Die praktische Umsetzung
Nachdem alle persönlichen Informationen ausführlich zur Sprache gekommen sind, wird das Gespräch vermehrt vonseiten der Yogatherapeutin gestaltet. Sie fragt nach dem morgendlichen Zustand. „Da geht es mir noch am besten und auch direkt nach meinem Mittagsschlaf“, danach, was die Klientin in den Zeiten tut, wenn sie „nur liegt“ („Musik hören tut gut, auch mal einen Podcast, lange Telefonate, Videos oder Fernsehschauen ermüden mich sehr“), nach möglichen körperlichen Aktivitäten („Gegen 14.00 Uhr versuche ich, 15 Minuten spazieren zu gehen, die frische Luft und die Bewegung tun mir gut, aber es darf wirklich nicht mehr sein“).
All diese Fragen dienen dazu, aktuell vorhandene Ressourcen zu ermitteln, die individuelle Belastbarkeit festzustellen, und Möglichkeiten zu eruieren, wie die Klientin mobil bleiben und mobiler werden kann.
Die Suche nach den Ressourcen, die zum jetzigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, erscheint in einem solchen deutlich ausgeprägten Fall wie diesem oftmals nicht sehr ergiebig, dennoch ist sie wichtig.
- Zu einem großen Teil ist es hier die Praxis selbst, die hilft, das Maß der Ressourcen zu bestimmen. Denn als Übungsverfahren baut Yoga auf die Wirkungen einer selbstständig geübten Praxis, und dies in mehreren Hinsichten.
- Und es wird die körperliche Ebene ausgelotet. Die gleiche Praxis regt dazu an, sich auf das eigene Tun zu konzentrieren und sich genauer zu beobachten und dies in Bezug auf die positiven Erfahrungen und nicht auf die des Mangels und Misslingens.
All dies trägt dazu bei, dass dort gesammelte Erfahrungen von den betroffenen Menschen als Momente der Kraft identifiziert werden und ein Hinweis darauf sind, sie mehr zu suchen und in Anspruch zu nehmen.
Das Herausfinden der individuellen Belastungsfähigkeit wird von Expert:innen-Seite als eine der wichtigsten Aufgaben beim Umgang mit dem CFS beschrieben, löst doch selbst ein leichtes Überschreiten derselben die sogenannte Posterexertionelle Malaise (PEM), auch Crash genannt aus, wie ihn auch die junge Frau beschreibt. Dies ist umso wichtiger, als mehr und mehr erlebte Crashs den Gesamtzustand immer weiter verschlechtern.
Für einen Praxisvorschlag heißt das z.B. – wie wir auch in diesem Fall sehen werden:
- sehr klare Vorgaben bezüglich der Anzahl der Wiederholungen einzelner Übungen zu machen
- die Dauer der Praxis festzulegen
- die passende Tageszeit für das Üben gemeinsam zu bestimmen.
Im Gespräch selbst dient das Nachfragen der Schärfung des Bewusstseins bei den Klient:innen für deren aktuelle Grenzen und ihrer Aufmerksamkeit für Möglichkeiten, diese nach und nach zu erweitern. Für diesen Bereich sollte das Gespräch, das immer Teil der gesamten Yogabegleitung ist, von besonderer Empathie und Behutsamkeit getragen sein, um Frustrationen zu vermeiden.
Für eine regelmäßig geübte Praxis geht es immer wieder um das richtige Maß der gestellten Anforderungen.
So erfordert Erschöpfung viel Liegen; gleichzeitig führt dies zu einer Trägheit der Kreislaufregulation und zu einer starken Unterforderung des Bewegungssystems, zu verminderter Beweglichkeit bis hin zum Muskelabbau. Ebenso ist die Bedeutung regelmäßiger Bewegung für die Stimmungslage des Menschen durch zahlreiche Untersuchungen belegt.2 Mobil bleiben, wird daher in den Beratungen zum Umgang mit CFS immer wieder betont. Yogapraxis kann hier eine wichtige Rolle spielen, verfügt sie doch über eine Vielzahl von Möglichkeiten, Āsana so zu variieren, dass sie weniger oder mehr Anforderungen an die Übenden stellen. Dabei eignet sich das Prinzip des Vinyāsa krama, also des sinnvoll aufeinander aufbauenden Anwendens von Übungen perfekt, um eine schonende Mobilisierung zu bewirken.
Oft hilft eine regelmäßig geübte Praxis auch dort, wo man ihre Wirkungen nicht unbedingt erwartet, in einem Feld, das jedoch aus Sicht der medizinischen Expert:innen für die Psyche der Betroffenen essenziell ist, nämlich bei der Neubewertung ihrer Tätigkeiten.
Diese Aufgabe mag zu den schwierigsten gehören, die Menschen mit CFS abverlangt werden. Dennoch ist sie angebracht, denn die bitteren Erfahrungen, die diese Krankheit mit sich bringt, verstärken den Stress, der aus einer nicht mehr gelingenden Alltagsbewältigung entsteht; dieser wiederum verstärkt Krankheit und Krankheitserleben, ein schlechter Kreis schließt sich. Dem kann eine Neubewertung der eigenen Tätigkeiten entgegengesetzt werden. Nicht das, was vor der Erkrankung geleistet werden konnte, darf jetzt die Messlatte sein, sondern das, was an guten Tagen möglich war und ist.
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2 z.B. https://www.rki.de/DE/Content/Service/Sozialberatung/BGBL_Krprl_Akt_psych_Gesund.pdf?__blob=publicationFile