse Weltanschauung oder definierte Glaubenssätze festgelegt. Vielmehr stellt das Yoga Sūtra einen grundlegenden Leitfaden für den Weg durch alltägliche und spirituelle Erfahrungen dar.
Patañjali macht zum Beispiel keine Aussagen zum Konzept der Reinkarnation, einer zentralen Vorstellung in anderen indischen Traditionen. Sein Interesse an der Beziehung zwischen Mensch und Gott liegt hauptsächlich darin, wie sehr die Hinwendung zu Gott einem Menschen helfen kann, seinen Geist und sein Leben positiv zu verändern.
Offene Weite – Das Menschenbild Patañjalis
Das Menschenbild, das Patañjali im Yoga Sūtra skizziert, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es ist nicht auf eine bestimmte religiöse Weltanschauung oder definierte Glaubenssätze festgelegt. Vielmehr stellt das Yoga Sūtra einen grundlegenden Leitfaden für den Weg durch alltägliche und spirituelle Erfahrungen dar.
Patañjali macht zum Beispiel keine Aussagen zum Konzept der Reinkarnation, einer zentralen Vorstellung in anderen indischen Traditionen. Sein Interesse an der Beziehung zwischen Mensch und Gott liegt hauptsächlich darin, wie sehr die Hinwendung zu Gott einem Menschen helfen kann, seinen Geist und sein Leben positiv zu verändern.
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Patañjalis Vorstellung von Citta
Patañjali beschreibt das Wesen des Menschseins in den Sūtren, in denen er den achtgliedrigen Weg des Yoga erklärt.
Zunächst sehen wir einen Menschen so, wie wir ihm begegnen:
Wie verhält er sich uns, anderen gegenüber?
Ist er friedfertig oder gewalttätig?
Ist er aufrichtig oder betrügt er?
Vergreift er sich an Dingen, die ihm nicht gehören, oder respektiert er andere.
Hält er fest an dem, was er sucht, oder lässt er sich durch einfache Lösungen ablenken?
Patañjali sieht den Menschen also zunächst als ein Wesen, das Kontakt zu anderen hat, das kommuniziert und seine innere Haltung im Zusammenleben mit anderen Wesen ausdrückt. Lernen wir diesen Menschen näher kennen, so können wir erfahren, wie er mit sich selbst umgeht. Ein Thema, welches Patañjali unter den sogenannten niyama weiter erörtert. Patañjali definiert den Menschen zunächst als ein Wesen, das handelt, tätig ist, aktiv und bewirkend. So führt er uns näher an den Menschen heran. Er unterscheidet Körper, Atem und die Sinne. Weiter im Innen sieht er citta, das, was man als Geist bezeichnen könnte. Schließlich benennt Patañjali den Kern des Menschen. Eine Instanz in uns, die richtig erkennen, die Welt und uns selbst so sehen kann, wie sie wirklich sind. Er verwendet dafür das Wort draṣṭṛ – wörtlich: das, was sieht. Gelegentlich gebraucht er dafür auch noch einen anderen Begriff puruṣa, was übersetzt so viel heißt wie: der Bewohner der Stadt.
Das menschliche Leben ist für Patañjali ein Zusammenspiel dieser Aspekte. Sein Interesse gilt dabei primär dem Geist, citta und der Rolle, die ihm in diesem Spiel zukommt. Dieses citta ist im Yoga die Instanz im Menschen, in der Gefühle, Intellektualität, Bewusstes, Unbewusstes, Unterbewusstes, Träume, Fantasien, Wünsche und Wahrnehmungen stattfinden.
Darin gibt es zunächst einen aktiven Teil. Schließt man die Augen, kann es mit etwas Übung gelingen, diesem Teil des Geistes ein wenig bei der Arbeit zuzuschauen. Immer in Bewegung, meist von einem zum anderen springend, oft rastlos, oft ziellos. Aber auch fähig, konzentriert und klar zu sein.
Und es gibt den Teil des citta, der größtenteils passiv bleibt, obwohl er jederzeit aktiv werden kann. Es sind Strukturen und Verhaltensmuster, die erst dann in Aktion treten, wenn die Umstände es erfordern. Wenn sie nicht benötigt werden, schlafen sie gleichermaßen. Sie sind das Ergebnis von Aktivitäten, Spuren, die frühere Handlungen hinterlassen haben. Diesen Teil des Geistes nennt der Yoga samskāra, wörtlich: das, was aus allem vorhergehenden Handeln entsteht. Jedes Bewegungsmuster, jedes Erkennen, jedes sich Zurechtfinden enthält unterschiedlichste samskāra.
Ähnlich wie die samskāra gibt es darüber hinaus noch Muster, die wir nicht erworben haben, sondern mit denen wir auf die Welt gekommen sind: die Vāsana.
Schließlich wirken noch die Strukturen auf unseren normalerweise stets aktiven Geist, die unser Denken und Fühlen in ganz bestimmte Richtungen lenken und manchmal auch dorthin drängen. Sie bewirken, dass wir Dinge nicht richtig verstehen, dass wir uns an etwas klammern, dass wir Dinge ablehnen und in Angst vor dem Tod leben. Patañjali bezeichnet sie programmatisch als klésa, wörtlich: das, was Leiden verursacht.
Die Vorstellung des Yoga über die Struktur unseres Geistes ist komplex.
Hinzu kommt, dass dieser Geist nicht als in sich geschlossenes System gesehen wird, sondern mit der Außenwelt über die Sinne eng verbunden ist. Mehr noch: Normalerweise scheint unser Geist abhängig von unseren Sinnen zu sein. Sehen wir etwas, hören, riechen, schmecken oder tasten wir etwas, so reagiert citta scheinbar zwangsläufig darauf in festgeschriebenen Mustern.
Ein einfaches Beispiel:
Man geht schlendernd nach Hause, im Schaufenster einer Boutique sieht man einen Mantel. Plötzlich werden Gedanken, die einen eben noch beschäftigten, verdrängt von dem Bedürfnis, diesen Mantel genauer anzusehen und ihn am nächsten Tag kaufen zu wollen.
Was ist passiert?
Der Blick hat den Geist schnell und mächtig auf etwas gelenkt, es finden Einteilungen statt, Bedürfnisse entstehen, werden vielleicht verworfen oder bekräftigt. Diese Ausrichtung kann sich im nächsten Augenblick ebenso schnell wieder ändern, spätestens wenn ein wütender Autofahrer bremsen muss, weil man gedankenverloren und unachtsam die Straße überquert. Patañjali beschreibt dies als unseren Normalzustand:
Ohne dass es bewusst wahrgenommen wird, wird der Geist hierhin und dorthin gelenkt. Oft sind es, wie im Beispiel, die Sinne, die ihm eine bestimmte Richtung geben. Aber auch Erinnerungen oder Fantasien, die ohne Zutun aufsteigen, haben diese Kraft. Die Situation ähnelt der eines Pferdefuhrwerks, in dem die Pferde die Richtung bestimmen und nicht der Kutscher. Die Pferde suchen nach Futter, rennen los und der Kutscher kann gerade dafür sorgen, dass während dieser rasanten Fahrt nicht allzu viel Unheil geschieht. Aber es kann auch anders ablaufen.
Ein weiteres Beispiel:
Eine wichtige Entscheidung steht an. Soll die angebotene neue Arbeit angenommen werden? Ich sorge für Ruhe, versuche offen zu sein für alle Gedanken und Gefühle, die mich dafür und dagegen einnehmen, mache mich ihrer bewusst, spüre, was mich zur einen oder anderen Seite neigen lässt, finde Abstand und treffe dann eine Entscheidung.
Citta kann also so oder so – citta ist weder gut noch schlecht.
Nach Patañjali ist der Geist neutral. Er ist ein Werkzeug, ähnlich wie ein Messer, das man zum Schälen von Äpfeln oder zum Töten eines Menschen benutzen kann. Nur durch seine Aktivität selbst erkennen wir, dass wir einen Geist haben.
Auch in Europa hat die Suche nach dem Verstehen des Zusammenhanges von Geist und Sinnen zu Modellen geführt, die dem Patañjalis ähnelten (Abb. 2). Hier das Modell Giordano Brunos, das im 16. Jahrhundert versuchte, Licht auf das Funktionieren unseres Geistes zu werfen: Der Geist umgeben von den Sinnen.
Wenn der Yoga diesen Aspekt unseres Geistes beschreibt, dann beschreibt er unser geistiges Handeln. Wir erkennen etwas richtig oder wir täuschen uns. Wir können uns an die glückliche Zeit der ersten Liebe erinnern oder an das bittere Ende einer Beziehung. Mithilfe unserer Fantasie können wir Luftschlösser auf Wolken bauen, aus denen wir unsanft zu Boden stürzen, oder wie Einstein die Relativitätstheorie entwickeln.
Es gibt fünf Aktivitäten des Geistes, die ebenso Leid verursachen wie frei von Leid sein können.
pramāna viparyaya vikalpa nidrā smrtayah
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 6
Die fünf Aktivitäten, vriti, sind: richtige Wahrnehmung, falsche Wahrnehmung, Vorstellungskraft, traumloser Schlaf und unser Erinnerungsvermögen.
Klésa
Warum sind wir oft so unklar, unbewusst, hastig und oberflächlich? Warum entscheiden und handeln wir so, dass wir an den Folgen, die sich daraus ergeben, leiden, unglücklich sind? Der Grund liegt nach Patañjali in der Struktur des citta, die er klésa nennt und die sich in fünf Aspekten zeigen.
Die klésa, so der Yoga, sind in jedem Menschen aktiv. Nicht alle fünf ständig und gleichzeitig oder gleich stark, nicht in jedem Menschen in gleichem Maße, aber in jedem Menschen vorhanden und sein Handeln bestimmend. Sie können Leid verursachen, wie frei von Leid sein. Sie drängen nach Ausdruck, sie drängen uns zu handeln, sie haben es eilig und machen uns eilig, sie halten citta in Trab.
Die klésa lassen sich aus dem folgenden Sūtra herauslesen:
avidyāsmitārgadveṣābhiniveśāḥ klésaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 3
avidyā - Unwissenheit, falsche Gewissheit, falsches Annehmen
asmitā - Selbstsucht, falsches Selbstbild, Egozentrik
rāga - Verlangen, Gier, Behalten wollen
dveṣā - Ablehnung, Aggression, Intoleranz
abhiniveśāḥ - Existenzangst, Angst vor dem Tod, Irrglaube an ewige Gesundheit und ewiges Leben
Sind die Klésa unsere Emotionen?
Nein, aber oft sind unsere Emotionen so eng mit den klésa verbunden, dass sie untrennbar erscheinen. Wir können z. B. lieben, ohne besitzen zu wollen, aber meistens lassen wir das, was wir lieben, nicht los. Eine Emotion, die mich in der Hand hat, ist aus der Sicht des Yoga immer ein klésa.
Wie sehr identifiziere ich mich mit der Emotion, die mich gerade packt; bilde ich mir ein, dieses Gefühl zu sein?
Oder kann ich noch wahrnehmen und in meinem Handeln wirksam werden lassen, dass auch diese Emotion etwas Veränderbares ist?
Hat die Wut mich oder kann ich sehen (und ausdrücken) „ich habe aber eine Wut“?
Yoga fragt also nach dem Standpunkt, der zu einem inneren Prozess und Bewegungen des Citta eingenommen wird, und sagt:
der Mensch leidet
weil in ihm die klésa wirken
dieses Leiden kann überwunden werden
Patañjali definiert im folgenden Sūtra Yoga so: Yoga ist das zur Ruhe kommen aller ungerichteten Bewegungen des Geistes.
Patañjali schreibt nicht: ścittanirodhaḥ – also nicht der Geist soll unterbunden werden. Er sagt: ścittavṛttinirodhaḥ – sondern seine sich normalerweise überschlagenden Aktivitäten sollen unterbunden werden. Nicht nur Vyāsa, der erste Kommentator des Yoga Sūtra, hat auf diesen Unterschied hingewiesen. Der Geist ist immer aktiv und wird gebraucht, besonders um tiefgreifende Weisheit zu erkennen.
yogaścittavṛttinirodhaḥ bedeutet daher immer zwei Dinge:
das Zur-Ruhe-Kommen der durch die klesha getriebenen vṛtti.
die Fähigkeit, sich auf Eines ausrichten zu können und dabei zu helfen, das zu sehen, was ist: die Wirklichkeit, vielleicht uns selbst, vielleicht Gott.
Patañjalis Bild unseres Geistes (Abb. 3): Sein aktiver Bereich, die vrtti, die Sinne, die samskāra und die vāsana. Schließlich noch die klésa, die sich mit jeder Bewegung des Geistes verbinden können.
Im Yoga Sūtra werden die Klésa weiter ausdifferenziert. Dabei sind ihm Vorstellungen wie „Sünde“ fremd. Meist ist es rāga, das zum Yogaweg führt.
wir wollen gesund werden
einen klaren Geist haben
ein Āsana so gut ausführen können wie unser Lehrer/in
Erleuchtung erreichen – natürlich möglichst schnell und dauerhaft.
Ohne rāga wäre dieser Weg gar nicht erst begonnen worden. Nach Patañjali ist das erst der Anfang, seine Frage lautet:
Wie bleibt man gegenüber diesen Zielen offen, insbesondere, wenn das Ziel nicht erreicht wird? Kann man trotzdem mit dem, was ist, glücklich sein oder werden? Wie sehr lässt man sich von festen Vorstellungen einfangen und einengen, und wie frei kann man bleiben?
Vielleicht führen die klésa tatsächlich ins unglücklich Fühlen, aber gibt es nicht Menschen, die gerne leiden, ihr Leiden genießen, deren Glück das Unglücklichsein ist?
Der Yoga sagt dazu eindeutig nein. Patañjali definiert dieses Gefühl der Unzufriedenheit als etwas, das nach einem Ausweg verlangt. Er nennt es duḥkha und steht für einen engen, dunklen Raum (eine mögliche Übersetzung). Und meint damit etwas, was einengt und das Herz zuschnürt. Empfunden als Zustand, in dem man nicht bleiben möchte.
Jeder versucht auf verschiedene Weisen, weniger in duḥkha gefangen zu sein. Manchmal behaupten wir sogar, dass wir uns in duḥkha besonders wohlfühlen. Für Patañjali ist dies eine der vielen Formen von avidyā, einem tiefgreifenden Missverständnis uns selbst gegenüber.
So wie ein Fuß Spuren im weichen Sand hinterlässt, prägen sich die Folgen unseres Handelns in unseren Geist ein und prägen unser weiteres Tun. Halten wir nicht an ihnen fest, kann die Klarheit unseres inneren Wesens durchscheinen und der Geist dient uns als durchlässiges Medium, was nicht mehr verfärbt, sondern spiegelt (Abb. 4).
Duḥkha
Aber es gibt doch kein Leben ohne Schmerz, sei er nun körperlich oder seelisch. Freude wie Schmerz gehören doch zum Leben – oder?
So wie im Yoga Sūtra zwischen Emotionen und den klésa unterschieden wird, so wird auch zwischen Schmerz und duḥkha unterschieden: Jeder Verlust, jeder Schmerz kann dazu führen, dass duḥkha entwickelt wird. Allerdings muss das nicht zwangsläufig so sein. Wie sonst könnte Wachstum aus solchen Situationen erklärt werden, wenn nicht durch die Unterscheidung zwischen duḥkha und Schmerz?
Ich kann Schmerz empfinden, ohne davon besorgt zu sein. Ich kann den herannahenden Tod akzeptieren. Ich kann den Verlust einer geliebten Person spüren, ohne mich darin zu verlieren. Sicherlich gibt es Schmerzen, die einen Menschen zunächst überwältigen. Aber wenn diese Situation keine vorübergehende Episode bleibt, müssen wir damit umgehen.
Yoga bietet einen Weg, der in schwierigen Situationen die mögliche Freiheit aufzeigt
Der wichtigste Text des Sāṃkhya, die philosophische Grundlage des Yoga Sūtra, beginnt mit dem Satz: Aus duḥkha entsteht die Suche nach den Mitteln, es zu beenden.
Es ist duḥkha selbst, das uns zum Yogaweg führt. Oft ist es der erste Schritt eines Menschen, der sich dem Yoga zuwendet, der durch Wunsch oder Unzufriedenheit motiviert wird. So, wie es ist, soll es nicht bleiben.
Deshalb wird sich jemand Zeit nehmen, auch gegen Widerstände regelmäßig zu üben, um sich am erwünschten Erfolg zu erfreuen. Glücklicherweise stellen viele fest, dass in diesem Prozess immer wieder neue und andere Motivationen auftauchen, sich neue und andere Ziele formulieren. So entsteht auf diesem Weg, aus der Auseinandersetzung mit sich selbst, etwas jeweils Besonderes, Individuelles. Jeder Schritt eröffnet eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten.
Was ist es genau in uns, das sich unzufrieden fühlt, was genau stellt fest: Ich bin unglücklich oder die Wut hat mich gepackt oder ich halte etwas fest, und möchte es nicht mehr loslassen?
Wir sind in der Lage, solche Feststellungen zu treffen, weil es in uns eine Instanz gibt, die Patañjali Seher oder draṣṭṛ nennt. Dies ist Fix- und Ausgangspunkt, von dem aus wir uns selbst beobachten, klar sehen können. Nur von dort aus können wir erkennen, dass die klésa uns beherrschen. Der Seher nimmt wahr, wie die klésa ihn binden und duḥkha als dunklen Raum empfindet, der ihm die Sicht nimmt.
Patañjali erklärt, dass die wesentliche Fähigkeit ungenutzt bleibt, wenn die klésas aktiv am Wirken sind. Je dünner die überlagernde Schicht (klésa) ist, die diese Bewusstseinsinstanz verdeckt, desto klarer wird die Wahrnehmung, der freie Blick werden.
Was die Kraft dieses Sehers aus der Sicht des Yoga besonders begrenzt und uns unfrei macht, ist das Festhalten an unguten Mustern. All unsere Handlungen hinterlassen Spuren in der Struktur unseres Geistes. Er organisiert sich dabei mehr und mehr so, dass die Handlungen von gestern als die Norm für heute akzeptiert werden. Er versucht, daran festzuhalten.
Diese Muster finden ihren Ausdruck nicht nur im Geist, sondern auch dort, wo der Geist den Körper organisiert. Woran erkennt man einen Menschen wieder, den man lange Jahre nicht gesehen hat? Viel weniger an der Farbe der Augen, der Länge der Nase, sondern vor allem auch an der Art und Weise, wie er die Kaffeetasse hebt, wie er die Schultern zusammenzieht, wenn das Gespräch schwierig wird oder beim Sprechen gestikuliert.
Der Yoga beschreibt solche Festlegungen unserer Wahrnehmung und unseres Handelns mit dem Begriff samskāra.
Noch einmal: Muster sind nicht an sich schlecht oder gut.
Überquert man in Deutschland eine Straße, sollte man erst nach links und dann rechts geschaut werden. Richte ich mich in Indien danach, so ist das wegen des Linksverkehrs kein guter Rat; Muster. Das samskāra „erst links, dann rechts“ ist also nicht per se falsch, sondern wird es erst, wenn indische Verhältnisse für deutsche genommen werden. Yogisch ausgedrückt: Es herrscht avidyā (falsche Annahme).
Neben den samskāra gibt es noch die vāsana. Wir sind keine unbeschriebenen Blätter, wenn wir zum ersten Mal schreien. Wir treten mit bestimmten persönlichen Eigenheiten ins Leben. Aufmerksame Eltern können dies insbesondere beim Vergleich von Geschwisterkindern früh feststellen. Das Eine gibt gerne und kümmert sich stets darum, dass alle Kinder in der Umgebung versorgt sind. Das Andere stellt sich selbst immer an die erste Stelle.
Diese vāsana sind für uns wie eine zweite Haut. Übersetzt bezeichnet der Begriff in etwa »das, was bleibt«.
Warum diese Eigenschaften existieren, darauf gibt der Yoga Patañjalis keine Antwort. Als Erklärungsmodell für solche überraschenden Erfahrungen haben der Vedānta, die Philosophie, die dem Hinduismus zugrunde liegt, und andere Weltanschauungen die Reinkarnationstheorie entwickelt. In ihr nimmt ein Wesen Eigenschaften aus einem früheren Leben in das nächste Leben mit, wenn es wiedergeboren wird. Auch im ältesten Kommentar zum Yoga Sūtra, dem von Vyāsa, finden sich nur die knappe Bemerkung: „Wir können nicht wissen, woher diese vāsana stammen“.
Vṛtti, klésa, samskāra und die vāsana prägen die Struktur unseres Geistes und damit uns als Person. Aber nicht jeder Mensch ist wie der andere, obwohl die Struktur und Funktionsweise des Geistes aus der Sicht des Yoga qualitativ nicht unterschiedlich bei dem einen oder anderen Menschen sind. Der jeweilige Geist ist dennoch verschieden, von Person zu Person. Verschieden aufgrund der Unterschiedlichkeit und Individualität der samskāra und der vāsana.
Sind die vrtti ruhig und ausgerichtet und die klésa wenig aktiv, kann die Fähigkeit des Sehers, drshtr, in uns seine Kraft entfalten. Sind die vrtti ohne Ordnung und die klésa sehr aktiv, verdunkeln sie die Fähigkeit des draṣṭṛ, unsere Wahrnehmung ist begrenzt (Abb. 5).
Je dünner die Schicht wird, die diese Instanz der Bewusstheit bedeckt, desto deutlicher ist auch ihre Wahrnehmung.
Diese Unterschiede tragen bei zur Ausprägung, zum konkreten Gesicht der „Dränger“, der klésa. Unsere Verstrickungen sind so vielfältig, wie Menschen es nun einmal sind. Das wirre Treiben in unserem Kopf, die Kraft der klésa, das Verharren in unnützen Mustern: all das ist normal.
Und optimistisch fügt er hinzu: Es gibt einen Weg heraus aus dieser unbefriedigenden Situation.
heyaṃ duḥkhamanāgatam
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 16
heyaṃ - um zu vermeiden
duḥkham - Leid, Einsxchränkungen
anāgatam - noch nicht eingetreten(es)
Patañjali sagt: Wir leiden und alle unsere Probleme entstehen aus uns selbst. Und zukünftiges Leid kann verhindert werden.
Geschehenes können wir nicht ungeschehen machen, doch wir können immer einen neuen und besseren Anfang wagen. Das Yoga Sūtra gibt dazu auf die folgenden Fragen Antworten:
Wenn sie so oft Probleme bereiten, können wir unsere Verhaltensmuster ändern?
Können wir das, was uns drängt, unterbinden?
Was ist der Weg des Yoga, mit dem Unglücklichsein fertig zu werden?
Der Yoga sagt: Ja, wir haben Einfluss auf unsere Verhaltensmuster. Vor allem können wir jene samskāra, die uns behindern, durch solche ersetzen, die unserem Geist Offenheit und Klarheit geben. Die Āsanapraxis ist ein anschauliches Beispiel dafür. Normalerweise bewegen wir unseren Körper eher unbewusst, hören nicht auf ihn, kennen oft nicht einmal seine Sprache. Wir bringen ihn in Situationen und Positionen, die ihm nicht guttun. Wir benutzen ihn mechanisch und oft falsch. Gegen diese samskāra setzen wir mit einer Āsanapraxis ein anderes, ein nützlicheres samskāra. Gerade auch im Üben wird dabei neuen Mustern gefolgt. Die Regelmäßigkeit, die passende Umgebung, die Schritte hinein in ein Āsana, die Haltung für das Prāṇāyāma, die Schritte in der Meditation, all das sind samskāra, ohne sie würde nicht eine einzige Körperhaltung erlernt werden können. Aufrechte Haltung, zum Beispiel, ist ein samskāra. Aber es engt uns nicht ein, im Gegenteil. Anders als aus dem Gebeugtsein kann sich aus der Aufrichtung heraus einfach und frei in jede gewünschte Richtung bewegt werden. Diese Haltung behindert uns nicht, legt uns nicht einseitig fest, sondern gibt uns alle Möglichkeiten. Und diese Haltung ist gesund, sie zu bewahren, kostet keine Spannung, sie ist ein positives samskāra. Selbstverständlicher achtsam mit sich zu sein ist ebenfalls ein solches samskāra. Und jedes samskāra, so positiv und passend es aktuell auch sein mag, kann sich in ein negatives verwandeln.
Und die vāsana? Wir können sie nicht abschaffen, aber versuchen, sie besser kennenzulernen, um ihr Wirken durchschaubarer zu machen. Auch für sie gilt: Der Standpunkt zu ihnen kann verändert werden.
Und schließlich und vor allem kann die Kraft der klésa verkleinert werden. Zur Überwindung der Macht der klésa und negativen samskāra fügt Patañjali drei Aspekte des Menschseins zu den Grundpfeilern eines Übungswegs hinzu, den er den achtgliedrigen Pfad genannt hat:
den Körper als Mittelpunkt der Praxis der Āsana
den Atem als Mittelpunkt der Praxis des Prāṇāyāma
den Geist als Mittelpunkt der Praxis der Meditation
Auf der Ebene des Körpers, des Atems, des Geistes, genau dort zeigen sich auch die Hindernisse, die uns auf unserem Weg immer wieder stolpern lassen. Und so einmalig und besonders, wie uns die Probleme auch immer wieder vorkommen mögen, mit denen wir konfrontiert sind: die Eile, der Ehrgeiz, die Trägheit, die uns die besten Ausreden finden lässt, der Zweifel an allem, was wir tun, Krankheit und Erschöpfung – alle werden im Yoga Sūtra Patañjalis vor fast zweitausend Jahren bereits benannt.
samādhibhāvanārthaḥ klésatanūkaranārthasśca
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 2
samādhibhāvanārthaḥ - (samādhi) wird entstehen
klésa - was Leid bringt
tanūkaranārtha - abgehobelt, verringert
ca - auch
klésa - was Leid bringt
daurmanasya - lähmende Verzweiflung
aṅgamejayatva - Unruhe des Körpers
śāvāsapraśvāsā - gestörte Atmung
vikṣepa - Zerstreuung
sahabhuvaḥ - Begleiterscheinungen
Der Kern von Patañjalis Übungsweg liegt in der Wiederherstellung der Einheit des Körpers, des Atems und des Geistes. Jedem dieser Aspekte zu den in ihm vorhandenen positiven Möglichkeiten zu verhelfen, und vor allem unseren Geist zu dem wundervollen Werkzeug zu machen, das er für den Menschen sein kann.
Die Vision des Yoga lautet:
Es kann gelingen, die klésa, negative vāsana und samskāra immer weniger zum Wirken kommen lassen und dadurch jene Kraft mehr und mehr zu entfalten, die uns besser, adäquater mit unseren Lebenssituationen umzugehen erlaubt. Die Qualität der Aktivität meines Geistes und damit auch daraus entstehendes Handeln werden statt von avidyā immer mehr von vidyā, Klarheit, geprägt.
tadā draṣṭuḥ svarūpe vasthānam
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 3
tadā - dann
draṣṭuḥ - des Sehers
svarūpe - ihm eigene Form
vasthānam - niederlassen, aufscheinen, hervortreten
Patañjali sieht den Menschen
gebunden, aber voller Möglichkeiten sich zu befreien
leidend, aber des Glücks fähig
voller Zerstörungskraft, aber mächtig, sie zu brechen
unwissend, aber nahe am wirklichen Schauen
Und wenn Patañjali am Ende des Yoga Sūtra Freiheit (kaivalya), als das Ziel des Yogaweges nennt, dann beschreibt er damit jenen Zustand, in dem draṣṭṛ zum Wirken kommt. Freiheit ist nicht irgendein metaphysischer Begriff, sondern die Freiheit der Bewusstheit in uns von der Täuschung, die sie umgibt.
Mehr über Ursprung und Hintergrund des Yoga Sūtra des Patañjali
Über die Entstehung des Yoga Sūtra ist, wie häufig bei Texten der spirituellen Tradition Indiens, nur wenig Sicheres bekannt. Selbst über den Autor Patañjali ist wenig bekannt.
Die Legende erzählt folgende Geschichte: Eine Gruppe von Weisen hatte sich getroffen, um nach der Lösung dreier die Menscheit bedrängenden Fragen zu suchen:
wie können wir uns von Leid befreien?
wie miteinander kommunizieren?
wie erreichen wir ein langes, gesundes Leben?
Als ein Wesen von winziger Gestalt fiel daraufhin einem von ihnen Patañjali in die zum Gebet geöffneten Hände und gab den Weisen Antwort. Patañjali selbst wird in alten Texten als ein Wesen, halb Mensch, halb Schlange beschrieben (Abb. 6).
Verschiedene Indologen vertreten die Auffassung, das Yoga Sūtra sei nicht das Werk eines einzelnen Autors, sondern Ergebnis der Arbeit verschiedener Denker des alten Indiens. Auch die genaue Datierung ist noch immer Gegenstand von Diskussionen. Wahrscheinlich wurde es um die Zeitenwende herum verfasst, sicher nicht später als im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und galt bald danach als das grundlegendste, autoritative Werk über den Yoga.
Trotzdem wurde es nie zu so etwas wie der Heiligen Schrift, einer religiösen Bewegung oder Sekte, ganz anders als etwa die Bhagavad Gītā, verschiedene Upanischaden oder die Veden.
Wie alle großen Texte wurde auch das Yoga Sūtra immer wieder kommentiert. Diese Kommentare, manche fast so alt wie das Yoga Sūtra selbst, sind in der Tradition wichtige Hilfen, die sehr kurzen und auf das Nötigste beschränkten Sūtren zu erläutern und Fragen an den Text zu beantworten.
Der älteste Kommentar, der YogaBhāshya, wird Vyāsa zugeschrieben und ist im 7. Jahrhundert entstanden. Ihm folgte zweihundert Jahre später Vācaspatimishra mit dem Tattva Vāishāradi. Und es war wohl um das 11. Jahrhundert herum, als Bhoja neben dem Regieren des Königreiches Dhara noch Zeit und Muße blieb, sich dem Yoga Sūtra zu widmen und es zu kommentieren.
Wörtlich übersetzen lassen sich die 195 Verse des Yoga Sūtra, das ja in einem viel gerühmten wunderschönen Sanskrit abgefasst ist, kaum. Das liegt hauptsächlich daran, dass viele Begriffe des Sanskrit ganze Bedeutungsfelder und nicht nur ein Wort beschreiben.
Gerade zentrale Begriffe des Yoga Sūtra könnten lexikalisch, wörtlich sehr unterschiedlich übersetzt werden. Um uns ihren Sinn trotzdem zu erschließen, müssen sie in den Zusammenhang des ganzen Textes eingebettet werden.
Sūtra heißt Faden, ein Leitfaden, der erst dann zum Leben erwacht, wenn er dazu dient, der persönlichen Unterweisung im Unterricht Grundlage und Richtschnur zu sein. Die Bedeutung dieses Textes eröffnet sich erst dann wirklich, wenn er benutzt wird, um Anregungen zu geben für die Antwort auf Fragen, die uns ganz persönlich bewegen. So bleibt jeder Übersetzungsversuch ein Kompromiss und ist immer auch schon wieder Kommentar. ▼
Patañjali beschreibt das Wesen des Menschseins in den Sūtren, in denen er den achtgliedrigen Weg des Yoga erklärt.
Zunächst sehen wir einen Menschen so, wie wir ihm begegnen:
Wie verhält er sich uns, anderen gegenüber?
Ist er friedfertig oder gewalttätig?
Ist er aufrichtig oder betrügt er?
Vergreift er sich an Dingen, die ihm nicht gehören, oder respektiert er andere.
Hält er fest an dem, was er sucht, oder lässt er sich durch einfache Lösungen ablenken?
Patañjali sieht den Menschen also zunächst als ein Wesen, das Kontakt zu anderen hat, das kommuniziert und seine innere Haltung im Zusammenleben mit anderen Wesen ausdrückt. Lernen wir diesen Menschen näher kennen, so können wir erfahren, wie er mit sich selbst umgeht. Ein Thema, welches Patañjali unter den sogenannten niyama weiter erörtert. Patañjali definiert den Menschen zunächst als ein Wesen, das handelt, tätig ist, aktiv und bewirkend. So führt er uns näher an den Menschen heran. Er unterscheidet Körper, Atem und die Sinne. Weiter im Innen sieht er citta, das, was man als Geist bezeichnen könnte. Schließlich benennt Patañjali den Kern des Menschen. Eine Instanz in uns, die richtig erkennen, die Welt und uns selbst so sehen kann, wie sie wirklich sind. Er verwendet dafür das Wort draṣṭṛ – wörtlich: das, was sieht. Gelegentlich gebraucht er dafür auch noch einen anderen Begriff puruṣa, was übersetzt so viel heißt wie: der Bewohner der Stadt.
Das menschliche Leben ist für Patañjali ein Zusammenspiel dieser Aspekte. Sein Interesse gilt dabei primär dem Geist, citta und der Rolle, die ihm in diesem Spiel zukommt. Dieses citta ist im Yoga die Instanz im Menschen, in der Gefühle, Intellektualität, Bewusstes, Unbewusstes, Unterbewusstes, Träume, Fantasien, Wünsche und Wahrnehmungen stattfinden.
Darin gibt es zunächst einen aktiven Teil. Schließt man die Augen, kann es mit etwas Übung gelingen, diesem Teil des Geistes ein wenig bei der Arbeit zuzuschauen. Immer in Bewegung, meist von einem zum anderen springend, oft rastlos, oft ziellos. Aber auch fähig, konzentriert und klar zu sein.
Und es gibt den Teil des citta, der größtenteils passiv bleibt, obwohl er jederzeit aktiv werden kann. Es sind Strukturen und Verhaltensmuster, die erst dann in Aktion treten, wenn die Umstände es erfordern. Wenn sie nicht benötigt werden, schlafen sie gleichermaßen. Sie sind das Ergebnis von Aktivitäten, Spuren, die frühere Handlungen hinterlassen haben. Diesen Teil des Geistes nennt der Yoga samskāra, wörtlich: das, was aus allem vorhergehenden Handeln entsteht. Jedes Bewegungsmuster, jedes Erkennen, jedes sich Zurechtfinden enthält unterschiedlichste samskāra.
Ähnlich wie die samskāra gibt es darüber hinaus noch Muster, die wir nicht erworben haben, sondern mit denen wir auf die Welt gekommen sind: die Vāsana.
Schließlich wirken noch die Strukturen auf unseren normalerweise stets aktiven Geist, die unser Denken und Fühlen in ganz bestimmte Richtungen lenken und manchmal auch dorthin drängen. Sie bewirken, dass wir Dinge nicht richtig verstehen, dass wir uns an etwas klammern, dass wir Dinge ablehnen und in Angst vor dem Tod leben. Patañjali bezeichnet sie programmatisch als klésa, wörtlich: das, was Leiden verursacht.
Die Vorstellung des Yoga über die Struktur unseres Geistes ist komplex.
Hinzu kommt, dass dieser Geist nicht als in sich geschlossenes System gesehen wird, sondern mit der Außenwelt über die Sinne eng verbunden ist. Mehr noch: Normalerweise scheint unser Geist abhängig von unseren Sinnen zu sein. Sehen wir etwas, hören, riechen, schmecken oder tasten wir etwas, so reagiert citta scheinbar zwangsläufig darauf in festgeschriebenen Mustern.
Ein einfaches Beispiel:
Man geht schlendernd nach Hause, im Schaufenster einer Boutique sieht man einen Mantel. Plötzlich werden Gedanken, die einen eben noch beschäftigten, verdrängt von dem Bedürfnis, diesen Mantel genauer anzusehen und ihn am nächsten Tag kaufen zu wollen.
Was ist passiert?
Der Blick hat den Geist schnell und mächtig auf etwas gelenkt, es finden Einteilungen statt, Bedürfnisse entstehen, werden vielleicht verworfen oder bekräftigt. Diese Ausrichtung kann sich im nächsten Augenblick ebenso schnell wieder ändern, spätestens wenn ein wütender Autofahrer bremsen muss, weil man gedankenverloren und unachtsam die Straße überquert. Patañjali beschreibt dies als unseren Normalzustand:
Ohne dass es bewusst wahrgenommen wird, wird der Geist hierhin und dorthin gelenkt. Oft sind es, wie im Beispiel, die Sinne, die ihm eine bestimmte Richtung geben. Aber auch Erinnerungen oder Fantasien, die ohne Zutun aufsteigen, haben diese Kraft. Die Situation ähnelt der eines Pferdefuhrwerks, in dem die Pferde die Richtung bestimmen und nicht der Kutscher. Die Pferde suchen nach Futter, rennen los und der Kutscher kann gerade dafür sorgen, dass während dieser rasanten Fahrt nicht allzu viel Unheil geschieht. Aber es kann auch anders ablaufen.
Ein weiteres Beispiel:
Eine wichtige Entscheidung steht an. Soll die angebotene neue Arbeit angenommen werden? Ich sorge für Ruhe, versuche offen zu sein für alle Gedanken und Gefühle, die mich dafür und dagegen einnehmen, mache mich ihrer bewusst, spüre, was mich zur einen oder anderen Seite neigen lässt, finde Abstand und treffe dann eine Entscheidung.
Citta kann also so oder so – citta ist weder gut noch schlecht.
Nach Patañjali ist der Geist neutral. Er ist ein Werkzeug, ähnlich wie ein Messer, das man zum Schälen von Äpfeln oder zum Töten eines Menschen benutzen kann. Nur durch seine Aktivität selbst erkennen wir, dass wir einen Geist haben.
Auch in Europa hat die Suche nach dem Verstehen des Zusammenhanges von Geist und Sinnen zu Modellen geführt, die dem Patañjalis ähnelten (Abb. 2). Hier das Modell Giordano Brunos, das im 16. Jahrhundert versuchte, Licht auf das Funktionieren unseres Geistes zu werfen: Der Geist umgeben von den Sinnen.
Wenn der Yoga diesen Aspekt unseres Geistes beschreibt, dann beschreibt er unser geistiges Handeln. Wir erkennen etwas richtig oder wir täuschen uns. Wir können uns an die glückliche Zeit der ersten Liebe erinnern oder an das bittere Ende einer Beziehung. Mithilfe unserer Fantasie können wir Luftschlösser auf Wolken bauen, aus denen wir unsanft zu Boden stürzen, oder wie Einstein die Relativitätstheorie entwickeln.
Es gibt fünf Aktivitäten des Geistes, die ebenso Leid verursachen wie frei von Leid sein können.
pramāna viparyaya vikalpa nidrā smrtayah
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 6
Die fünf Aktivitäten, vriti, sind: richtige Wahrnehmung, falsche Wahrnehmung, Vorstellungskraft, traumloser Schlaf und unser Erinnerungsvermögen.
Klésa
Warum sind wir oft so unklar, unbewusst, hastig und oberflächlich? Warum entscheiden und handeln wir so, dass wir an den Folgen, die sich daraus ergeben, leiden, unglücklich sind? Der Grund liegt nach Patañjali in der Struktur des citta, die er klésa nennt und die sich in fünf Aspekten zeigen.
Die klésa, so der Yoga, sind in jedem Menschen aktiv. Nicht alle fünf ständig und gleichzeitig oder gleich stark, nicht in jedem Menschen in gleichem Maße, aber in jedem Menschen vorhanden und sein Handeln bestimmend. Sie können Leid verursachen, wie frei von Leid sein. Sie drängen nach Ausdruck, sie drängen uns zu handeln, sie haben es eilig und machen uns eilig, sie halten citta in Trab.
Die klésa lassen sich aus dem folgenden Sūtra herauslesen:
avidyāsmitārgadveṣābhiniveśāḥ klésaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 3
avidyā - Unwissenheit, falsche Gewissheit, falsches Annehmen
asmitā - Selbstsucht, falsches Selbstbild, Egozentrik
rāga - Verlangen, Gier, Behalten wollen
dveṣā - Ablehnung, Aggression, Intoleranz
abhiniveśāḥ - Existenzangst, Angst vor dem Tod, Irrglaube an ewige Gesundheit und ewiges Leben
Sind die Klésa unsere Emotionen?
Nein, aber oft sind unsere Emotionen so eng mit den klésa verbunden, dass sie untrennbar erscheinen. Wir können z. B. lieben, ohne besitzen zu wollen, aber meistens lassen wir das, was wir lieben, nicht los. Eine Emotion, die mich in der Hand hat, ist aus der Sicht des Yoga immer ein klésa.
Wie sehr identifiziere ich mich mit der Emotion, die mich gerade packt; bilde ich mir ein, dieses Gefühl zu sein?
Oder kann ich noch wahrnehmen und in meinem Handeln wirksam werden lassen, dass auch diese Emotion etwas Veränderbares ist?
Hat die Wut mich oder kann ich sehen (und ausdrücken) „ich habe aber eine Wut“?
Yoga fragt also nach dem Standpunkt, der zu einem inneren Prozess und Bewegungen des Citta eingenommen wird, und sagt:
der Mensch leidet
weil in ihm die klésa wirken
dieses Leiden kann überwunden werden
Patañjali definiert im folgenden Sūtra Yoga so: Yoga ist das zur Ruhe kommen aller ungerichteten Bewegungen des Geistes.
Patañjali schreibt nicht: ścittanirodhaḥ – also nicht der Geist soll unterbunden werden. Er sagt: ścittavṛttinirodhaḥ – sondern seine sich normalerweise überschlagenden Aktivitäten sollen unterbunden werden. Nicht nur Vyāsa, der erste Kommentator des Yoga Sūtra, hat auf diesen Unterschied hingewiesen. Der Geist ist immer aktiv und wird gebraucht, besonders um tiefgreifende Weisheit zu erkennen.
yogaścittavṛttinirodhaḥ bedeutet daher immer zwei Dinge:
das Zur-Ruhe-Kommen der durch die klesha getriebenen vṛtti.
die Fähigkeit, sich auf Eines ausrichten zu können und dabei zu helfen, das zu sehen, was ist: die Wirklichkeit, vielleicht uns selbst, vielleicht Gott.
Patañjalis Bild unseres Geistes (Abb. 3): Sein aktiver Bereich, die vrtti, die Sinne, die samskāra und die vāsana. Schließlich noch die klésa, die sich mit jeder Bewegung des Geistes verbinden können.
Im Yoga Sūtra werden die Klésa weiter ausdifferenziert. Dabei sind ihm Vorstellungen wie „Sünde“ fremd. Meist ist es rāga, das zum Yogaweg führt.
wir wollen gesund werden
einen klaren Geist haben
ein Āsana so gut ausführen können wie unser Lehrer/in
Erleuchtung erreichen – natürlich möglichst schnell und dauerhaft.
Ohne rāga wäre dieser Weg gar nicht erst begonnen worden. Nach Patañjali ist das erst der Anfang, seine Frage lautet:
Wie bleibt man gegenüber diesen Zielen offen, insbesondere, wenn das Ziel nicht erreicht wird? Kann man trotzdem mit dem, was ist, glücklich sein oder werden? Wie sehr lässt man sich von festen Vorstellungen einfangen und einengen, und wie frei kann man bleiben?
Vielleicht führen die klésa tatsächlich ins unglücklich Fühlen, aber gibt es nicht Menschen, die gerne leiden, ihr Leiden genießen, deren Glück das Unglücklichsein ist?
Der Yoga sagt dazu eindeutig nein. Patañjali definiert dieses Gefühl der Unzufriedenheit als etwas, das nach einem Ausweg verlangt. Er nennt es duḥkha und steht für einen engen, dunklen Raum (eine mögliche Übersetzung). Und meint damit etwas, was einengt und das Herz zuschnürt. Empfunden als Zustand, in dem man nicht bleiben möchte.
Jeder versucht auf verschiedene Weisen, weniger in duḥkha gefangen zu sein. Manchmal behaupten wir sogar, dass wir uns in duḥkha besonders wohlfühlen. Für Patañjali ist dies eine der vielen Formen von avidyā, einem tiefgreifenden Missverständnis uns selbst gegenüber.
So wie ein Fuß Spuren im weichen Sand hinterlässt, prägen sich die Folgen unseres Handelns in unseren Geist ein und prägen unser weiteres Tun. Halten wir nicht an ihnen fest, kann die Klarheit unseres inneren Wesens durchscheinen und der Geist dient uns als durchlässiges Medium, was nicht mehr verfärbt, sondern spiegelt (Abb. 4).
Duḥkha
Aber es gibt doch kein Leben ohne Schmerz, sei er nun körperlich oder seelisch. Freude wie Schmerz gehören doch zum Leben – oder?
So wie im Yoga Sūtra zwischen Emotionen und den klésa unterschieden wird, so wird auch zwischen Schmerz und duḥkha unterschieden: Jeder Verlust, jeder Schmerz kann dazu führen, dass duḥkha entwickelt wird. Allerdings muss das nicht zwangsläufig so sein. Wie sonst könnte Wachstum aus solchen Situationen erklärt werden, wenn nicht durch die Unterscheidung zwischen duḥkha und Schmerz?
Ich kann Schmerz empfinden, ohne davon besorgt zu sein. Ich kann den herannahenden Tod akzeptieren. Ich kann den Verlust einer geliebten Person spüren, ohne mich darin zu verlieren. Sicherlich gibt es Schmerzen, die einen Menschen zunächst überwältigen. Aber wenn diese Situation keine vorübergehende Episode bleibt, müssen wir damit umgehen.
Yoga bietet einen Weg, der in schwierigen Situationen die mögliche Freiheit aufzeigt
Der wichtigste Text des Sāṃkhya, die philosophische Grundlage des Yoga Sūtra, beginnt mit dem Satz: Aus duḥkha entsteht die Suche nach den Mitteln, es zu beenden.
Es ist duḥkha selbst, das uns zum Yogaweg führt. Oft ist es der erste Schritt eines Menschen, der sich dem Yoga zuwendet, der durch Wunsch oder Unzufriedenheit motiviert wird. So, wie es ist, soll es nicht bleiben.
Deshalb wird sich jemand Zeit nehmen, auch gegen Widerstände regelmäßig zu üben, um sich am erwünschten Erfolg zu erfreuen. Glücklicherweise stellen viele fest, dass in diesem Prozess immer wieder neue und andere Motivationen auftauchen, sich neue und andere Ziele formulieren. So entsteht auf diesem Weg, aus der Auseinandersetzung mit sich selbst, etwas jeweils Besonderes, Individuelles. Jeder Schritt eröffnet eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten.
Was ist es genau in uns, das sich unzufrieden fühlt, was genau stellt fest: Ich bin unglücklich oder die Wut hat mich gepackt oder ich halte etwas fest, und möchte es nicht mehr loslassen?
Wir sind in der Lage, solche Feststellungen zu treffen, weil es in uns eine Instanz gibt, die Patañjali Seher oder draṣṭṛ nennt. Dies ist Fix- und Ausgangspunkt, von dem aus wir uns selbst beobachten, klar sehen können. Nur von dort aus können wir erkennen, dass die klésa uns beherrschen. Der Seher nimmt wahr, wie die klésa ihn binden und duḥkha als dunklen Raum empfindet, der ihm die Sicht nimmt.
Patañjali erklärt, dass die wesentliche Fähigkeit ungenutzt bleibt, wenn die klésas aktiv am Wirken sind. Je dünner die überlagernde Schicht (klésa) ist, die diese Bewusstseinsinstanz verdeckt, desto klarer wird die Wahrnehmung, der freie Blick werden.
Was die Kraft dieses Sehers aus der Sicht des Yoga besonders begrenzt und uns unfrei macht, ist das Festhalten an unguten Mustern. All unsere Handlungen hinterlassen Spuren in der Struktur unseres Geistes. Er organisiert sich dabei mehr und mehr so, dass die Handlungen von gestern als die Norm für heute akzeptiert werden. Er versucht, daran festzuhalten.
Diese Muster finden ihren Ausdruck nicht nur im Geist, sondern auch dort, wo der Geist den Körper organisiert. Woran erkennt man einen Menschen wieder, den man lange Jahre nicht gesehen hat? Viel weniger an der Farbe der Augen, der Länge der Nase, sondern vor allem auch an der Art und Weise, wie er die Kaffeetasse hebt, wie er die Schultern zusammenzieht, wenn das Gespräch schwierig wird oder beim Sprechen gestikuliert.
Der Yoga beschreibt solche Festlegungen unserer Wahrnehmung und unseres Handelns mit dem Begriff samskāra.
Noch einmal: Muster sind nicht an sich schlecht oder gut.
Überquert man in Deutschland eine Straße, sollte man erst nach links und dann rechts geschaut werden. Richte ich mich in Indien danach, so ist das wegen des Linksverkehrs kein guter Rat; Muster. Das samskāra „erst links, dann rechts“ ist also nicht per se falsch, sondern wird es erst, wenn indische Verhältnisse für deutsche genommen werden. Yogisch ausgedrückt: Es herrscht avidyā (falsche Annahme).
Neben den samskāra gibt es noch die vāsana. Wir sind keine unbeschriebenen Blätter, wenn wir zum ersten Mal schreien. Wir treten mit bestimmten persönlichen Eigenheiten ins Leben. Aufmerksame Eltern können dies insbesondere beim Vergleich von Geschwisterkindern früh feststellen. Das Eine gibt gerne und kümmert sich stets darum, dass alle Kinder in der Umgebung versorgt sind. Das Andere stellt sich selbst immer an die erste Stelle.
Diese vāsana sind für uns wie eine zweite Haut. Übersetzt bezeichnet der Begriff in etwa »das, was bleibt«.
Warum diese Eigenschaften existieren, darauf gibt der Yoga Patañjalis keine Antwort. Als Erklärungsmodell für solche überraschenden Erfahrungen haben der Vedānta, die Philosophie, die dem Hinduismus zugrunde liegt, und andere Weltanschauungen die Reinkarnationstheorie entwickelt. In ihr nimmt ein Wesen Eigenschaften aus einem früheren Leben in das nächste Leben mit, wenn es wiedergeboren wird. Auch im ältesten Kommentar zum Yoga Sūtra, dem von Vyāsa, finden sich nur die knappe Bemerkung: „Wir können nicht wissen, woher diese vāsana stammen“.
Vṛtti, klésa, samskāra und die vāsana prägen die Struktur unseres Geistes und damit uns als Person. Aber nicht jeder Mensch ist wie der andere, obwohl die Struktur und Funktionsweise des Geistes aus der Sicht des Yoga qualitativ nicht unterschiedlich bei dem einen oder anderen Menschen sind. Der jeweilige Geist ist dennoch verschieden, von Person zu Person. Verschieden aufgrund der Unterschiedlichkeit und Individualität der samskāra und der vāsana.
Sind die vrtti ruhig und ausgerichtet und die klésa wenig aktiv, kann die Fähigkeit des Sehers, drshtr, in uns seine Kraft entfalten. Sind die vrtti ohne Ordnung und die klésa sehr aktiv, verdunkeln sie die Fähigkeit des draṣṭṛ, unsere Wahrnehmung ist begrenzt (Abb. 5).
Je dünner die Schicht wird, die diese Instanz der Bewusstheit bedeckt, desto deutlicher ist auch ihre Wahrnehmung.
Diese Unterschiede tragen bei zur Ausprägung, zum konkreten Gesicht der „Dränger“, der klésa. Unsere Verstrickungen sind so vielfältig, wie Menschen es nun einmal sind. Das wirre Treiben in unserem Kopf, die Kraft der klésa, das Verharren in unnützen Mustern: all das ist normal.
Und optimistisch fügt er hinzu: Es gibt einen Weg heraus aus dieser unbefriedigenden Situation.
heyaṃ duḥkhamanāgatam
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 16
heyaṃ - um zu vermeiden
duḥkham - Leid, Einsxchränkungen
anāgatam - noch nicht eingetreten(es)
Patañjali sagt: Wir leiden und alle unsere Probleme entstehen aus uns selbst. Und zukünftiges Leid kann verhindert werden.
Geschehenes können wir nicht ungeschehen machen, doch wir können immer einen neuen und besseren Anfang wagen. Das Yoga Sūtra gibt dazu auf die folgenden Fragen Antworten:
Wenn sie so oft Probleme bereiten, können wir unsere Verhaltensmuster ändern?
Können wir das, was uns drängt, unterbinden?
Was ist der Weg des Yoga, mit dem Unglücklichsein fertig zu werden?
Der Yoga sagt: Ja, wir haben Einfluss auf unsere Verhaltensmuster. Vor allem können wir jene samskāra, die uns behindern, durch solche ersetzen, die unserem Geist Offenheit und Klarheit geben. Die Āsanapraxis ist ein anschauliches Beispiel dafür. Normalerweise bewegen wir unseren Körper eher unbewusst, hören nicht auf ihn, kennen oft nicht einmal seine Sprache. Wir bringen ihn in Situationen und Positionen, die ihm nicht guttun. Wir benutzen ihn mechanisch und oft falsch. Gegen diese samskāra setzen wir mit einer Āsanapraxis ein anderes, ein nützlicheres samskāra. Gerade auch im Üben wird dabei neuen Mustern gefolgt. Die Regelmäßigkeit, die passende Umgebung, die Schritte hinein in ein Āsana, die Haltung für das Prāṇāyāma, die Schritte in der Meditation, all das sind samskāra, ohne sie würde nicht eine einzige Körperhaltung erlernt werden können. Aufrechte Haltung, zum Beispiel, ist ein samskāra. Aber es engt uns nicht ein, im Gegenteil. Anders als aus dem Gebeugtsein kann sich aus der Aufrichtung heraus einfach und frei in jede gewünschte Richtung bewegt werden. Diese Haltung behindert uns nicht, legt uns nicht einseitig fest, sondern gibt uns alle Möglichkeiten. Und diese Haltung ist gesund, sie zu bewahren, kostet keine Spannung, sie ist ein positives samskāra. Selbstverständlicher achtsam mit sich zu sein ist ebenfalls ein solches samskāra. Und jedes samskāra, so positiv und passend es aktuell auch sein mag, kann sich in ein negatives verwandeln.
Und die vāsana? Wir können sie nicht abschaffen, aber versuchen, sie besser kennenzulernen, um ihr Wirken durchschaubarer zu machen. Auch für sie gilt: Der Standpunkt zu ihnen kann verändert werden.
Und schließlich und vor allem kann die Kraft der klésa verkleinert werden. Zur Überwindung der Macht der klésa und negativen samskāra fügt Patañjali drei Aspekte des Menschseins zu den Grundpfeilern eines Übungswegs hinzu, den er den achtgliedrigen Pfad genannt hat:
den Körper als Mittelpunkt der Praxis der Āsana
den Atem als Mittelpunkt der Praxis des Prāṇāyāma
den Geist als Mittelpunkt der Praxis der Meditation
Auf der Ebene des Körpers, des Atems, des Geistes, genau dort zeigen sich auch die Hindernisse, die uns auf unserem Weg immer wieder stolpern lassen. Und so einmalig und besonders, wie uns die Probleme auch immer wieder vorkommen mögen, mit denen wir konfrontiert sind: die Eile, der Ehrgeiz, die Trägheit, die uns die besten Ausreden finden lässt, der Zweifel an allem, was wir tun, Krankheit und Erschöpfung – alle werden im Yoga Sūtra Patañjalis vor fast zweitausend Jahren bereits benannt.
samādhibhāvanārthaḥ klésatanūkaranārthasśca
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 2
samādhibhāvanārthaḥ - (samādhi) wird entstehen
klésa - was Leid bringt
tanūkaranārtha - abgehobelt, verringert
ca - auch
klésa - was Leid bringt
daurmanasya - lähmende Verzweiflung
aṅgamejayatva - Unruhe des Körpers
śāvāsapraśvāsā - gestörte Atmung
vikṣepa - Zerstreuung
sahabhuvaḥ - Begleiterscheinungen
Der Kern von Patañjalis Übungsweg liegt in der Wiederherstellung der Einheit des Körpers, des Atems und des Geistes. Jedem dieser Aspekte zu den in ihm vorhandenen positiven Möglichkeiten zu verhelfen, und vor allem unseren Geist zu dem wundervollen Werkzeug zu machen, das er für den Menschen sein kann.
Die Vision des Yoga lautet:
Es kann gelingen, die klésa, negative vāsana und samskāra immer weniger zum Wirken kommen lassen und dadurch jene Kraft mehr und mehr zu entfalten, die uns besser, adäquater mit unseren Lebenssituationen umzugehen erlaubt. Die Qualität der Aktivität meines Geistes und damit auch daraus entstehendes Handeln werden statt von avidyā immer mehr von vidyā, Klarheit, geprägt.
tadā draṣṭuḥ svarūpe vasthānam
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 3
tadā - dann
draṣṭuḥ - des Sehers
svarūpe - ihm eigene Form
vasthānam - niederlassen, aufscheinen, hervortreten
Patañjali sieht den Menschen
gebunden, aber voller Möglichkeiten sich zu befreien
leidend, aber des Glücks fähig
voller Zerstörungskraft, aber mächtig, sie zu brechen
unwissend, aber nahe am wirklichen Schauen
Und wenn Patañjali am Ende des Yoga Sūtra Freiheit (kaivalya), als das Ziel des Yogaweges nennt, dann beschreibt er damit jenen Zustand, in dem draṣṭṛ zum Wirken kommt. Freiheit ist nicht irgendein metaphysischer Begriff, sondern die Freiheit der Bewusstheit in uns von der Täuschung, die sie umgibt.
Mehr über Ursprung und Hintergrund des Yoga Sūtra des Patañjali
Über die Entstehung des Yoga Sūtra ist, wie häufig bei Texten der spirituellen Tradition Indiens, nur wenig Sicheres bekannt. Selbst über den Autor Patañjali ist wenig bekannt.
Die Legende erzählt folgende Geschichte: Eine Gruppe von Weisen hatte sich getroffen, um nach der Lösung dreier die Menscheit bedrängenden Fragen zu suchen:
wie können wir uns von Leid befreien?
wie miteinander kommunizieren?
wie erreichen wir ein langes, gesundes Leben?
Als ein Wesen von winziger Gestalt fiel daraufhin einem von ihnen Patañjali in die zum Gebet geöffneten Hände und gab den Weisen Antwort. Patañjali selbst wird in alten Texten als ein Wesen, halb Mensch, halb Schlange beschrieben (Abb. 6).
Verschiedene Indologen vertreten die Auffassung, das Yoga Sūtra sei nicht das Werk eines einzelnen Autors, sondern Ergebnis der Arbeit verschiedener Denker des alten Indiens. Auch die genaue Datierung ist noch immer Gegenstand von Diskussionen. Wahrscheinlich wurde es um die Zeitenwende herum verfasst, sicher nicht später als im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung und galt bald danach als das grundlegendste, autoritative Werk über den Yoga.
Trotzdem wurde es nie zu so etwas wie der Heiligen Schrift, einer religiösen Bewegung oder Sekte, ganz anders als etwa die Bhagavad Gītā, verschiedene Upanischaden oder die Veden.
Wie alle großen Texte wurde auch das Yoga Sūtra immer wieder kommentiert. Diese Kommentare, manche fast so alt wie das Yoga Sūtra selbst, sind in der Tradition wichtige Hilfen, die sehr kurzen und auf das Nötigste beschränkten Sūtren zu erläutern und Fragen an den Text zu beantworten.
Der älteste Kommentar, der YogaBhāshya, wird Vyāsa zugeschrieben und ist im 7. Jahrhundert entstanden. Ihm folgte zweihundert Jahre später Vācaspatimishra mit dem Tattva Vāishāradi. Und es war wohl um das 11. Jahrhundert herum, als Bhoja neben dem Regieren des Königreiches Dhara noch Zeit und Muße blieb, sich dem Yoga Sūtra zu widmen und es zu kommentieren.
Wörtlich übersetzen lassen sich die 195 Verse des Yoga Sūtra, das ja in einem viel gerühmten wunderschönen Sanskrit abgefasst ist, kaum. Das liegt hauptsächlich daran, dass viele Begriffe des Sanskrit ganze Bedeutungsfelder und nicht nur ein Wort beschreiben.
Gerade zentrale Begriffe des Yoga Sūtra könnten lexikalisch, wörtlich sehr unterschiedlich übersetzt werden. Um uns ihren Sinn trotzdem zu erschließen, müssen sie in den Zusammenhang des ganzen Textes eingebettet werden.
Sūtra heißt Faden, ein Leitfaden, der erst dann zum Leben erwacht, wenn er dazu dient, der persönlichen Unterweisung im Unterricht Grundlage und Richtschnur zu sein. Die Bedeutung dieses Textes eröffnet sich erst dann wirklich, wenn er benutzt wird, um Anregungen zu geben für die Antwort auf Fragen, die uns ganz persönlich bewegen. So bleibt jeder Übersetzungsversuch ein Kompromiss und ist immer auch schon wieder Kommentar. ▼