Yogatherapie ist Prozess

Yoga als komplementäre Therapieform ­gewinnt ­zunehmend Beachtung. Das zeigen inzwischen viele positive Berichte über die therapeutische Wirkung von Yoga in Publikationen wie dem Deutschen Ärzteblatt.1

1 Zum Herunterladen: Wirksamkeit von körperorientiertem Yoga bei psychischen Störungen (2016) und: Die positive Kraft des Yoga (2014)

Yogatherapie ist Prozess

Yoga als komplementäre Therapieform ­gewinnt ­zunehmend Beachtung. Das zeigen inzwischen viele positive Berichte über die therapeutische Wirkung von Yoga in Publikationen wie dem Deutschen Ärzteblatt.1

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Yogatherapie ist Prozess

Yoga als komplementäre Therapieform ­gewinnt ­zunehmend Beachtung. Das zeigen inzwischen viele positive Berichte über die therapeutische Wirkung von Yoga in Publikationen wie dem Deutschen Ärzteblatt.1

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Einleitung

Umso ­dringender stellt sich die Frage: Was eigentlich sind die wesentlichen ­Bedingungen für eine ­ganzheitliche, ­wirksame und seriöse Yogatherapie? Offensichtlich gehören dazu vonseiten der ­TherapeutInnen Fähigkeiten wie ­Empathie und Yogakompetenz, ­also das ­umfangreiche und tiefe ­Verständnis der ­benutzten Mittel. Auf welche Weise aber lassen sich für das Anliegen eines Menschen schließlich konkret die angemessenen ­Übungen finden, wie eine passende und wirksame Praxis ­entwickeln?

An zwei Beispielen gibt der folgende ­Artikel Antworten: Nur durch konsequente Orientierung an ­einem klug organisierten Prozess kann therapeutisches Handeln als ein Dialog zwischen TherapeutIn und KlientIn verstanden werden. Dieser prozessorientierte Ansatz nimmt ­einen Menschen nicht nur in seinen ­Beschwerden und ­Anliegen ernst, sondern ganz besonders auch in ­seinen Reaktionen auf jede vorgeschlagene ­Praxis.

Die Frage ist also: Auf welche Weise lassen sich für das Anliegen eines Menschen die ihm angemessenen Übungen finden, wie eine passende und wirksame Praxis entwickeln?

Altlasten

Als gänzlich unbrauchbar haben sich dafür die bisweilen immer noch präsentierten Listen erwiesen, die jeder Erkrankung bestimmte Āsana oder Prāṇāyāma-Übungen, manchmal auch eine bestimmte Übungsabfolge zuordnen. Unbrauchbar sind sie nicht nur deshalb, weil sich dabei solche Absurditäten finden wie der Vorschlag, den Kopfstand gegen Kopfschmerzen oder Migräne einzusetzen (sie werden dadurch schlimmer). Oder die Vorwärtsbeuge paścimatānāsana bei einem Leistenbruch – nicht ohne dabei zu »meditieren und die Energie im Bauchraum zu visualisieren«. Ziemlich sicher wird der dadurch provozierte Druck im Bauchraum die Situation verschlechtern. Unbrauchbar sind sie auch deshalb, weil sich für die dort behaupteten Wirkungen von Āsana nicht der geringste Nachweis finden lässt.

Das eigentliche Problem solcher Listen liegt jedoch in einem grundlegenden Missverständnis bezüglich der therapeutischen Wirkung einer Yogapraxis.

Āsana wirken nicht durch die Beherrschung einer bestimmten Form, einer bestimmten Haltung. Sie wirken über die unterschiedlichen Anforderungen, die in ihnen gestellt werden. Und dies auch nicht direkt, sondern im Zusammenspiel mit den besonderen Gegebenheiten und natürlich auch Erwartungen der Person, die übt.

Individualität & Komplexität

Das menschliche System ist so stark von individuell unterschiedlichen Strukturen, die therapeutisch relevanten Wirkebenen von Yogaübungen so sehr von einer komplexen Vielschichtigkeit geprägt, dass ein mechanistisches Denken sie nicht erfassen kann.

Gerade das aber macht Yoga auch als Therapie so wertvoll. Sie spricht einen Menschen gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Ebenen an – mental, seelisch und körperlich. Erst in einem sehr individuellen Zusammenspiel dieser Ebenen formen sich die Wirkungen einer Yogatherapie.

Wie lassen sich nun angesichts dieses Wissens passende und wirksame Übungen für eine Person entwickeln? Wie in vielen anderen der Individualität des einzelnen Menschen verpflichteten Therapieformen auch, liegt die Lösung in einem konsequent prozessorientierten Vorgehen. Yoga als prozessorientierte Therapie ist genau das, was den Kern jenes Umgangs mit Yoga ausmacht, der sich mit dem Begriff Viniyoga beschreiben lässt. Konkret heißt das:

Es ist die Person nicht nur in ihren Beschwerden und ihrem Anliegen ernst zu nehmen, sondern auch in ihren Reaktionen auf dieTherapievorschläge. In diesem Prozess entwickelt sich ein immer besseres Verständniss davon, wie mit den Mitteln des Yoga auf das Leiden eines Menschen eingewirkt werden kann.

Zwei Beispiele aus dem Kontext der im Berliner Yoga Zentrum früher regelmäßig stattfindenden therapeutischen Konferenzen sollen dies illustrieren.

Fallbeispiel 1

Die Klientin, Frau H., von der hier die Rede sein wird, ist 36 Jahre alt, Anwältin und hat eine Familie mit zwei kleinen Kindern.

Seit etwa einem Jahr fühlt sie sich innerlich sehr aufgewühlt und zunehmend ängstlich. Die Ängste kommen anfallsweise, sie beschreibt Panik mit Herzklopfen, Zittern am ganzen Körper, Ohnmachtsgefühle. Beschränkten sich solche Attacken anfangs auf zwei Flugreisen im vergangenen Jahr, so dehnen sie sich mehr und mehr aus. Leichte Anfälle von Panik hatte sie kürzlich auch in der U-Bahn erlebt. Ausgelöst wurden diese Angstzustände, als sie vor über einem Jahr mit der Verdachtsdiagnose einer Multiple-Sklerose-Erkrankung konfrontiert wurde.
Unklare Missempfindungen: »ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, mal in den Armen, dann in den Beinen« hatten sie einen Arzt aufsuchen lassen. Obwohl diese Erkrankung schließlich – wie auch andere neurologische Störungen – ausgeschlossen werden konnte, beobachtet die Klientin sich weiterhin ängstlich, »obwohl mein Verstand mir sagt: Da ist nichts«. In ihrer Lebensgeschichte hatte sie zuvor noch nie mit solchen Ängsten zu tun gehabt. Allerdings litt sie als Jugendliche unter Essstörungen und auch sehr unter den depressiven Schüben ihrer Mutter.
Die Klientin befindet sich seit einigen Monaten in einer Psychotherapie, die sie auch »voranbringt« – sie wühlt jedoch so viele schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend auf, dass sie sich oft als mutlos, zerschlagen, hilflos und erschöpft empfindet.

Ihr Anliegen: Sie möchte Yoga üben, um sich immer wieder in einen ruhigeren Gemütszustand zu versetzen, um sich insgesamt besser und weniger erschöpft zu fühlen, auch als Unterstützung ihrer Psychotherapie.

Was ihr zudem Sorgen macht: Ihr dreijähriger Sohn hat seit einigen Monaten ebenfalls Ängste entwickelt, wenn er vor neuen Situationen steht – sie befürchtet, dass ihre eigene psychische Instabilität damit zu tun hat und macht sich große Sorgen. Körperliche Beschwerden hat sie nicht. Ihr Schlaf ist gut. Was sie noch erzählt: Sie hat eine 20-Stunden-Woche, die Kinder sind 3 und 5 Jahre alt und beanspruchen sie sehr, ihr Mann ist ihr eine große Stütze. Sie joggt dreimal pro Woche jeweils 9 km, »das ist lebensnotwendig« sagt sie. Dabei und danach fühlt sie sich kurzzeitig »wie befreit«.

Die Modalitäten

Mit diesen spontan geäußerten Angaben beginnt in der Yogatherapie ein besonderer Prozess der »Diagnosestellung«. Es genügt dafür nicht, das Gehörte mit dem Etikett »Angststörung« zu versehen und daraufhin in eine entsprechende Kiste mit Āsana, Atemübungen und Meditationsvorschlägen zu greifen. Denn eine solche Kiste gibt es nicht. Vielmehr wird es im Weiteren darum gehen, ein erstes und dann immer besseres Verstehen des Leidens zu entwickeln – in seiner individuellen Besonderheit und Komplexität und vor allem davon, wie es durch Yogapraxis gelindert werden kann. Wegweisend ist dabei, mit welchen besonderen Umständen das Auftreten ihres Leidens verbunden ist, was es auslöst oder verstärken kann. Und weil im Yoga viel mit dem Körper gearbeitet wird, zum Beispiel auch darum, ob und wie sich die Angstattacken körperlich äußern.
Ebenso wichtig ist ein Verständnis der Erfahrungen, die Frau H. im Alltag als positive Unterstützung erlebt. Was sind ihre eigenen Strategien, aufkommende Ängste im Griff zu behalten? Welche Situationen sind es, in denen sie sich angstfrei und vital erlebt? Nicht nur für Frau H. gilt:

Jede Störung und jedes Leiden erhalten ihr individuelles Gesicht durch die besondere Art und Weise, wie sie auf äußere und innere Veränderungen reagieren. Man nennt dies die Modalitäten, die jedem körperlichen oder seelischen Ungleichgewicht zu eigen sind.

Wenn sie nicht spontan geäußert werden, muss nach ihnen gefragt werden. Denn diese Modalitäten sind ein zentraler Ansatzpunkt für die Entwicklung einer wirksamen Yogapraxis. Auch wenn sich im Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen einige Modalitäten häufig in ähnlicher Weise zeigen, etwa Herzrasen bei Angstzuständen, sind sie doch in einem sehr hohen Maße individuell (es könnten auch Schwindelanfälle, Hitzewallungen, Ohn­mach­ten oder noch andere Symptome sein). Weiterhin sind sie nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Sie können sich – gerade auch im Verlauf einer Therapie – verändern.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Modalitäten der Ängste von Frau H., die für die Entwicklung einer Yogapraxis von unmittelbarer Bedeutung sind. Deshalb zuerst die Frage: Welche Art von Übungen sind für Frau H. kontraproduktiv, was könnte ihre Beschwerden beim Üben aktivieren, was könnte negative Muster verstärken?

  • Die Klientin hat berichtet, dass sie sich ängstlich beobachtet, seit die Erfahrung einer körperlichen Missempfindung mit der Möglichkeit einer schweren Erkrankung in Verbindung gebracht wurde und ihre ersten Angstattacken auslöste. Stille Selbstbeobachtung und intensives Körperspüren sind deshalb Elemente, die in der zu entwickelnden Praxis zu vermeiden sind.
  • Die Ängste sind körperlich oft mit Herzrasen verbunden. Die Erfahrung zeigt, dass eine Ausrichtung auf den Herzraum, mit wie viel »positiven« Inhalten sie dabei auch aufgeladen werden, genau dieses Herzrasen provozieren kann. Entsprechend ist der Herzraum als Ort besonderer Aufmerksamkeit ungeeignet.

T.K.V. Desikachar wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig für Yogalehrende die Fähigkeit ist, eine Yogapraxis so zu gestalten, dass sie keine negativen Impulse setzt: Wofür auch immer Du eine Yogapraxis konzipierst: Zuerst finde ­heraus, was ­schaden könnte und vermeide es.

What­ever you design a Yoga practice for: First recognise the Do nots and avoid them.

Kaum etwas sei wichtiger beim Entwickeln der ersten Praxen für eine Person. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Ein einziger negativer Impuls kann alle positiven Wirkungen einer Praxis zerstören. Zum Beispiel, wenn die Praxis bei Frau H. ein Herzrasen auslösen würde.

Die weitere wesentliche Frage in Bezug auf die berichteten Modalitäten ist. Gibt es Hinweise darauf, was hilfreich sein könnte?

  • Im Fall von Frau H. gibt es hier eine eindeutige Antwort: Joggen erlebt sie als »lebensnotwendig«. So liegt erst einmal die Vermutung nahe, dass intensive Bewegung auch in einer Yogapraxis eine positive Wirkung entfalten könnte.

Soweit der erste Rahmen für eine Praxis, die sich aus den bisher bekannten Modalitäten der Ängste von Frau H. ergeben. Dieser Rahmen ist nun vor dem Hintergrund von Wissen und Erfahrung um die Wirkung der verschiedenen Mittel des Yoga zu füllen und zu gestalten. Im Mittelpunkt steht dabei,

  • der Praxis eine entspannende Richtung zu geben, in der sich schließlich eine intensive und spannungsfreie Betonung der Ausatmung realisieren lässt und
  • gute Bedingungen dafür zu schaffen, in allen Übungen möglichst zuverlässig und oft diese entspannte Ausrichtung zu erreichen und
  • dabei auch die mit einer Yogapraxis gegebenen Möglichkeiten intensiver Bewegung zu nutzen und außerdem
  • mit der Praxis zuverlässig ein Gefühl körperlichen Wohlbefindens herzustellen.

Dazu muss der Kurs selbstverständlich dem zeitlichen Rahmen entsprechen, der Frau H. realistisch gesehen zur Verfügung steht. Ihr Ziel: morgens 15 Minuten Zeit für das Üben zu finden. Und nicht zu vergessen: Ein solcher Kurs stellt in sich immer auch die Frage danach, ob die Einschätzungen und Hypothesen, auf die er gründet, zutreffend waren. »I’m a fool« Ich kann mich täuschen : Ein weiteres Prinzip, das Desikachar nicht müde wurde zu wiederholen.

Sicher gibt es unendlich viele Möglichkeiten, wie ein wirksamer Kurs aussehen könnte. Hier ist nicht der Platz, die Entscheidung für den konkreten Praxisvorschlag in jedem Detail zu erläutern. Klar ist aber der Anspruch an jeden individuell unterrichteten Kurs. In ihm müssen sich die Erfahrungen und die individuelle Besonderheit des Leidens des betroffenen Menschen widerspiegeln. Jede Diagnose vorab, jede voreilige Schlussfolgerung, jedes »Schema F« in der Auswahl von Āsana, Prāṇāyāma oder Meditation sind dabei nicht hilfreich, sondern im Gegenteil hinderlich.

Fallbeispiel 1 – Praxis I

Vor diesem Hintergrund kann der erste Kurs so gelesen werden: Der Kurs ist bewegt und trägt so der Information Rechnung, dass kräftiges Bewegen (joggen) guttut. Übung 1 berücksichtigt als Standübung die Tatsache, dass morgens geübt wird. Gleichzeitig ist sie komplex gestaltet. Obwohl es eine erste Praxis ist, entschied sich die Kollegin deshalb dafür, weil sie beim Unterrichten den Eindruck hatte, dass die Klientin die Bewegungsabfolge schnell verinnerlichte. Der Vorteil: Unter Alltagsumständen soll das besondere Aufmerksamkeit fordernde Vinyāsa helfen, die Ausrichtung auf das Übungsprogramm herzustellen.

Das Summen beim Ausatmen in Übung 2 soll ihn betonen und verlängern. Die offene Frage: Bewährt sich diese Technik beim selbstständigen Üben auch wirklich?

Übung 3 wurde gewählt, um in Koordination kleiner Bewegungsabläufe mit dem Atem die mentale Ausrichtung zu binden und damit Ruhe in den Geist zu bringen.

In Übung 4 wird mit einfachen Āsana der Atemfluss in den Mittelpunkt gestellt und erneut die Verfeinerung und Verlängerung des Atems angestrebt.

Übung 5 führt die Technik des ­Ujjayī-Tons ein. Der Wechsel zwischen Summen und Ujjayī fordert zum einen Konzentration ein und soll zum anderen dafür sorgen, dass die neue Atemtechnik die Klientin nicht überfordert.

Übung 6, am Ende des Kurses, arbeitet weiter gezielt an der Einführung der Ujjayī-Atemtechnik.

Das Folgetreffen nach zwei Wochen:
Frau H. berichtete, dass sie morgens geübt hat, aber immer etwas unter Druck, weil die Kinder noch zu versorgen waren. Dennoch habe sie das Gefühl, die Praxis täte ihr gut. Unzufrieden war sie damit, dass sie noch immer auf dem Übungsblatt nachsehen musste und sie den Atem manches Mal als »zu kurz« empfand, vor allem, wenn sie summte. Die Pausen in der Übung 6 seien dringend nötig gewesen. Nur die erste Übung könne sie schon wie »im Schlaf«.
Beim Überprüfen des Kurses stellte sich heraus, dass der Ujjayī-Ton wesentlich fließender gelang als das Summen; zusammen mit der berichteten Erfahrung mit dem Summen wurde deshalb im Folgenden von dieser Technik (bhrāmarī) Abstand genommen. Ihr wurde stattdessen ein offenes Tönen mit der Silbe »Maa« angeboten.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis I

Fallbeispiel 1 – Praxis II

Die Übung 1 wurde umgestaltet, um Routine zu vermeiden, die sich nach Angaben der Klientin schon eingestellt hatte: »Die erste Übung kann ich schon wie im Schlaf«. Da der Kehlton – Ujjayī – in der Ausatmung sehr gut gelang, wurde er gleich in der Übung 2 benutzt. Zur Erinnerung: die Betonung der Ausatmung ist ein wesentliches und unverzichtbares Wirkprinzip, auf das die Praxis baut – worum es im Unterrichten aber immer wieder geht: Auf welche Weise lässt es sich konkret realisieren?

Die kleine Veränderung in Übung 3 setzt darauf, dass durch die Komplexität Konzentration eingefordert wird.

Übung 4 beschränkt sich mit einfachen Bewegungen auf das Erarbeiten eines feinen und verlängerten Ausatmens und benutzt das Tönen zur mentalen Ausrichtung auf den Ton.

Ein einfaches aktives Vinyāsa schließt den bewegten Teil des Kurses ab (Übung 5).

Das Prāṇāyāma in Übung 6 nimmt sich weiterhin die Erarbeitung eines entspannten Ujjayī-Tons vor; allerdings erst einmal nur jeweils viermal hintereinander, mit dazwischen gesetzten Pausen freien Atmens, um keine Spannung durch Überforderung durch das Atmen aufkommen zu lassen.

Die Rückmeldung, zwei Wochen später:
Frau H. berichtete, sie fühle sich gerade psychisch ein wenig stabiler, sie übe regelmäßig. Da sie von sich aus einige Situationen ansprach, in denen sie wieder Ansätze von Ängsten erfahren hatte, ergab sich aus dem Gespräch die Möglichkeit eines kleinen Programmausschnittes für solche akuten Situationen, s. u. »Akutprogramm«. Das Üben ging gut, die Konzentration dabei war besser. Nur beim Prāṇāyāma, am Ende des Kurses, kam ein Gefühl von Zeitdruck bei ihr auf.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis II

Fallbeispiel 1 – Praxis III

Die wichtigste Veränderung, die in diesem Kurs vorgenommen wurde, war die Umstellung der Prāṇāyāma Übung 5. Sie wurde vor die letzte Übung gestellt; dies, um das Üben des Prāṇāyāma zu garantieren und vom Zeitdruck zum Praxisende zu befreien, von dem die Klientin berichtete. Zudem sollte durch das schrittweise verlängerte mentale Tönen eine eindeutige und zuverlässige Verlängerung des Ausatems erreicht werden. Übung 5 aus dem Vorprogramm wurde nun ans Ende gesetzt und zur letzten (6) Übung.

Übung 4 wurde auf das Üben aus dem Vierfüßlerstand verkürzt, um den Atem mehr in den Mittelpunkt zu stellen; zudem wurde eine weitere Methode zur Atemverlängerung eingeführt, ein leiser »fff«-Ton beim Ausatmen.

Übung 3 war eine Art »Lieblings­übung« – weil auch die Lehrerin sich von ihr positive Wirkung verspricht, wurde sie beibehalten. Die 2. Übung benutzt weiterhin das Prinzip der Konzentrationsförderung durch abwechselndes hörbares und stilles Tönen; zudem führt es eine Atemverlängerung ein durch die Hinzunahme einer weiteren Silbe in der 3. und 4. Wiederholung.

Übung 1 wurde etwas komplexer gestaltet, aus den gleichen Gründen wie in Kurs 2 erwähnt.

Der Vorschlag für ein kleines »Akutprogramm« (s. o.) bestand darin, bei Bedarf die Prāṇāyāma-Übung zu machen. Gute drei Wochen Abstand waren es dann zum vierten Kurs.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis III

Fallbeispiel 1 – Praxis IV

Dieses Mal, es ist Vorweihnachtszeit, war der Zeitdruck, den Frau H. beim Üben spürte, sehr deutlich geworden. Meistens hatte sie jetzt abends geübt – täglich. Sie erzählt, dass sie sich trotz des steigenden Stresspegels psychisch weiter stabilisiere; die Psychotherapie bringe sie gut voran, sie könne auch besser »verdauen«, was da passiert. Zu beobachten ist, dass das Ausatmen der Klientin inzwischen deutlich länger geworden ist; wenn sie die Übungen mit dem Kehlton verbindet, bewegt sie sich viel langsamer und harmonischer. Das »Akutprogramm« hat sie bisher nicht benutzt.

Festzuhalten ist: Die Strategie der Entspannung durch Betonung der Ausatmung ist erfolgreich. Ebenfalls scheint die Herstellung der Erfahrung innerer Ausrichtung durch unterschiedliche Übungen recht zuverlässig zu funktionieren. Die Verlagerung des Prāṇāyāma weg vom Ende des Kurses hat Druck aus diesem Üben genommen und dazu beigetragen, dass es seine Wirkung nun intensiv entfalten kann. Die Klientin hat einen problemlosen, selbstständig gestalteten Umgang mit ihrer Praxis gefunden (üben mal morgens, mal abends).

Viele der Fragen, die zu Beginn des Prozesses offen bleiben mussten, haben sich im Laufe des Übens klären lassen.

Es gab jedoch auch eine Überraschung: Die Übung 3 (am Boden und nicht extrem aktiv gestaltet) war zur »Lieblingsübung« geworden. Im Kurs wurde deshalb konsequent weiter daran gearbeitet, einen kompetenten Umgang mit dem Atem zu erlernen, ihn zu verlängern und das Prāṇāyāma weiterzuentwickeln.

Übung 4 arbeitet jetzt mit der Atem-gerichteten Aufmerksamkeit der Klientin. In Übung 5 wird der Kehlton auch für die Einatmung eingeführt und ein erster Schritt hin zu einem Atemverhältnis gemacht, in dem das Ausatmen doppelt so lang ist wie die Einatmung.

Der Verweis (in Übung 2), Atem und Bewegung so aufeinander abzustimmen, dass die Bewegung in den Atem eingebettet ist, verlangsamt die Bewegung auch ohne die Nutzung einer Atemtechnik und hilft der Klientin, sich mehr zu sammeln. Der letzte Kurs findet nach weiteren 6 Wochen statt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis IV

Fallbeispiel 1 – Praxis V

Frau H. geht es wesentlich besser als zu Beginn der Yogaarbeit. Die Ängste sind weniger geworden; sie übt weiterhin regelmäßig fast jeden Tag; inzwischen aber eher abends oder nachmittags – »morgens ist alles so eng mit dem Timing«. Das »Akutprogramm« kam erst ein Mal zum Einsatz, dabei funktionierte es sehr gut: Sie konnte sich selbst »herunterbringen«. Das Programm wurde ein letztes Mal gezeigt und es wurden außer einer kleinen Bewegung der Finger in Übung 5 keine wesentlichen Veränderungen mehr vorgenommen.

Wie sich das Prinzip der Prozessorientierung an Beobachtung, Modalität und Erfahrung im Üben in Diagnostik und Therapie bei einem Klienten mit einer körperlichen Störung umsetzt, zeigt ein zweites Fallbeispiel im nächsten Abschnitt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis V

Fallbeispiel 2 – Praxis I

Ein junger Mann, Herr S., sehr sportlich und kräftig (schwimmt, fährt Fahrrad, wandert) kommt zu einer Yoga-Kollegin, weil er seit Monaten unter anhaltenden Schmerzen in der linken Schulter leidet. Diagnostisch abgeklärt wurden die Schmerzen durch eine orthopädische Untersuchung, eine Röntgenaufnahme der Schulter und ein Magnetresonanztomogramm (MRT). Die beiden letzten Untersuchungen zeigten keine Auffälligkeiten; im Zusammenhang mit der körperlichen Untersuchung wurde die Diagnose »Schultersyndrom« gestellt. Therapeutisch wurden Injektionen ins Gelenk gegeben sowie Massagen und physiotherapeutische Behandlungen verordnet – alles ohne befriedigende Wirkung.

Herr S. ist Musiker; er spielt ein großes Blasinstrument in einem Orchester. Beim notwendigen langen Üben und durch häufige Konzertauftritte verstärken sich die Schmerzen. Weil dies nun neuerdings auch beim Schwimmen und auch Fahrradfahren der Fall ist, hat er seinen Sport ganz aufgegeben.

Bis zu diesem Punkt der Klientengeschichte unterscheiden sich die Bedingungen für eine therapeutische Yogaintervention unwesentlich von einer Situation, die viele Unterrichtende kennen. Ein Mensch, neu im Yoga und belastet mit dem einen oder anderen Handicap, meldet sich zum Gruppenunterricht an. Im Rahmen eines Kursangebots wären sicherlich die oben beschriebenen Informationen erfragt worden. Sie sprechen dafür, den Klienten mit gutem Gewissen in der Gruppe mitüben zu lassen. Alles, was als Schmerz verursachend oder verstärkend berichtet wurde, was also schadet, könnte in einem kompetenten Yoga-Gruppenunterricht vermieden werden, drei Dinge vorausgesetzt:

  • Zum einen müssen Unterrichtende über ein weites Repertoire von Übungsvarianten und nötigenfalls alternativen Āsana verfügen, die anstelle derer geübt werden könnten, die für die gegebene Situation als untauglich erkannt werden.
  • Zum zweiten muss die Gruppengröße eine solche individuelle Betreuung im Unterrichten der ganzen Gruppe zulassen.
  • Und zum dritten verlangt es Erfahrung, Geduld und Geschick, sich erfolgreich darum zu bemühen, dass der neue Teilnehmer die Vorschläge der Lehrerin, des Lehrers verlässlich annimmt (was manchmal nicht so einfach funktioniert, weil man gerade als »Neuer« in der Gruppe nicht gern auffallen möchte).

Für Yoga als Therapie braucht es allerdings deutlich mehr. Wie im vorherigen Fallbeispiel 1 gründet das weitere Vorgehen auf einer Analyse der relevanten Modalitäten, auf guter Beobachtung und auf der Kunst, durch das Gespräch einen angemessenen Eindruck des konkreten Leidens zu bekommen, das Herrn S. zum Yoga bringt.

Modalitäten

Einige Modalitäten können in diesem Fall schon beschrieben werden:

  • Das lange Halten eines schweren Gegenstands mit dem linken Arm (Musikinstrument).
  • Das Last-Geben auf die Schulter (Fahrrad), das Anspannen der Schultermuskeln gegen Widerstand (Schwimmen) verstärken die Schmerzen in unterschiedlicher Art und Weise.

Weitere Modalitäten werden gezielt erfragt: Verstärken sich die Schmerzen auch beim kurzzeitigen Tragen schwerer Lasten im Alltag? Nein. Was verbessert? Liegen auf dem Rücken. Aber: Das Liegen auf der Seite verschlechtert. Die Nächte sind unruhig. Und: Auch Stress verschlechtert die Beschwerden. Erträglicher werden die Schmerzen, wenn Herr S. sich durch eine angenehme Sache ablenken kann, und sie bessern sich ebenfalls unter Entspannung.

Körperstrukturen

Gerade bei Beschwerden des Bewegungssystems lassen sich viele wichtige Informationen von der Beobachtung der Bewegungsmuster und Körperstrukturen ableiten. Schon das einfache Anheben der Arme gibt interessante Auskünfte. Herr S. kann den Arm mit der schmerzenden Schulter beschwerdefrei über vorn nur etwa 45 Grad anheben, seitlich aber geht es frei fast ganz nach oben. Rückbeugen aus der Bauchlage sind problemlos möglich, wenn die Arme neben dem Körper bleiben; werden sie mitgenommen, setzt der Schmerz schon mit Beginn der Bewegung ein. Ebenso schmerzt die Schulter bereits im Vierfüßlerstand, auch wenn im apanāsana die Beine am Ende kräftig herangezogen werden; ein leichtes Heranziehen ist aber schmerzfrei möglich. Bei allen weiteren Āsana, die zur Prüfung eingesetzt werden (z. B. śavāsana oder uttānāsana) zeigt sich eine gute Beweglichkeit ohne Schmerzauslösung, der Nacken bleibt bei allen Bewegungen schmerzfrei.

Gespräch

Das Gespräch gestattet einen ersten Blick darauf, wie das gesundheitliche Problem Herrn S. konkret beeinträchtigt, auch welche Befürchtungen und Ängste es auslöst, und wie er die eigenen Möglichkeiten selbstständigen Übens praktisch einschätzt »wie oft, wie viel kann ich üben«.

Ein Klärungs-Prozess beginnt: Was ist bis hierher über die Schmerzen bekannt?

  • Verschlechterung: durch Last auf die Schultern (Fahrrad fahren, Abstützen im Vierfüßlerstand), verstärkt durch nach innen Drehen »Innenrotation« der Schultern (Vierfüßler, Fahrrad), durch statisches Halten (Instrument, Fahrrad), durch Verstärkung der Spannung im Schulter-Armbereich (Armheben über vorn, Rückbeugen, Brustschwimmen, kräftiges Üben von apanāsana). Der Stress, der hauptsächlich von der Angst in Bezug auf seine berufliche Perspektive bestimmt wird, verschlechtert sich ebenfalls.
  • Verbesserung: durch Liegen auf dem Rücken, aber nicht auf der Seite (Schlafverhalten, śavāsana), durch Ablenkung und durch Entspannung.

Auf dem Hintergrund dieses Wissens lässt sich nunmehr eine erste Übungssequenz entwickeln. Was bisher in Erfahrung gebracht wurde, gibt klare Hinweise darauf, welche Übungen in dem Programm nicht vorkommen sollten. Eben alle, welche die schon bekannten problematischen Anforderungen beinhalten. Also Aufstützen, Heben des Arms über die Schmerzgrenze hinaus, starke Anspannung der Schultermuskulatur, Innenrotation der Schulter unter Zug, statische Kontraktionen der Schultermuskeln. Und: Die Informationen von Herrn S. darüber, welche Modalitäten die Schmerzen reduzieren, geben eines der Ziele vor, die dem Kurs Richtung geben werden: Entspannen, Stress reduzieren. Angemessene Bewegung kann Beschwerden solcher Art lindern, oft auch beseitigen.

Die Schritte

Zunächst – Weglassen, was schadet. Entsprechend werden einige Āsana erst gar nicht in die weiteren Überlegungen einbezogen. Es sind alle, in denen Last auf die Schultern gegeben wird, wie es in vielen Vinyāsa zum Aufwärmen vorkommt. Ungeeignet ist auch cakravākāsana (Vierfüßlerstand) mit oder ohne Anheben eines Beines, da es die Schultern stark belastet. Und es wird darauf verzichtet, statisches Halten für eine der Positionen vorzuschlagen. Wie eigentlich immer bei Schmerzen des Bewegungssystems verschlechtert es auch hier die Beschwerden. Weglassen, was schadet, bezieht sich nicht nur auf konkrete Übungen. Auch der Umgang von Herrn S. mit seinem Problem fließt in diese Entscheidung ein.

Das Gespräch ebenso wie die erfolgte gezielte Beobachtung bestimmter Bewegungen geben oft einen ersten Eindruck davon, wie jemand mit Schmerzen umgeht. Neigt der Klient dazu, sie zu ignorieren?

  • Nein, für Herrn S. trifft das nicht zu. Er hat seinen Sport eingestellt und dass er in seinem Beruf die Zähne zusammenbeißt, lässt sich angesichts seiner Sorge um seine Anstellung in einem Orchester gut nachvollziehen.
  • Tendiert er dazu, sich ständig mit seinem Leiden zu befassen? Nein, auch diesen Eindruck hat er nicht hinterlassen: Ablenkung verbessert das Schmerzproblem und er wählt diesen Weg auch ganz bewusst.

Diese Informationen sind wichtig und hilfreich. Nur dann ist es sinnvoll, beim Üben seine Aufmerksamkeit auf die Grenzen schmerzfreien Bewegens zu lenken und ihm die Verantwortung anzuvertrauen, selbst seine Ressourcen auszuloten. Wäre er etwa ängstlich, immer auf der Suche nach dem Schmerz, müssten ihm die Ausführung der Übungen anders präsentiert werden. So würde vermieden, ihn auf eine intensive Eigenbeobachtung hin zu motivieren. Und in den Anweisungen zu den einzelnen Übungen würde (noch) nicht darauf vertrauen werden können, dass Herr S. selbst das dafür richtige Maß erkennt.

Jetzt kann ein Programm entwickelt werden, das dabei ersten Hypothesen folgt. Ferner sollte es mit seinen Übungen danach fragen, auf welche Weise die Beschwerden sich tatsächlich beeinflussen lassen. Die Hypothesen in diesem Fall sind:

  • Bewegung bessert
  • Weiten der Schultervorderseite ebenfalls

Und die Fragen:

  • Wie belastbar ist der Klient in den Übungen, welches Niveau an Anforderungen ist das passende zum Einstieg?
  • Haben die Übungen für einen jungen, sportlichen Mann das passende Anforderungsniveau?

Es ist denkbar, dass ihm eine Praxis schnell langweilig würde, wenn sie ihn körperlich nicht genügend fordert, wo er doch das Gefühl von Ausgepowert-Sein sehr genossen hat.

Fallbeispiel 2 – Praxis I

Eine Ausgangsfrage vorweg: Warum wurde sich für diesen ersten Übungsvorschlag (Praxis 1) entschieden? Alle Übungen, mit Ausnahme der Übung 5, beziehen bewusst das Bewegungssystem in seiner Gesamtheit in den therapeutischen Kurs ein.

Dass in jeder Übung das Bewegungssystem in seiner Gesamtheit angesprochen wird (und nicht einzelne Muskeln, Muskelgruppen, Bänder oder Gelenke) ist eine wichtige Grundlage der therapeutischen Arbeit mit Āsana und des sich daraus entwickelnden Heilungsprozesses.

Diesem Prinzip entsprechen auch die Erkenntnisse moderner Bewegungswissenschaft. Sie haben das alte Denken eines in Einzelteile zerlegbaren Bewegungsapparates überwunden und lehren in eindringlicher Weise die Verbindungen und Zusammenhänge von Haltung, Bewegung und Schmerz als neuromuskuläre Steuerungsprozesse fein aufeinander abgestimmter Motorik und ihre Beeinflussbarkeit durch mentale Prozesse. Wer schon einmal selbst über längere Zeit eine chronische Schmerzerkrankung des Bewegungssystems kennengelernt hat, weiß um die allmählich auftretenden neuen »Baustellen«, die das Bewegungssystem als Reaktion auf eine Störung an einer Stelle eröffnet.

Übung 1, und in noch größerem Maße Übung 2 verfolgen dieses Ziel: durch Aktivierung des Rückens die Schulter zu entlasten. Die Armbewegungen, die schmerzfrei möglich waren, wurden einbezogen; Grundlage ist die Hypothese – Bewegung hilft.

Übung 3 wird hier zum Weiten der Schultervorderseite eingesetzt.

Übung 4 wird als Ausgleich benutzt, aber auch zum Ausloten des schmerzfreien Bewegungsspielraums bei nach innen rotierter Schulter. Auch mit Übung 1 wurde diese Frage schon gestellt und beantwortet – eine Hand wird zum Rücken hin abgelegt.

Übung 5 stellt die Frage nach der Belastbarkeit der Schulter. Da der Arm zum Ablegen und zurück gehoben werden muss, wird darüber nach dem Spielraum schmerzfreier Muskelanspannung gefragt. Hier ist Herr S. auch in seiner eigenen Beobachtungsgabe gefordert.

Übung 6 dient als Ausklang und Ausgleich und soll das Schulterproblem im Bewusstsein relativieren.

Das Einführen einer Atemtechnik beim Ausatmen – bhrāmarī – ein Summen, verlangsamt die Bewegungen und entspannt. Um durch die Praxis aufgeworfene Fragen beim nächsten Treffen möglichst eindeutig beantwortet zu bekommen, verzichtet der Kurs bewusst auf weitere Übungen. Auch soll die 15 Minuten Dauer der Praxis nicht überschritten werden, sonst wäre die nötige Regelmäßigkeit im Üben gefährdet.

Erste Antworten:

Die zentralen Themen des nächsten Treffens nach acht Tagen sind Bestätigung und Revision der Hypothesen anhand der Erfahrungen von Herrn S. Was der Klient berichtet: Er konnte täglich üben. Alle Übungen waren schmerzfrei möglich, außer Übung 5 »es geht aber schon irgendwie«. Das Üben war insgesamt angenehm und entspannend. Im Alltag gab es keine Verbesserungen der Schmerzen. Was daraus folgt – es gibt eine Übung, die eher schadet, Übung 5, weil sie Schmerzen verursacht. Als Konsequenz wird sie aus dem Programm gestrichen.

Das Anforderungsniveau der Übungen insgesamt stimmt (der Klient hat gerne geübt) und das Üben hat ihn entspannt, das Prinzip von Entspannung – das langsame Ausatmen – scheint zu funktionieren; der Umfang der Praxis stimmt ebenso (der Klient hat es geschafft, täglich zu üben).

Die Schulter öffnenden Bewegungen (Übung 3) waren gut zu meistern. Dass sich im Alltag noch keine positive Veränderung zeigte, überrascht angesichts der langen Geschichte der Störung nicht.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis I

Fallbeispiel 2 – Praxis II

Mithilfe der folgenden Praxis 2 soll mehr erfahren werden. Im Gegensatz zum freien Heben erweist sich ein unterstütztes Armheben mithilfe eines leichten Holzstocks über vorn als vollkommen schmerzfrei.

  • Wird sich die Übung auch in der täglichen Wiederholung bewähren?
  • Verträgt der Klient noch mehr Öffnung der Schultern vorn (Übung 4 und 5)?
  • Verträgt er schon eine leichte Dehnung des vorderen Schulterbereichs (Übung 5)?
  • Ist intensivere Bewegung der Schultern möglich (Übung 6)?
  • Kann schon etwas Last auf die Schulter gegeben werden (Übung 7)?

Die Praxis wird über vier Wochen hinweg geübt. Der Klient berichtet, mit zwei oder drei Ausnahmen weiterhin regelmäßig praktiziert zu haben. Die Beschwerden zeigen Schwankungen; sie sind nicht mehr permanent, allerdings reagieren sie weiterhin deutlich auf entsprechende Belastungen, allem voran das Instrumentenspielen. Der Stress abbauende Effekt besteht weiterhin. Nach dem Üben fühlt sich Herr S. immer sehr wohl und ausgeglichen. Ein Versuch, das Summen durch Ujjayī zu ersetzen, zeigte, dass sich in diesem Fall die ­Ujjayī-Technik schlecht mit dem Spielen auf dem Blasinstrument vertrug. Es bleibt beim Summen – bhrāmarī – als Technik zur Verlängerung der Ausatmung. Das auch deshalb, weil das Summen, das Herr S. anfangs ein wenig »albern« empfunden hatte, nun sehr gern macht.

Alle Übungen waren schmerzfrei, außer Übung 7: Hier tauchte beim Drücken der Hände gegen die Wand regelmäßig nach dem zweiten Mal ein Schmerz auf – der Klient hatte sich deshalb entschieden, sie immer nur einmal anstelle von sechs Wiederholungen zu üben. Beim Demonstrieren der Übungen ist zu sehen, dass inzwischen beide Arme auch ohne Unterstützung über vorn deutlich höher als 45 Grad gehoben werden können.

Welche Schlüsse lassen sich hieraus ziehen?

  • Die Verstärkung des Aspekts von Stressabbau im gesamten Kurs hat gewirkt – diese Richtung stimmt offensichtlich und kann ab jetzt mit viel Sicherheit beibehalten werden.
  • Das synchrone Heben der Arme mit dem Stock verbessert die schmerzfreie Bewegungszone.
  • Das vermehrte Weiten der Schultervorderseite wird gut vertragen.
  • Mehr Bewegung im Schulter-Nackenbereich ist möglich (Übung 6).
  • Die Tatsache, dass die Beschwerden im Alltag sich nicht mehr als Dauerschmerz manifestieren, wird als ein deutliches Zeichen dafür gelesen, dass ein Heilungsprozess in Gang gekommen ist.

All diese neu gewonnenen Informationen helfen weiter, zu verstehen, wie der nächste Schritt aussehen kann und auf welche Art und Weise der Heilungsprozess zu unterstützen ist. Das alles wird in einer weiteren, neue Praxis III umgesetzt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis II

Fallbeispiel 2 – Praxis III

Die Übung 7 aus Praxis 2 wurde gestrichen, sie hatte sich nicht bewährt. Rückblickend ist festzustellen, die Belastbarkeit überschätzt zu haben. Ansonsten folgen die Veränderungen gegenüber der 2. Praxis dem Prinzip der schrittweisen Steigerung von Anforderungen an Belastung und Beweglichkeit. Nachdem Übung 1 bisher mit stufenweiser Steigerung des Anhebens der Arme geübt wurde, werden sie nun von Beginn an so weit gehoben, wie es schmerzfrei möglich ist – ein Schritt, der den neu erreichten Bewegungsradius nutzt. Diese Verbesserung der Beweglichkeit wird auch dort aufgegriffen, wo die Arme ohne Unterstützung angehoben werden (2 und 6).

Beim Unterrichten zeigte sich, dass der linke Arm im Liegen jetzt schon schmerzfrei bis ganz nach hinten bewegt werden kann. Übung 4 greift das auf und stellt wie in Übung 5 aus Praxis 1 die Frage: Ist (anders als bei der ersten Praxis) die Anforderung des Hebens und Ablegens des Armes jetzt auch beim regelmäßigen Üben möglich?

Die Verlängerung des Ausatems mithilfe des Summtons in Übung 1 bereitet jetzt die strengere Atemführung in Übung 2 und 4 vor, eine intensivere stressreduzierende Ansprache an das Vegetativum. Die veränderte Übung 3 verlangt indessen mehr Anspannung im Schulterbereich – eine deutliche Steigerung der Anforderung.

In Übung 7 wird die Drehung und das Heranführen des Armes an den Körper im Vergleich mit Übung 6 vom vorigen Kurs verstärkt.

Eine neue Frage wirft die Übung 8 auf: Wie reagiert der Klient auf eine intensivere Dehnung des Schultergürtels?

Die Schwerpunkte des neuen Kurses:

  • Die Intensivierung der Aspekte zur Stressreduktion (Ausatembetonung)
  • Eine größere Anforderung an die Mobilität, Belastbarkeit und neuromuskuläre Koordination des gesamten Schulterbereichs

Beim nächsten Treffen, Herr S. übte diese Praxis 2 Monate lang, berichtet er über eine etwas reduzierte Regelmäßigkeit im Üben. Der Kurs sei auch ein wenig zu lang gewesen. Die Übung 8 hatte er allerdings gleich nach dem zweiten Üben weggelassen, weil sie einen Schmerz auslöste, der »das ganze vorige Üben verdarb«, so seine Aussage. Die Erkenntnis aus dieser Erfahrung war eine zweifache.

  • Zum einen: Eine regelmäßige stärkere Dehnung des Schultergürtels zusammen mit der Schulterinnenrotation in der Vorbeuge ist (noch) nicht möglich.
  • Zum Anderen: Es wäre sinnvoller gewesen, die Frage danach nicht am Ende des Kurses zu stellen, weil dadurch die gesamte positive Übungserfahrung beeinträchtigt würde. Erfreulicherweise hatte Herr S. das Problem selbstständig in richtiger Weise gelöst.

Eine große Verbesserung hatte es dafür nach 5 Wochen »fast schlagartig« gegeben: Er konnte jetzt ohne Probleme wieder lange Konzertproben bestehen und das Spielen seines Instruments machte ihm wieder Freude. Fahrradfahren und Brustschwimmen hatte er daraufhin, wenn auch vorsichtig, wieder aufgenommen. Die Übung 3, in der er sich auf dem Stuhl sitzend nach vorn beugt und wieder aufrichtet, macht er nun des Öfteren auch während der Proben. Sein neuer Wunsch: Mehr Fokus auf den oberen Rücken, da der sporadisch in Spannung gerate.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis III

Fallbeispiel 2 – Praxis IV

Die neue Praxis bleibt bei der Betonung der Ausatmung (Übung 1, 5 und 7). Der Bewegungsspielraum im Schulterbereich wird durch eine Seitbeuge erweitert (Übung 2). Nachdem es beim Unterrichten vollkommen schmerzfrei möglich war, in einer Variante von cakravākāsana schrittweise immer mehr Last auf die Schultern zu geben, wird mit dieser Variante ein neuer Versuch gewagt (ein früherer Versuch mit der Übung 7 in der 2. Praxis war gescheitert).

Auch die Veränderung in Übung 4 hat ein ähnliches Ziel: Hier bewegt der Klient die Arme beim Anheben und Ablegen des Rumpfes. Apanāsana (Übung 5) ist inzwischen problemlos möglich. Übung 6 ist eine Antwort auf den Wunsch, dauerhaft eine gesunde Spannung im oberen Rücken zu erreichen. Übung 7 ist Ausgleich und vertraut darauf, dass eine deutliche Ausatemverlängerung auch durch die nur mentale Begleitung der Ausatmung mit einem inneren Summton gewährleistet ist.

Herr S. hatte sich vor einem verabredeten 5. und letzten Termin gemeldet und berichtet, dass er inzwischen wieder beschwerdefrei und voll belastbar sei. Seine Übungen mache er trotzdem weiter, 3 Mal pro Woche.

Die Technik der Atemverlängerung durch Summen ist mittlerweile sein täglicher Begleiter geblieben. Er mache es dann aber ohne Bewegung, setze sich dazu auf einen Stuhl oder Hocker. Besonders häufig so, wie in der letzten (7.) Übung vorgeschlagen, mit einem mentalen, inneren Summton.

Der Fall dieses jungen Mannes unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von dem, über den zuvor berichtet wurde. Viele Informationen ließen sich bei Herrn S. in direkter Beobachtung ermitteln, Verbesserungen oder Verschlechterungen konn­ten teilweise unmittelbar auf die eine oder die andere Übung bezogen werden. Mit der genauen Kenntnis der einzelnen Asanas als Hintergrund ließen sich schnell sehr gezielte Fragen stellen und Antworten finden. Aber in beiden Fällen bleibt wie in jeder Yogatherapie die Prozessorientierung die zentrale Struktur – ganz unabhängig davon, mit welchem Anliegen KlientInnen kommen.

Warum? Weil Charakter und Struktur einer Störung vielschichtig sind und sich für die Yogaarbeit nicht mit einer nur schul- oder alternativmedizinischen »Diagnose« erfassen lassen. Weil es stattdessen Dialog und Zeit benötigt, um durch unvoreingenommenes Zuhören, Beobachten und intelligente Praxisvorschläge das Anliegen, Leiden und die Möglichkeiten eines Menschen zu verstehen.  Weil jeder Mensch und jedes Bedürfnis nach Heilung durch Yoga ein ganz besonderes ist. Und: Weil sich mit Einschätzungen und Vorschlägen getäuscht werden kann.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis IV

Dieser Artikel ist ursprünglich
erschienen in Viveka Heft

Einleitung

Umso ­dringender stellt sich die Frage: Was eigentlich sind die wesentlichen ­Bedingungen für eine ­ganzheitliche, ­wirksame und seriöse Yogatherapie? Offensichtlich gehören dazu vonseiten der ­TherapeutInnen Fähigkeiten wie ­Empathie und Yogakompetenz, ­also das ­umfangreiche und tiefe ­Verständnis der ­benutzten Mittel. Auf welche Weise aber lassen sich für das Anliegen eines Menschen schließlich konkret die angemessenen ­Übungen finden, wie eine passende und wirksame Praxis ­entwickeln?

An zwei Beispielen gibt der folgende ­Artikel Antworten: Nur durch konsequente Orientierung an ­einem klug organisierten Prozess kann therapeutisches Handeln als ein Dialog zwischen TherapeutIn und KlientIn verstanden werden. Dieser prozessorientierte Ansatz nimmt ­einen Menschen nicht nur in seinen ­Beschwerden und ­Anliegen ernst, sondern ganz besonders auch in ­seinen Reaktionen auf jede vorgeschlagene ­Praxis.

Die Frage ist also: Auf welche Weise lassen sich für das Anliegen eines Menschen die ihm angemessenen Übungen finden, wie eine passende und wirksame Praxis entwickeln?

Altlasten

Als gänzlich unbrauchbar haben sich dafür die bisweilen immer noch präsentierten Listen erwiesen, die jeder Erkrankung bestimmte Āsana oder Prāṇāyāma-Übungen, manchmal auch eine bestimmte Übungsabfolge zuordnen. Unbrauchbar sind sie nicht nur deshalb, weil sich dabei solche Absurditäten finden wie der Vorschlag, den Kopfstand gegen Kopfschmerzen oder Migräne einzusetzen (sie werden dadurch schlimmer). Oder die Vorwärtsbeuge paścimatānāsana bei einem Leistenbruch – nicht ohne dabei zu »meditieren und die Energie im Bauchraum zu visualisieren«. Ziemlich sicher wird der dadurch provozierte Druck im Bauchraum die Situation verschlechtern. Unbrauchbar sind sie auch deshalb, weil sich für die dort behaupteten Wirkungen von Āsana nicht der geringste Nachweis finden lässt.

Das eigentliche Problem solcher Listen liegt jedoch in einem grundlegenden Missverständnis bezüglich der therapeutischen Wirkung einer Yogapraxis.

Āsana wirken nicht durch die Beherrschung einer bestimmten Form, einer bestimmten Haltung. Sie wirken über die unterschiedlichen Anforderungen, die in ihnen gestellt werden. Und dies auch nicht direkt, sondern im Zusammenspiel mit den besonderen Gegebenheiten und natürlich auch Erwartungen der Person, die übt.

Individualität & Komplexität

Das menschliche System ist so stark von individuell unterschiedlichen Strukturen, die therapeutisch relevanten Wirkebenen von Yogaübungen so sehr von einer komplexen Vielschichtigkeit geprägt, dass ein mechanistisches Denken sie nicht erfassen kann.

Gerade das aber macht Yoga auch als Therapie so wertvoll. Sie spricht einen Menschen gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Ebenen an – mental, seelisch und körperlich. Erst in einem sehr individuellen Zusammenspiel dieser Ebenen formen sich die Wirkungen einer Yogatherapie.

Wie lassen sich nun angesichts dieses Wissens passende und wirksame Übungen für eine Person entwickeln? Wie in vielen anderen der Individualität des einzelnen Menschen verpflichteten Therapieformen auch, liegt die Lösung in einem konsequent prozessorientierten Vorgehen. Yoga als prozessorientierte Therapie ist genau das, was den Kern jenes Umgangs mit Yoga ausmacht, der sich mit dem Begriff Viniyoga beschreiben lässt. Konkret heißt das:

Es ist die Person nicht nur in ihren Beschwerden und ihrem Anliegen ernst zu nehmen, sondern auch in ihren Reaktionen auf dieTherapievorschläge. In diesem Prozess entwickelt sich ein immer besseres Verständniss davon, wie mit den Mitteln des Yoga auf das Leiden eines Menschen eingewirkt werden kann.

Zwei Beispiele aus dem Kontext der im Berliner Yoga Zentrum früher regelmäßig stattfindenden therapeutischen Konferenzen sollen dies illustrieren.

Fallbeispiel 1

Die Klientin, Frau H., von der hier die Rede sein wird, ist 36 Jahre alt, Anwältin und hat eine Familie mit zwei kleinen Kindern.

Seit etwa einem Jahr fühlt sie sich innerlich sehr aufgewühlt und zunehmend ängstlich. Die Ängste kommen anfallsweise, sie beschreibt Panik mit Herzklopfen, Zittern am ganzen Körper, Ohnmachtsgefühle. Beschränkten sich solche Attacken anfangs auf zwei Flugreisen im vergangenen Jahr, so dehnen sie sich mehr und mehr aus. Leichte Anfälle von Panik hatte sie kürzlich auch in der U-Bahn erlebt. Ausgelöst wurden diese Angstzustände, als sie vor über einem Jahr mit der Verdachtsdiagnose einer Multiple-Sklerose-Erkrankung konfrontiert wurde.
Unklare Missempfindungen: »ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, mal in den Armen, dann in den Beinen« hatten sie einen Arzt aufsuchen lassen. Obwohl diese Erkrankung schließlich – wie auch andere neurologische Störungen – ausgeschlossen werden konnte, beobachtet die Klientin sich weiterhin ängstlich, »obwohl mein Verstand mir sagt: Da ist nichts«. In ihrer Lebensgeschichte hatte sie zuvor noch nie mit solchen Ängsten zu tun gehabt. Allerdings litt sie als Jugendliche unter Essstörungen und auch sehr unter den depressiven Schüben ihrer Mutter.
Die Klientin befindet sich seit einigen Monaten in einer Psychotherapie, die sie auch »voranbringt« – sie wühlt jedoch so viele schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend auf, dass sie sich oft als mutlos, zerschlagen, hilflos und erschöpft empfindet.

Ihr Anliegen: Sie möchte Yoga üben, um sich immer wieder in einen ruhigeren Gemütszustand zu versetzen, um sich insgesamt besser und weniger erschöpft zu fühlen, auch als Unterstützung ihrer Psychotherapie.

Was ihr zudem Sorgen macht: Ihr dreijähriger Sohn hat seit einigen Monaten ebenfalls Ängste entwickelt, wenn er vor neuen Situationen steht – sie befürchtet, dass ihre eigene psychische Instabilität damit zu tun hat und macht sich große Sorgen. Körperliche Beschwerden hat sie nicht. Ihr Schlaf ist gut. Was sie noch erzählt: Sie hat eine 20-Stunden-Woche, die Kinder sind 3 und 5 Jahre alt und beanspruchen sie sehr, ihr Mann ist ihr eine große Stütze. Sie joggt dreimal pro Woche jeweils 9 km, »das ist lebensnotwendig« sagt sie. Dabei und danach fühlt sie sich kurzzeitig »wie befreit«.

Die Modalitäten

Mit diesen spontan geäußerten Angaben beginnt in der Yogatherapie ein besonderer Prozess der »Diagnosestellung«. Es genügt dafür nicht, das Gehörte mit dem Etikett »Angststörung« zu versehen und daraufhin in eine entsprechende Kiste mit Āsana, Atemübungen und Meditationsvorschlägen zu greifen. Denn eine solche Kiste gibt es nicht. Vielmehr wird es im Weiteren darum gehen, ein erstes und dann immer besseres Verstehen des Leidens zu entwickeln – in seiner individuellen Besonderheit und Komplexität und vor allem davon, wie es durch Yogapraxis gelindert werden kann. Wegweisend ist dabei, mit welchen besonderen Umständen das Auftreten ihres Leidens verbunden ist, was es auslöst oder verstärken kann. Und weil im Yoga viel mit dem Körper gearbeitet wird, zum Beispiel auch darum, ob und wie sich die Angstattacken körperlich äußern.
Ebenso wichtig ist ein Verständnis der Erfahrungen, die Frau H. im Alltag als positive Unterstützung erlebt. Was sind ihre eigenen Strategien, aufkommende Ängste im Griff zu behalten? Welche Situationen sind es, in denen sie sich angstfrei und vital erlebt? Nicht nur für Frau H. gilt:

Jede Störung und jedes Leiden erhalten ihr individuelles Gesicht durch die besondere Art und Weise, wie sie auf äußere und innere Veränderungen reagieren. Man nennt dies die Modalitäten, die jedem körperlichen oder seelischen Ungleichgewicht zu eigen sind.

Wenn sie nicht spontan geäußert werden, muss nach ihnen gefragt werden. Denn diese Modalitäten sind ein zentraler Ansatzpunkt für die Entwicklung einer wirksamen Yogapraxis. Auch wenn sich im Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen einige Modalitäten häufig in ähnlicher Weise zeigen, etwa Herzrasen bei Angstzuständen, sind sie doch in einem sehr hohen Maße individuell (es könnten auch Schwindelanfälle, Hitzewallungen, Ohn­mach­ten oder noch andere Symptome sein). Weiterhin sind sie nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Sie können sich – gerade auch im Verlauf einer Therapie – verändern.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Modalitäten der Ängste von Frau H., die für die Entwicklung einer Yogapraxis von unmittelbarer Bedeutung sind. Deshalb zuerst die Frage: Welche Art von Übungen sind für Frau H. kontraproduktiv, was könnte ihre Beschwerden beim Üben aktivieren, was könnte negative Muster verstärken?

  • Die Klientin hat berichtet, dass sie sich ängstlich beobachtet, seit die Erfahrung einer körperlichen Missempfindung mit der Möglichkeit einer schweren Erkrankung in Verbindung gebracht wurde und ihre ersten Angstattacken auslöste. Stille Selbstbeobachtung und intensives Körperspüren sind deshalb Elemente, die in der zu entwickelnden Praxis zu vermeiden sind.
  • Die Ängste sind körperlich oft mit Herzrasen verbunden. Die Erfahrung zeigt, dass eine Ausrichtung auf den Herzraum, mit wie viel »positiven« Inhalten sie dabei auch aufgeladen werden, genau dieses Herzrasen provozieren kann. Entsprechend ist der Herzraum als Ort besonderer Aufmerksamkeit ungeeignet.

T.K.V. Desikachar wurde nicht müde zu betonen, wie wichtig für Yogalehrende die Fähigkeit ist, eine Yogapraxis so zu gestalten, dass sie keine negativen Impulse setzt: Wofür auch immer Du eine Yogapraxis konzipierst: Zuerst finde ­heraus, was ­schaden könnte und vermeide es.

What­ever you design a Yoga practice for: First recognise the Do nots and avoid them.

Kaum etwas sei wichtiger beim Entwickeln der ersten Praxen für eine Person. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Ein einziger negativer Impuls kann alle positiven Wirkungen einer Praxis zerstören. Zum Beispiel, wenn die Praxis bei Frau H. ein Herzrasen auslösen würde.

Die weitere wesentliche Frage in Bezug auf die berichteten Modalitäten ist. Gibt es Hinweise darauf, was hilfreich sein könnte?

  • Im Fall von Frau H. gibt es hier eine eindeutige Antwort: Joggen erlebt sie als »lebensnotwendig«. So liegt erst einmal die Vermutung nahe, dass intensive Bewegung auch in einer Yogapraxis eine positive Wirkung entfalten könnte.

Soweit der erste Rahmen für eine Praxis, die sich aus den bisher bekannten Modalitäten der Ängste von Frau H. ergeben. Dieser Rahmen ist nun vor dem Hintergrund von Wissen und Erfahrung um die Wirkung der verschiedenen Mittel des Yoga zu füllen und zu gestalten. Im Mittelpunkt steht dabei,

  • der Praxis eine entspannende Richtung zu geben, in der sich schließlich eine intensive und spannungsfreie Betonung der Ausatmung realisieren lässt und
  • gute Bedingungen dafür zu schaffen, in allen Übungen möglichst zuverlässig und oft diese entspannte Ausrichtung zu erreichen und
  • dabei auch die mit einer Yogapraxis gegebenen Möglichkeiten intensiver Bewegung zu nutzen und außerdem
  • mit der Praxis zuverlässig ein Gefühl körperlichen Wohlbefindens herzustellen.

Dazu muss der Kurs selbstverständlich dem zeitlichen Rahmen entsprechen, der Frau H. realistisch gesehen zur Verfügung steht. Ihr Ziel: morgens 15 Minuten Zeit für das Üben zu finden. Und nicht zu vergessen: Ein solcher Kurs stellt in sich immer auch die Frage danach, ob die Einschätzungen und Hypothesen, auf die er gründet, zutreffend waren. »I’m a fool« Ich kann mich täuschen : Ein weiteres Prinzip, das Desikachar nicht müde wurde zu wiederholen.

Sicher gibt es unendlich viele Möglichkeiten, wie ein wirksamer Kurs aussehen könnte. Hier ist nicht der Platz, die Entscheidung für den konkreten Praxisvorschlag in jedem Detail zu erläutern. Klar ist aber der Anspruch an jeden individuell unterrichteten Kurs. In ihm müssen sich die Erfahrungen und die individuelle Besonderheit des Leidens des betroffenen Menschen widerspiegeln. Jede Diagnose vorab, jede voreilige Schlussfolgerung, jedes »Schema F« in der Auswahl von Āsana, Prāṇāyāma oder Meditation sind dabei nicht hilfreich, sondern im Gegenteil hinderlich.

Fallbeispiel 1 – Praxis I

Vor diesem Hintergrund kann der erste Kurs so gelesen werden: Der Kurs ist bewegt und trägt so der Information Rechnung, dass kräftiges Bewegen (joggen) guttut. Übung 1 berücksichtigt als Standübung die Tatsache, dass morgens geübt wird. Gleichzeitig ist sie komplex gestaltet. Obwohl es eine erste Praxis ist, entschied sich die Kollegin deshalb dafür, weil sie beim Unterrichten den Eindruck hatte, dass die Klientin die Bewegungsabfolge schnell verinnerlichte. Der Vorteil: Unter Alltagsumständen soll das besondere Aufmerksamkeit fordernde Vinyāsa helfen, die Ausrichtung auf das Übungsprogramm herzustellen.

Das Summen beim Ausatmen in Übung 2 soll ihn betonen und verlängern. Die offene Frage: Bewährt sich diese Technik beim selbstständigen Üben auch wirklich?

Übung 3 wurde gewählt, um in Koordination kleiner Bewegungsabläufe mit dem Atem die mentale Ausrichtung zu binden und damit Ruhe in den Geist zu bringen.

In Übung 4 wird mit einfachen Āsana der Atemfluss in den Mittelpunkt gestellt und erneut die Verfeinerung und Verlängerung des Atems angestrebt.

Übung 5 führt die Technik des ­Ujjayī-Tons ein. Der Wechsel zwischen Summen und Ujjayī fordert zum einen Konzentration ein und soll zum anderen dafür sorgen, dass die neue Atemtechnik die Klientin nicht überfordert.

Übung 6, am Ende des Kurses, arbeitet weiter gezielt an der Einführung der Ujjayī-Atemtechnik.

Das Folgetreffen nach zwei Wochen:
Frau H. berichtete, dass sie morgens geübt hat, aber immer etwas unter Druck, weil die Kinder noch zu versorgen waren. Dennoch habe sie das Gefühl, die Praxis täte ihr gut. Unzufrieden war sie damit, dass sie noch immer auf dem Übungsblatt nachsehen musste und sie den Atem manches Mal als »zu kurz« empfand, vor allem, wenn sie summte. Die Pausen in der Übung 6 seien dringend nötig gewesen. Nur die erste Übung könne sie schon wie »im Schlaf«.
Beim Überprüfen des Kurses stellte sich heraus, dass der Ujjayī-Ton wesentlich fließender gelang als das Summen; zusammen mit der berichteten Erfahrung mit dem Summen wurde deshalb im Folgenden von dieser Technik (bhrāmarī) Abstand genommen. Ihr wurde stattdessen ein offenes Tönen mit der Silbe »Maa« angeboten.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis I

Fallbeispiel 1 – Praxis II

Die Übung 1 wurde umgestaltet, um Routine zu vermeiden, die sich nach Angaben der Klientin schon eingestellt hatte: »Die erste Übung kann ich schon wie im Schlaf«. Da der Kehlton – Ujjayī – in der Ausatmung sehr gut gelang, wurde er gleich in der Übung 2 benutzt. Zur Erinnerung: die Betonung der Ausatmung ist ein wesentliches und unverzichtbares Wirkprinzip, auf das die Praxis baut – worum es im Unterrichten aber immer wieder geht: Auf welche Weise lässt es sich konkret realisieren?

Die kleine Veränderung in Übung 3 setzt darauf, dass durch die Komplexität Konzentration eingefordert wird.

Übung 4 beschränkt sich mit einfachen Bewegungen auf das Erarbeiten eines feinen und verlängerten Ausatmens und benutzt das Tönen zur mentalen Ausrichtung auf den Ton.

Ein einfaches aktives Vinyāsa schließt den bewegten Teil des Kurses ab (Übung 5).

Das Prāṇāyāma in Übung 6 nimmt sich weiterhin die Erarbeitung eines entspannten Ujjayī-Tons vor; allerdings erst einmal nur jeweils viermal hintereinander, mit dazwischen gesetzten Pausen freien Atmens, um keine Spannung durch Überforderung durch das Atmen aufkommen zu lassen.

Die Rückmeldung, zwei Wochen später:
Frau H. berichtete, sie fühle sich gerade psychisch ein wenig stabiler, sie übe regelmäßig. Da sie von sich aus einige Situationen ansprach, in denen sie wieder Ansätze von Ängsten erfahren hatte, ergab sich aus dem Gespräch die Möglichkeit eines kleinen Programmausschnittes für solche akuten Situationen, s. u. »Akutprogramm«. Das Üben ging gut, die Konzentration dabei war besser. Nur beim Prāṇāyāma, am Ende des Kurses, kam ein Gefühl von Zeitdruck bei ihr auf.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis II

Fallbeispiel 1 – Praxis III

Die wichtigste Veränderung, die in diesem Kurs vorgenommen wurde, war die Umstellung der Prāṇāyāma Übung 5. Sie wurde vor die letzte Übung gestellt; dies, um das Üben des Prāṇāyāma zu garantieren und vom Zeitdruck zum Praxisende zu befreien, von dem die Klientin berichtete. Zudem sollte durch das schrittweise verlängerte mentale Tönen eine eindeutige und zuverlässige Verlängerung des Ausatems erreicht werden. Übung 5 aus dem Vorprogramm wurde nun ans Ende gesetzt und zur letzten (6) Übung.

Übung 4 wurde auf das Üben aus dem Vierfüßlerstand verkürzt, um den Atem mehr in den Mittelpunkt zu stellen; zudem wurde eine weitere Methode zur Atemverlängerung eingeführt, ein leiser »fff«-Ton beim Ausatmen.

Übung 3 war eine Art »Lieblings­übung« – weil auch die Lehrerin sich von ihr positive Wirkung verspricht, wurde sie beibehalten. Die 2. Übung benutzt weiterhin das Prinzip der Konzentrationsförderung durch abwechselndes hörbares und stilles Tönen; zudem führt es eine Atemverlängerung ein durch die Hinzunahme einer weiteren Silbe in der 3. und 4. Wiederholung.

Übung 1 wurde etwas komplexer gestaltet, aus den gleichen Gründen wie in Kurs 2 erwähnt.

Der Vorschlag für ein kleines »Akutprogramm« (s. o.) bestand darin, bei Bedarf die Prāṇāyāma-Übung zu machen. Gute drei Wochen Abstand waren es dann zum vierten Kurs.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis III

Fallbeispiel 1 – Praxis IV

Dieses Mal, es ist Vorweihnachtszeit, war der Zeitdruck, den Frau H. beim Üben spürte, sehr deutlich geworden. Meistens hatte sie jetzt abends geübt – täglich. Sie erzählt, dass sie sich trotz des steigenden Stresspegels psychisch weiter stabilisiere; die Psychotherapie bringe sie gut voran, sie könne auch besser »verdauen«, was da passiert. Zu beobachten ist, dass das Ausatmen der Klientin inzwischen deutlich länger geworden ist; wenn sie die Übungen mit dem Kehlton verbindet, bewegt sie sich viel langsamer und harmonischer. Das »Akutprogramm« hat sie bisher nicht benutzt.

Festzuhalten ist: Die Strategie der Entspannung durch Betonung der Ausatmung ist erfolgreich. Ebenfalls scheint die Herstellung der Erfahrung innerer Ausrichtung durch unterschiedliche Übungen recht zuverlässig zu funktionieren. Die Verlagerung des Prāṇāyāma weg vom Ende des Kurses hat Druck aus diesem Üben genommen und dazu beigetragen, dass es seine Wirkung nun intensiv entfalten kann. Die Klientin hat einen problemlosen, selbstständig gestalteten Umgang mit ihrer Praxis gefunden (üben mal morgens, mal abends).

Viele der Fragen, die zu Beginn des Prozesses offen bleiben mussten, haben sich im Laufe des Übens klären lassen.

Es gab jedoch auch eine Überraschung: Die Übung 3 (am Boden und nicht extrem aktiv gestaltet) war zur »Lieblingsübung« geworden. Im Kurs wurde deshalb konsequent weiter daran gearbeitet, einen kompetenten Umgang mit dem Atem zu erlernen, ihn zu verlängern und das Prāṇāyāma weiterzuentwickeln.

Übung 4 arbeitet jetzt mit der Atem-gerichteten Aufmerksamkeit der Klientin. In Übung 5 wird der Kehlton auch für die Einatmung eingeführt und ein erster Schritt hin zu einem Atemverhältnis gemacht, in dem das Ausatmen doppelt so lang ist wie die Einatmung.

Der Verweis (in Übung 2), Atem und Bewegung so aufeinander abzustimmen, dass die Bewegung in den Atem eingebettet ist, verlangsamt die Bewegung auch ohne die Nutzung einer Atemtechnik und hilft der Klientin, sich mehr zu sammeln. Der letzte Kurs findet nach weiteren 6 Wochen statt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis IV

Fallbeispiel 1 – Praxis V

Frau H. geht es wesentlich besser als zu Beginn der Yogaarbeit. Die Ängste sind weniger geworden; sie übt weiterhin regelmäßig fast jeden Tag; inzwischen aber eher abends oder nachmittags – »morgens ist alles so eng mit dem Timing«. Das »Akutprogramm« kam erst ein Mal zum Einsatz, dabei funktionierte es sehr gut: Sie konnte sich selbst »herunterbringen«. Das Programm wurde ein letztes Mal gezeigt und es wurden außer einer kleinen Bewegung der Finger in Übung 5 keine wesentlichen Veränderungen mehr vorgenommen.

Wie sich das Prinzip der Prozessorientierung an Beobachtung, Modalität und Erfahrung im Üben in Diagnostik und Therapie bei einem Klienten mit einer körperlichen Störung umsetzt, zeigt ein zweites Fallbeispiel im nächsten Abschnitt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis V

Fallbeispiel 2 – Praxis I

Ein junger Mann, Herr S., sehr sportlich und kräftig (schwimmt, fährt Fahrrad, wandert) kommt zu einer Yoga-Kollegin, weil er seit Monaten unter anhaltenden Schmerzen in der linken Schulter leidet. Diagnostisch abgeklärt wurden die Schmerzen durch eine orthopädische Untersuchung, eine Röntgenaufnahme der Schulter und ein Magnetresonanztomogramm (MRT). Die beiden letzten Untersuchungen zeigten keine Auffälligkeiten; im Zusammenhang mit der körperlichen Untersuchung wurde die Diagnose »Schultersyndrom« gestellt. Therapeutisch wurden Injektionen ins Gelenk gegeben sowie Massagen und physiotherapeutische Behandlungen verordnet – alles ohne befriedigende Wirkung.

Herr S. ist Musiker; er spielt ein großes Blasinstrument in einem Orchester. Beim notwendigen langen Üben und durch häufige Konzertauftritte verstärken sich die Schmerzen. Weil dies nun neuerdings auch beim Schwimmen und auch Fahrradfahren der Fall ist, hat er seinen Sport ganz aufgegeben.

Bis zu diesem Punkt der Klientengeschichte unterscheiden sich die Bedingungen für eine therapeutische Yogaintervention unwesentlich von einer Situation, die viele Unterrichtende kennen. Ein Mensch, neu im Yoga und belastet mit dem einen oder anderen Handicap, meldet sich zum Gruppenunterricht an. Im Rahmen eines Kursangebots wären sicherlich die oben beschriebenen Informationen erfragt worden. Sie sprechen dafür, den Klienten mit gutem Gewissen in der Gruppe mitüben zu lassen. Alles, was als Schmerz verursachend oder verstärkend berichtet wurde, was also schadet, könnte in einem kompetenten Yoga-Gruppenunterricht vermieden werden, drei Dinge vorausgesetzt:

  • Zum einen müssen Unterrichtende über ein weites Repertoire von Übungsvarianten und nötigenfalls alternativen Āsana verfügen, die anstelle derer geübt werden könnten, die für die gegebene Situation als untauglich erkannt werden.
  • Zum zweiten muss die Gruppengröße eine solche individuelle Betreuung im Unterrichten der ganzen Gruppe zulassen.
  • Und zum dritten verlangt es Erfahrung, Geduld und Geschick, sich erfolgreich darum zu bemühen, dass der neue Teilnehmer die Vorschläge der Lehrerin, des Lehrers verlässlich annimmt (was manchmal nicht so einfach funktioniert, weil man gerade als »Neuer« in der Gruppe nicht gern auffallen möchte).

Für Yoga als Therapie braucht es allerdings deutlich mehr. Wie im vorherigen Fallbeispiel 1 gründet das weitere Vorgehen auf einer Analyse der relevanten Modalitäten, auf guter Beobachtung und auf der Kunst, durch das Gespräch einen angemessenen Eindruck des konkreten Leidens zu bekommen, das Herrn S. zum Yoga bringt.

Modalitäten

Einige Modalitäten können in diesem Fall schon beschrieben werden:

  • Das lange Halten eines schweren Gegenstands mit dem linken Arm (Musikinstrument).
  • Das Last-Geben auf die Schulter (Fahrrad), das Anspannen der Schultermuskeln gegen Widerstand (Schwimmen) verstärken die Schmerzen in unterschiedlicher Art und Weise.

Weitere Modalitäten werden gezielt erfragt: Verstärken sich die Schmerzen auch beim kurzzeitigen Tragen schwerer Lasten im Alltag? Nein. Was verbessert? Liegen auf dem Rücken. Aber: Das Liegen auf der Seite verschlechtert. Die Nächte sind unruhig. Und: Auch Stress verschlechtert die Beschwerden. Erträglicher werden die Schmerzen, wenn Herr S. sich durch eine angenehme Sache ablenken kann, und sie bessern sich ebenfalls unter Entspannung.

Körperstrukturen

Gerade bei Beschwerden des Bewegungssystems lassen sich viele wichtige Informationen von der Beobachtung der Bewegungsmuster und Körperstrukturen ableiten. Schon das einfache Anheben der Arme gibt interessante Auskünfte. Herr S. kann den Arm mit der schmerzenden Schulter beschwerdefrei über vorn nur etwa 45 Grad anheben, seitlich aber geht es frei fast ganz nach oben. Rückbeugen aus der Bauchlage sind problemlos möglich, wenn die Arme neben dem Körper bleiben; werden sie mitgenommen, setzt der Schmerz schon mit Beginn der Bewegung ein. Ebenso schmerzt die Schulter bereits im Vierfüßlerstand, auch wenn im apanāsana die Beine am Ende kräftig herangezogen werden; ein leichtes Heranziehen ist aber schmerzfrei möglich. Bei allen weiteren Āsana, die zur Prüfung eingesetzt werden (z. B. śavāsana oder uttānāsana) zeigt sich eine gute Beweglichkeit ohne Schmerzauslösung, der Nacken bleibt bei allen Bewegungen schmerzfrei.

Gespräch

Das Gespräch gestattet einen ersten Blick darauf, wie das gesundheitliche Problem Herrn S. konkret beeinträchtigt, auch welche Befürchtungen und Ängste es auslöst, und wie er die eigenen Möglichkeiten selbstständigen Übens praktisch einschätzt »wie oft, wie viel kann ich üben«.

Ein Klärungs-Prozess beginnt: Was ist bis hierher über die Schmerzen bekannt?

  • Verschlechterung: durch Last auf die Schultern (Fahrrad fahren, Abstützen im Vierfüßlerstand), verstärkt durch nach innen Drehen »Innenrotation« der Schultern (Vierfüßler, Fahrrad), durch statisches Halten (Instrument, Fahrrad), durch Verstärkung der Spannung im Schulter-Armbereich (Armheben über vorn, Rückbeugen, Brustschwimmen, kräftiges Üben von apanāsana). Der Stress, der hauptsächlich von der Angst in Bezug auf seine berufliche Perspektive bestimmt wird, verschlechtert sich ebenfalls.
  • Verbesserung: durch Liegen auf dem Rücken, aber nicht auf der Seite (Schlafverhalten, śavāsana), durch Ablenkung und durch Entspannung.

Auf dem Hintergrund dieses Wissens lässt sich nunmehr eine erste Übungssequenz entwickeln. Was bisher in Erfahrung gebracht wurde, gibt klare Hinweise darauf, welche Übungen in dem Programm nicht vorkommen sollten. Eben alle, welche die schon bekannten problematischen Anforderungen beinhalten. Also Aufstützen, Heben des Arms über die Schmerzgrenze hinaus, starke Anspannung der Schultermuskulatur, Innenrotation der Schulter unter Zug, statische Kontraktionen der Schultermuskeln. Und: Die Informationen von Herrn S. darüber, welche Modalitäten die Schmerzen reduzieren, geben eines der Ziele vor, die dem Kurs Richtung geben werden: Entspannen, Stress reduzieren. Angemessene Bewegung kann Beschwerden solcher Art lindern, oft auch beseitigen.

Die Schritte

Zunächst – Weglassen, was schadet. Entsprechend werden einige Āsana erst gar nicht in die weiteren Überlegungen einbezogen. Es sind alle, in denen Last auf die Schultern gegeben wird, wie es in vielen Vinyāsa zum Aufwärmen vorkommt. Ungeeignet ist auch cakravākāsana (Vierfüßlerstand) mit oder ohne Anheben eines Beines, da es die Schultern stark belastet. Und es wird darauf verzichtet, statisches Halten für eine der Positionen vorzuschlagen. Wie eigentlich immer bei Schmerzen des Bewegungssystems verschlechtert es auch hier die Beschwerden. Weglassen, was schadet, bezieht sich nicht nur auf konkrete Übungen. Auch der Umgang von Herrn S. mit seinem Problem fließt in diese Entscheidung ein.

Das Gespräch ebenso wie die erfolgte gezielte Beobachtung bestimmter Bewegungen geben oft einen ersten Eindruck davon, wie jemand mit Schmerzen umgeht. Neigt der Klient dazu, sie zu ignorieren?

  • Nein, für Herrn S. trifft das nicht zu. Er hat seinen Sport eingestellt und dass er in seinem Beruf die Zähne zusammenbeißt, lässt sich angesichts seiner Sorge um seine Anstellung in einem Orchester gut nachvollziehen.
  • Tendiert er dazu, sich ständig mit seinem Leiden zu befassen? Nein, auch diesen Eindruck hat er nicht hinterlassen: Ablenkung verbessert das Schmerzproblem und er wählt diesen Weg auch ganz bewusst.

Diese Informationen sind wichtig und hilfreich. Nur dann ist es sinnvoll, beim Üben seine Aufmerksamkeit auf die Grenzen schmerzfreien Bewegens zu lenken und ihm die Verantwortung anzuvertrauen, selbst seine Ressourcen auszuloten. Wäre er etwa ängstlich, immer auf der Suche nach dem Schmerz, müssten ihm die Ausführung der Übungen anders präsentiert werden. So würde vermieden, ihn auf eine intensive Eigenbeobachtung hin zu motivieren. Und in den Anweisungen zu den einzelnen Übungen würde (noch) nicht darauf vertrauen werden können, dass Herr S. selbst das dafür richtige Maß erkennt.

Jetzt kann ein Programm entwickelt werden, das dabei ersten Hypothesen folgt. Ferner sollte es mit seinen Übungen danach fragen, auf welche Weise die Beschwerden sich tatsächlich beeinflussen lassen. Die Hypothesen in diesem Fall sind:

  • Bewegung bessert
  • Weiten der Schultervorderseite ebenfalls

Und die Fragen:

  • Wie belastbar ist der Klient in den Übungen, welches Niveau an Anforderungen ist das passende zum Einstieg?
  • Haben die Übungen für einen jungen, sportlichen Mann das passende Anforderungsniveau?

Es ist denkbar, dass ihm eine Praxis schnell langweilig würde, wenn sie ihn körperlich nicht genügend fordert, wo er doch das Gefühl von Ausgepowert-Sein sehr genossen hat.

Fallbeispiel 2 – Praxis I

Eine Ausgangsfrage vorweg: Warum wurde sich für diesen ersten Übungsvorschlag (Praxis 1) entschieden? Alle Übungen, mit Ausnahme der Übung 5, beziehen bewusst das Bewegungssystem in seiner Gesamtheit in den therapeutischen Kurs ein.

Dass in jeder Übung das Bewegungssystem in seiner Gesamtheit angesprochen wird (und nicht einzelne Muskeln, Muskelgruppen, Bänder oder Gelenke) ist eine wichtige Grundlage der therapeutischen Arbeit mit Āsana und des sich daraus entwickelnden Heilungsprozesses.

Diesem Prinzip entsprechen auch die Erkenntnisse moderner Bewegungswissenschaft. Sie haben das alte Denken eines in Einzelteile zerlegbaren Bewegungsapparates überwunden und lehren in eindringlicher Weise die Verbindungen und Zusammenhänge von Haltung, Bewegung und Schmerz als neuromuskuläre Steuerungsprozesse fein aufeinander abgestimmter Motorik und ihre Beeinflussbarkeit durch mentale Prozesse. Wer schon einmal selbst über längere Zeit eine chronische Schmerzerkrankung des Bewegungssystems kennengelernt hat, weiß um die allmählich auftretenden neuen »Baustellen«, die das Bewegungssystem als Reaktion auf eine Störung an einer Stelle eröffnet.

Übung 1, und in noch größerem Maße Übung 2 verfolgen dieses Ziel: durch Aktivierung des Rückens die Schulter zu entlasten. Die Armbewegungen, die schmerzfrei möglich waren, wurden einbezogen; Grundlage ist die Hypothese – Bewegung hilft.

Übung 3 wird hier zum Weiten der Schultervorderseite eingesetzt.

Übung 4 wird als Ausgleich benutzt, aber auch zum Ausloten des schmerzfreien Bewegungsspielraums bei nach innen rotierter Schulter. Auch mit Übung 1 wurde diese Frage schon gestellt und beantwortet – eine Hand wird zum Rücken hin abgelegt.

Übung 5 stellt die Frage nach der Belastbarkeit der Schulter. Da der Arm zum Ablegen und zurück gehoben werden muss, wird darüber nach dem Spielraum schmerzfreier Muskelanspannung gefragt. Hier ist Herr S. auch in seiner eigenen Beobachtungsgabe gefordert.

Übung 6 dient als Ausklang und Ausgleich und soll das Schulterproblem im Bewusstsein relativieren.

Das Einführen einer Atemtechnik beim Ausatmen – bhrāmarī – ein Summen, verlangsamt die Bewegungen und entspannt. Um durch die Praxis aufgeworfene Fragen beim nächsten Treffen möglichst eindeutig beantwortet zu bekommen, verzichtet der Kurs bewusst auf weitere Übungen. Auch soll die 15 Minuten Dauer der Praxis nicht überschritten werden, sonst wäre die nötige Regelmäßigkeit im Üben gefährdet.

Erste Antworten:

Die zentralen Themen des nächsten Treffens nach acht Tagen sind Bestätigung und Revision der Hypothesen anhand der Erfahrungen von Herrn S. Was der Klient berichtet: Er konnte täglich üben. Alle Übungen waren schmerzfrei möglich, außer Übung 5 »es geht aber schon irgendwie«. Das Üben war insgesamt angenehm und entspannend. Im Alltag gab es keine Verbesserungen der Schmerzen. Was daraus folgt – es gibt eine Übung, die eher schadet, Übung 5, weil sie Schmerzen verursacht. Als Konsequenz wird sie aus dem Programm gestrichen.

Das Anforderungsniveau der Übungen insgesamt stimmt (der Klient hat gerne geübt) und das Üben hat ihn entspannt, das Prinzip von Entspannung – das langsame Ausatmen – scheint zu funktionieren; der Umfang der Praxis stimmt ebenso (der Klient hat es geschafft, täglich zu üben).

Die Schulter öffnenden Bewegungen (Übung 3) waren gut zu meistern. Dass sich im Alltag noch keine positive Veränderung zeigte, überrascht angesichts der langen Geschichte der Störung nicht.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis I

Fallbeispiel 2 – Praxis II

Mithilfe der folgenden Praxis 2 soll mehr erfahren werden. Im Gegensatz zum freien Heben erweist sich ein unterstütztes Armheben mithilfe eines leichten Holzstocks über vorn als vollkommen schmerzfrei.

  • Wird sich die Übung auch in der täglichen Wiederholung bewähren?
  • Verträgt der Klient noch mehr Öffnung der Schultern vorn (Übung 4 und 5)?
  • Verträgt er schon eine leichte Dehnung des vorderen Schulterbereichs (Übung 5)?
  • Ist intensivere Bewegung der Schultern möglich (Übung 6)?
  • Kann schon etwas Last auf die Schulter gegeben werden (Übung 7)?

Die Praxis wird über vier Wochen hinweg geübt. Der Klient berichtet, mit zwei oder drei Ausnahmen weiterhin regelmäßig praktiziert zu haben. Die Beschwerden zeigen Schwankungen; sie sind nicht mehr permanent, allerdings reagieren sie weiterhin deutlich auf entsprechende Belastungen, allem voran das Instrumentenspielen. Der Stress abbauende Effekt besteht weiterhin. Nach dem Üben fühlt sich Herr S. immer sehr wohl und ausgeglichen. Ein Versuch, das Summen durch Ujjayī zu ersetzen, zeigte, dass sich in diesem Fall die ­Ujjayī-Technik schlecht mit dem Spielen auf dem Blasinstrument vertrug. Es bleibt beim Summen – bhrāmarī – als Technik zur Verlängerung der Ausatmung. Das auch deshalb, weil das Summen, das Herr S. anfangs ein wenig »albern« empfunden hatte, nun sehr gern macht.

Alle Übungen waren schmerzfrei, außer Übung 7: Hier tauchte beim Drücken der Hände gegen die Wand regelmäßig nach dem zweiten Mal ein Schmerz auf – der Klient hatte sich deshalb entschieden, sie immer nur einmal anstelle von sechs Wiederholungen zu üben. Beim Demonstrieren der Übungen ist zu sehen, dass inzwischen beide Arme auch ohne Unterstützung über vorn deutlich höher als 45 Grad gehoben werden können.

Welche Schlüsse lassen sich hieraus ziehen?

  • Die Verstärkung des Aspekts von Stressabbau im gesamten Kurs hat gewirkt – diese Richtung stimmt offensichtlich und kann ab jetzt mit viel Sicherheit beibehalten werden.
  • Das synchrone Heben der Arme mit dem Stock verbessert die schmerzfreie Bewegungszone.
  • Das vermehrte Weiten der Schultervorderseite wird gut vertragen.
  • Mehr Bewegung im Schulter-Nackenbereich ist möglich (Übung 6).
  • Die Tatsache, dass die Beschwerden im Alltag sich nicht mehr als Dauerschmerz manifestieren, wird als ein deutliches Zeichen dafür gelesen, dass ein Heilungsprozess in Gang gekommen ist.

All diese neu gewonnenen Informationen helfen weiter, zu verstehen, wie der nächste Schritt aussehen kann und auf welche Art und Weise der Heilungsprozess zu unterstützen ist. Das alles wird in einer weiteren, neue Praxis III umgesetzt.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis II

Fallbeispiel 2 – Praxis III

Die Übung 7 aus Praxis 2 wurde gestrichen, sie hatte sich nicht bewährt. Rückblickend ist festzustellen, die Belastbarkeit überschätzt zu haben. Ansonsten folgen die Veränderungen gegenüber der 2. Praxis dem Prinzip der schrittweisen Steigerung von Anforderungen an Belastung und Beweglichkeit. Nachdem Übung 1 bisher mit stufenweiser Steigerung des Anhebens der Arme geübt wurde, werden sie nun von Beginn an so weit gehoben, wie es schmerzfrei möglich ist – ein Schritt, der den neu erreichten Bewegungsradius nutzt. Diese Verbesserung der Beweglichkeit wird auch dort aufgegriffen, wo die Arme ohne Unterstützung angehoben werden (2 und 6).

Beim Unterrichten zeigte sich, dass der linke Arm im Liegen jetzt schon schmerzfrei bis ganz nach hinten bewegt werden kann. Übung 4 greift das auf und stellt wie in Übung 5 aus Praxis 1 die Frage: Ist (anders als bei der ersten Praxis) die Anforderung des Hebens und Ablegens des Armes jetzt auch beim regelmäßigen Üben möglich?

Die Verlängerung des Ausatems mithilfe des Summtons in Übung 1 bereitet jetzt die strengere Atemführung in Übung 2 und 4 vor, eine intensivere stressreduzierende Ansprache an das Vegetativum. Die veränderte Übung 3 verlangt indessen mehr Anspannung im Schulterbereich – eine deutliche Steigerung der Anforderung.

In Übung 7 wird die Drehung und das Heranführen des Armes an den Körper im Vergleich mit Übung 6 vom vorigen Kurs verstärkt.

Eine neue Frage wirft die Übung 8 auf: Wie reagiert der Klient auf eine intensivere Dehnung des Schultergürtels?

Die Schwerpunkte des neuen Kurses:

  • Die Intensivierung der Aspekte zur Stressreduktion (Ausatembetonung)
  • Eine größere Anforderung an die Mobilität, Belastbarkeit und neuromuskuläre Koordination des gesamten Schulterbereichs

Beim nächsten Treffen, Herr S. übte diese Praxis 2 Monate lang, berichtet er über eine etwas reduzierte Regelmäßigkeit im Üben. Der Kurs sei auch ein wenig zu lang gewesen. Die Übung 8 hatte er allerdings gleich nach dem zweiten Üben weggelassen, weil sie einen Schmerz auslöste, der »das ganze vorige Üben verdarb«, so seine Aussage. Die Erkenntnis aus dieser Erfahrung war eine zweifache.

  • Zum einen: Eine regelmäßige stärkere Dehnung des Schultergürtels zusammen mit der Schulterinnenrotation in der Vorbeuge ist (noch) nicht möglich.
  • Zum Anderen: Es wäre sinnvoller gewesen, die Frage danach nicht am Ende des Kurses zu stellen, weil dadurch die gesamte positive Übungserfahrung beeinträchtigt würde. Erfreulicherweise hatte Herr S. das Problem selbstständig in richtiger Weise gelöst.

Eine große Verbesserung hatte es dafür nach 5 Wochen »fast schlagartig« gegeben: Er konnte jetzt ohne Probleme wieder lange Konzertproben bestehen und das Spielen seines Instruments machte ihm wieder Freude. Fahrradfahren und Brustschwimmen hatte er daraufhin, wenn auch vorsichtig, wieder aufgenommen. Die Übung 3, in der er sich auf dem Stuhl sitzend nach vorn beugt und wieder aufrichtet, macht er nun des Öfteren auch während der Proben. Sein neuer Wunsch: Mehr Fokus auf den oberen Rücken, da der sporadisch in Spannung gerate.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis III

Fallbeispiel 2 – Praxis IV

Die neue Praxis bleibt bei der Betonung der Ausatmung (Übung 1, 5 und 7). Der Bewegungsspielraum im Schulterbereich wird durch eine Seitbeuge erweitert (Übung 2). Nachdem es beim Unterrichten vollkommen schmerzfrei möglich war, in einer Variante von cakravākāsana schrittweise immer mehr Last auf die Schultern zu geben, wird mit dieser Variante ein neuer Versuch gewagt (ein früherer Versuch mit der Übung 7 in der 2. Praxis war gescheitert).

Auch die Veränderung in Übung 4 hat ein ähnliches Ziel: Hier bewegt der Klient die Arme beim Anheben und Ablegen des Rumpfes. Apanāsana (Übung 5) ist inzwischen problemlos möglich. Übung 6 ist eine Antwort auf den Wunsch, dauerhaft eine gesunde Spannung im oberen Rücken zu erreichen. Übung 7 ist Ausgleich und vertraut darauf, dass eine deutliche Ausatemverlängerung auch durch die nur mentale Begleitung der Ausatmung mit einem inneren Summton gewährleistet ist.

Herr S. hatte sich vor einem verabredeten 5. und letzten Termin gemeldet und berichtet, dass er inzwischen wieder beschwerdefrei und voll belastbar sei. Seine Übungen mache er trotzdem weiter, 3 Mal pro Woche.

Die Technik der Atemverlängerung durch Summen ist mittlerweile sein täglicher Begleiter geblieben. Er mache es dann aber ohne Bewegung, setze sich dazu auf einen Stuhl oder Hocker. Besonders häufig so, wie in der letzten (7.) Übung vorgeschlagen, mit einem mentalen, inneren Summton.

Der Fall dieses jungen Mannes unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von dem, über den zuvor berichtet wurde. Viele Informationen ließen sich bei Herrn S. in direkter Beobachtung ermitteln, Verbesserungen oder Verschlechterungen konn­ten teilweise unmittelbar auf die eine oder die andere Übung bezogen werden. Mit der genauen Kenntnis der einzelnen Asanas als Hintergrund ließen sich schnell sehr gezielte Fragen stellen und Antworten finden. Aber in beiden Fällen bleibt wie in jeder Yogatherapie die Prozessorientierung die zentrale Struktur – ganz unabhängig davon, mit welchem Anliegen KlientInnen kommen.

Warum? Weil Charakter und Struktur einer Störung vielschichtig sind und sich für die Yogaarbeit nicht mit einer nur schul- oder alternativmedizinischen »Diagnose« erfassen lassen. Weil es stattdessen Dialog und Zeit benötigt, um durch unvoreingenommenes Zuhören, Beobachten und intelligente Praxisvorschläge das Anliegen, Leiden und die Möglichkeiten eines Menschen zu verstehen.  Weil jeder Mensch und jedes Bedürfnis nach Heilung durch Yoga ein ganz besonderes ist. Und: Weil sich mit Einschätzungen und Vorschlägen getäuscht werden kann.

Yogapraxis – Yoga als Therapie
Praxis IV

Dieser Artikel ist ursprünglich
erschienen in Viveka Heft
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