Fragen dazu an T.K.V. Desikachar
Viveka – Beinhaltet das Wort praṇidhāna eine bestimmte Haltung, mit der ich versuchen werde, mich mit dieser Quelle der Weisheit in Beziehung zu setzen?
Desikachar – Ja. Ohne Vertrauen in diese Kraft īśvara werde ich mich nicht fragend an sie wenden, mich nicht mit ihr in Verbindung setzen, und damit auch keinen Teil der Qualität erhalten, für die diese Kraft steht. Es ist wie das Vertrauen in meinen Arzt, wie mein fester Glaube daran, dass dieser Arzt weiß, was er tut. Die Tatsache, dass ich zu jemandem gehe und Hilfe ersuche, dass er sich öffnet und mir hilft, all das ist in dem Begriff praṇidhāna enthalten. Dabei muss ich als Erstes immer davon ausgehen, dass es etwas gibt, was ich nicht weiß. Zweitens muss ich dieses verstehen wollen. Sonst benötige ich keine Hilfe. Als Drittes ist eine Quelle notwendig, die mir zugänglich ist und die mir genau das geben kann, was ich brauche. Und viertens bedarf es einer Haltung gegenüber dieser Quelle, die von Demut und Akzeptanz geprägt ist.
Viveka – Wie sehr ist der Gedanke īśvarapraṇidhāna unerlässlicher Bestandteil in Patañjalis Verständnis von Yoga?
Desikachar – Patañjali verpflichtet niemanden, dem Prinzip von īśvarapraṇidhāna zu folgen. Īśvarapraṇidhāna ist eine der Möglichkeiten, die zur Auswahl gestellt werden. Es gibt noch ganz andere Wege, die man versuchen kann. Patañjali drückt das durch das Wort „oder“(vā) aus, mit dem das erste Sūtra über īśvarapraṇidhāna schließt (YS, 2. Kapitel – Sūtra 23). Wir sollten jedoch bedenken, dass es im Yoga Sūtra ganz offensichtlich eine Reihenfolge bezüglich der Mittel gibt, die uns bei der Klärung unseres Geistes helfen können. Patañjali sagt nicht, wir sollten dieses und jenes ausprobieren, bevor er īśvarapraṇidhāna vorschlägt. Er beginnt vielmehr mit īśvarapraṇidhāna. Zuvor äußert er zwar ganz allgemein, dass man eine Richtung haben muss, wenn man etwas im Leben erreichen möchte, aber noch hat man von ihm nicht erfahren, wie man ans Ziel gelangen kann. Der erste Vorschlag, den Patañjali dann in diesem Zusammenhang macht, ist īśvarapraṇidhāna. Dieser Vorschlag bleibt nicht der Einzige, aber ich würde sagen, im Zusammenhang mit den anderen Sūtra ist er der wichtigste. Ein Mensch, der sich an diese „Quelle“ wenden kann, wird viele Probleme im Leben verhüten können. Mit gebührendem Respekt für Patañjali kann man sagen, dass dem Vorschlag, sich auf Īśvara zu beziehen, eine Gewichtung beigemessen wird, die sich in all den anderen Lösungsvorschlägen, die Patañjali im Folgenden darstellt, nicht finden lässt. Zum Abschluss möchte ich dazu noch sagen, dass mein Vater und Lehrer T. Krishnamacharya so weit ging zu behaupten, dass īśvarapraṇidhāna heutzutage die einzig wirksame Lösung sei. Das mag für manche Leute hart klingen, aber das war seine Überzeugung. Mein Vater war ein sehr traditioneller und religiöser Mensch. Er hatte großes Vertrauen in Gott. Wahrscheinlich hat er viele verschiedene Dinge in den hundert Jahren seines weit entwickelten Lebens ausprobiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass īśvarapraṇidhāna heute absolut notwendig ist. Dabei bedeutet īśvarapraṇidhāna allerdings nicht nur zu sagen, alles läge eben in Gottes Hand. Die Hinwendung zu īśvara fordert von uns, alles Mögliche zu tun und dann zu akzeptieren, dass das Resultat in Gottes Händen liegt.
Viveka – Yogapraxis definiert sich nach Patañjali über drei Dinge: tapas, svādhyāya und īśvarapraṇidhāna. Was meint in diesem Zusammenhang īśvarapraṇidhāna?
Desikachar – Patañjali hat das menschliche System in einfacher Weise begriffen. Für ihn liegt alles Erleben, Erfahren, Verstehen im Zustand unseres Geistes begründet, sei es gut oder schlecht. Das heißt für den Yogaweg, es muss also immer etwas mit dem Geist geschehen. Eine Veränderung meines Geistes taucht nicht aus dem Nichts heraus auf, sondern ist das Ergebnis eines ganz bestimmten Tuns meinerseits. Auch mein Geist unterliegt dem Wandel; deshalb kann ich ihn ja verändern. Oftmals bemühen wir uns sehr um eine bestimmte Veränderung, und doch tragen unsere Bemühungen keine Früchte oder bringen unerwartete Ergebnisse hervor. Aus diesem Grund sollten wir – so Patañjali – schon ganz zu Beginn unserer Bemühungen um Veränderung unseres Geisteszustands sehr achtsam sein. Natürlich müssen wir handeln und einen Versuch wagen. Bemühung spielt eine große Rolle. Aber immer ist auch das Beobachten notwendig. Ich möchte ganz offen sagen, dass auch der beste Mensch nicht alles in seiner Hand hat. Man kann schwerlich behaupten, man habe jede Situation immer vollständig im Griff. Im Gegenteil, man sollte versuchen, sich in diesem Punkt einen gewissen Freiraum zu bewahren. Er besteht darin, auf Unerwartetes vorbereitet zu sein. Auch das ist īśvarapraṇidhāna. Hier bedeutet īśvarapraṇidhāna also, dass wir nicht davon ausgehen sollten, alles werde sich in gleicher Weise wieder ereignen, wie wir es schon einmal erlebt haben. Wir sind gar nicht in der Lage, alles wahrzunehmen, was um uns herum geschieht, und übersehen viele Dinge. Wir müssen dem Unerwarteten einen Raum gewähren. Das ist mit īśvarapraṇidhāna gemeint. Es bedeutet, dass wir auf das Unerwartete vorbereitet und nicht fassungslos sein sollten, wenn sich etwas ereignet, womit wir nicht gerechnet haben. Auf diese Art und Weise werden unsere Handlungen nicht mechanisch, weil wir immer offen für Veränderungen bleiben. Das mechanische Handeln wird also durch ein achtsames Handeln, ein Handeln gepaart mit Beobachtung, ersetzt. Das ist der Grundgedanke, wenn īśvarapraṇidhāna als ein Teil des Yogaprozesses (kriyāyoga) eingeführt wird.
Viveka – Welche Rolle spielen die Konzepte von īśvarapraṇidhāna in der Vermittlung von Yoga?
Desikachar – Sehen Sie, Yoga ist keine Fertigkeit, sondern Yoga ist Transformation. Das ist ganz entscheidend. Yoga bedeutet nicht, Fähigkeiten zu entwickeln, die einem ermöglichen, einen Kassettenrecorder zu reparieren oder Optiker oder Arzt zu sein. Yoga ist eine Transformation, eine Veränderung des Geistes. Wesentlich dabei ist, dass sich unser Geist von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe hinentwickelt. Wenn mein Geist sich gewandelt hat, dann kann ich meine Fähigkeiten viel besser nutzen. Eine Fähigkeit verleiht mir jedoch niemals Weisheit. Das Anliegen des Yoga ist daher die Umwandlung des Geistes. Dabei spielen die persönlichen Haltungen, die niyama, eine Rolle. Im Verlaufe meiner Entwicklung werden sie immer wichtiger. Ich habe das Gefühl, – und ich möchte Ihnen das ans Herz legen – dass wir heutzutage sehr vorsichtig mit īśvarapraṇidhāna umgehen müssen. Der Begriff ist sehr bedeutungsschwer. Hinzu kommt, dass wir nicht genau sagen können, worin īśvarapraṇidhāna besteht. Es kann das Beten zu Gott sein, die Haltung unseren Handlungen gegenüber, oder es kann darin bestehen, sich einem guten Lehrer, einer Lehrerin anzuvertrauen oder aber ganz etwas anderes. Zur Eile besteht allerdings kein Grund: Wir dürfen dieses Prinzip niemandem aufdrängen. Es wird sich ganz von selbst einstellen. Als Übende und als Lehrer sollten wir damit ganz entspannt umgehen. Als Lehrer werde ich niemals īśvarapraṇidhāna zu einer Voraussetzung für mein Unterrichten machen. Das funktioniert nicht. Ganz langsam wird das Leben jeden irgendwann einmal dazu bringen, īśvarapraṇidhāna ins Auge zu blicken. Es ist eine Frage der Zeit und des richtigen Augenblicks.
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