Fallbeispiel 2 – Praxis I
Ein junger Mann, Herr S., sehr sportlich und kräftig (schwimmt, fährt Fahrrad, wandert) kommt zu einer Yoga-Kollegin, weil er seit Monaten unter anhaltenden Schmerzen in der linken Schulter leidet. Diagnostisch abgeklärt wurden die Schmerzen durch eine orthopädische Untersuchung, eine Röntgenaufnahme der Schulter und ein Magnetresonanztomogramm (MRT). Die beiden letzten Untersuchungen zeigten keine Auffälligkeiten; im Zusammenhang mit der körperlichen Untersuchung wurde die Diagnose »Schultersyndrom« gestellt. Therapeutisch wurden Injektionen ins Gelenk gegeben sowie Massagen und physiotherapeutische Behandlungen verordnet – alles ohne befriedigende Wirkung.
Herr S. ist Musiker; er spielt ein großes Blasinstrument in einem Orchester. Beim notwendigen langen Üben und durch häufige Konzertauftritte verstärken sich die Schmerzen. Weil dies nun neuerdings auch beim Schwimmen und auch Fahrradfahren der Fall ist, hat er seinen Sport ganz aufgegeben.
Bis zu diesem Punkt der Klientengeschichte unterscheiden sich die Bedingungen für eine therapeutische Yogaintervention unwesentlich von einer Situation, die viele Unterrichtende kennen. Ein Mensch, neu im Yoga und belastet mit dem einen oder anderen Handicap, meldet sich zum Gruppenunterricht an. Im Rahmen eines Kursangebots wären sicherlich die oben beschriebenen Informationen erfragt worden. Sie sprechen dafür, den Klienten mit gutem Gewissen in der Gruppe mitüben zu lassen. Alles, was als Schmerz verursachend oder verstärkend berichtet wurde, was also schadet, könnte in einem kompetenten Yoga-Gruppenunterricht vermieden werden, drei Dinge vorausgesetzt:
- Zum einen müssen Unterrichtende über ein weites Repertoire von Übungsvarianten und nötigenfalls alternativen Āsana verfügen, die anstelle derer geübt werden könnten, die für die gegebene Situation als untauglich erkannt werden.
- Zum zweiten muss die Gruppengröße eine solche individuelle Betreuung im Unterrichten der ganzen Gruppe zulassen.
- Und zum dritten verlangt es Erfahrung, Geduld und Geschick, sich erfolgreich darum zu bemühen, dass der neue Teilnehmer die Vorschläge der Lehrerin, des Lehrers verlässlich annimmt (was manchmal nicht so einfach funktioniert, weil man gerade als »Neuer« in der Gruppe nicht gern auffallen möchte).
Für Yoga als Therapie braucht es allerdings deutlich mehr. Wie im vorherigen Fallbeispiel 1 gründet das weitere Vorgehen auf einer Analyse der relevanten Modalitäten, auf guter Beobachtung und auf der Kunst, durch das Gespräch einen angemessenen Eindruck des konkreten Leidens zu bekommen, das Herrn S. zum Yoga bringt.
Modalitäten
Einige Modalitäten können in diesem Fall schon beschrieben werden:
- Das lange Halten eines schweren Gegenstands mit dem linken Arm (Musikinstrument).
- Das Last-Geben auf die Schulter (Fahrrad), das Anspannen der Schultermuskeln gegen Widerstand (Schwimmen) verstärken die Schmerzen in unterschiedlicher Art und Weise.
Weitere Modalitäten werden gezielt erfragt: Verstärken sich die Schmerzen auch beim kurzzeitigen Tragen schwerer Lasten im Alltag? Nein. Was verbessert? Liegen auf dem Rücken. Aber: Das Liegen auf der Seite verschlechtert. Die Nächte sind unruhig. Und: Auch Stress verschlechtert die Beschwerden. Erträglicher werden die Schmerzen, wenn Herr S. sich durch eine angenehme Sache ablenken kann, und sie bessern sich ebenfalls unter Entspannung.
Körperstrukturen
Gerade bei Beschwerden des Bewegungssystems lassen sich viele wichtige Informationen von der Beobachtung der Bewegungsmuster und Körperstrukturen ableiten. Schon das einfache Anheben der Arme gibt interessante Auskünfte. Herr S. kann den Arm mit der schmerzenden Schulter beschwerdefrei über vorn nur etwa 45 Grad anheben, seitlich aber geht es frei fast ganz nach oben. Rückbeugen aus der Bauchlage sind problemlos möglich, wenn die Arme neben dem Körper bleiben; werden sie mitgenommen, setzt der Schmerz schon mit Beginn der Bewegung ein. Ebenso schmerzt die Schulter bereits im Vierfüßlerstand, auch wenn im apanāsana die Beine am Ende kräftig herangezogen werden; ein leichtes Heranziehen ist aber schmerzfrei möglich. Bei allen weiteren Āsana, die zur Prüfung eingesetzt werden (z. B. śavāsana oder uttānāsana) zeigt sich eine gute Beweglichkeit ohne Schmerzauslösung, der Nacken bleibt bei allen Bewegungen schmerzfrei.
Gespräch
Das Gespräch gestattet einen ersten Blick darauf, wie das gesundheitliche Problem Herrn S. konkret beeinträchtigt, auch welche Befürchtungen und Ängste es auslöst, und wie er die eigenen Möglichkeiten selbstständigen Übens praktisch einschätzt »wie oft, wie viel kann ich üben«.
Ein Klärungs-Prozess beginnt: Was ist bis hierher über die Schmerzen bekannt?
- Verschlechterung: durch Last auf die Schultern (Fahrrad fahren, Abstützen im Vierfüßlerstand), verstärkt durch nach innen Drehen »Innenrotation« der Schultern (Vierfüßler, Fahrrad), durch statisches Halten (Instrument, Fahrrad), durch Verstärkung der Spannung im Schulter-Armbereich (Armheben über vorn, Rückbeugen, Brustschwimmen, kräftiges Üben von apanāsana). Der Stress, der hauptsächlich von der Angst in Bezug auf seine berufliche Perspektive bestimmt wird, verschlechtert sich ebenfalls.
- Verbesserung: durch Liegen auf dem Rücken, aber nicht auf der Seite (Schlafverhalten, śavāsana), durch Ablenkung und durch Entspannung.
Auf dem Hintergrund dieses Wissens lässt sich nunmehr eine erste Übungssequenz entwickeln. Was bisher in Erfahrung gebracht wurde, gibt klare Hinweise darauf, welche Übungen in dem Programm nicht vorkommen sollten. Eben alle, welche die schon bekannten problematischen Anforderungen beinhalten. Also Aufstützen, Heben des Arms über die Schmerzgrenze hinaus, starke Anspannung der Schultermuskulatur, Innenrotation der Schulter unter Zug, statische Kontraktionen der Schultermuskeln. Und: Die Informationen von Herrn S. darüber, welche Modalitäten die Schmerzen reduzieren, geben eines der Ziele vor, die dem Kurs Richtung geben werden: Entspannen, Stress reduzieren. Angemessene Bewegung kann Beschwerden solcher Art lindern, oft auch beseitigen.
Die Schritte
Zunächst – Weglassen, was schadet. Entsprechend werden einige Āsana erst gar nicht in die weiteren Überlegungen einbezogen. Es sind alle, in denen Last auf die Schultern gegeben wird, wie es in vielen Vinyāsa zum Aufwärmen vorkommt. Ungeeignet ist auch cakravākāsana (Vierfüßlerstand) mit oder ohne Anheben eines Beines, da es die Schultern stark belastet. Und es wird darauf verzichtet, statisches Halten für eine der Positionen vorzuschlagen. Wie eigentlich immer bei Schmerzen des Bewegungssystems verschlechtert es auch hier die Beschwerden. Weglassen, was schadet, bezieht sich nicht nur auf konkrete Übungen. Auch der Umgang von Herrn S. mit seinem Problem fließt in diese Entscheidung ein.
Das Gespräch ebenso wie die erfolgte gezielte Beobachtung bestimmter Bewegungen geben oft einen ersten Eindruck davon, wie jemand mit Schmerzen umgeht. Neigt der Klient dazu, sie zu ignorieren?
- Nein, für Herrn S. trifft das nicht zu. Er hat seinen Sport eingestellt und dass er in seinem Beruf die Zähne zusammenbeißt, lässt sich angesichts seiner Sorge um seine Anstellung in einem Orchester gut nachvollziehen.
- Tendiert er dazu, sich ständig mit seinem Leiden zu befassen? Nein, auch diesen Eindruck hat er nicht hinterlassen: Ablenkung verbessert das Schmerzproblem und er wählt diesen Weg auch ganz bewusst.
Diese Informationen sind wichtig und hilfreich. Nur dann ist es sinnvoll, beim Üben seine Aufmerksamkeit auf die Grenzen schmerzfreien Bewegens zu lenken und ihm die Verantwortung anzuvertrauen, selbst seine Ressourcen auszuloten. Wäre er etwa ängstlich, immer auf der Suche nach dem Schmerz, müssten ihm die Ausführung der Übungen anders präsentiert werden. So würde vermieden, ihn auf eine intensive Eigenbeobachtung hin zu motivieren. Und in den Anweisungen zu den einzelnen Übungen würde (noch) nicht darauf vertrauen werden können, dass Herr S. selbst das dafür richtige Maß erkennt.
Jetzt kann ein Programm entwickelt werden, das dabei ersten Hypothesen folgt. Ferner sollte es mit seinen Übungen danach fragen, auf welche Weise die Beschwerden sich tatsächlich beeinflussen lassen. Die Hypothesen in diesem Fall sind:
- Bewegung bessert
- Weiten der Schultervorderseite ebenfalls
Und die Fragen:
- Wie belastbar ist der Klient in den Übungen, welches Niveau an Anforderungen ist das passende zum Einstieg?
- Haben die Übungen für einen jungen, sportlichen Mann das passende Anforderungsniveau?
Es ist denkbar, dass ihm eine Praxis schnell langweilig würde, wenn sie ihn körperlich nicht genügend fordert, wo er doch das Gefühl von Ausgepowert-Sein sehr genossen hat.