Was meint „natürlicher“ Atem?
Es gibt die Auffassung, der „natürliche“ Atem würde sich dann am besten entwickeln, wenn er nicht gestört wird. Technisch sieht das dann oft so aus, dass der Atem nur als Objekt der Beobachtung zugelassen wird, nicht aber einer willentlichen und bewussten Veränderung unterworfen werden darf.
Was also meint „natürlicher“ Atem?
Wenn ich sehr schnell renne, ist mein „natürlicher“ Atem heftiger und tiefer als in Ruhe, weil mein Körper ihn so benötigt. Wenn ich Angst habe, ist es nur natürlich, dass mein Atem „eng“ wird. Wenn ich schlafe, ist mein „natürlicher“ Atem ein anderer, als wenn ich ihn zum Beispiel beobachte oder ein Āsana übe.
Soll „natürlich“ für einen „guten“ Atem stehen?
Dann ist darüber zu sprechen, wie ein „guter“ Atem auszusehen hat. Ist es ein Atem, der sich den unterschiedlichsten Anforderungen, die an ihn gestellt werden, optimal anpasst? Oder einer, der immer gleich bleibt, egal, was ich tue, denke und vorhabe?
Schließlich: Was gibt uns Grund zu glauben, dass sich ein positives Muster in uns allein deshalb durchsetzt, weil wir darauf warten und keine besondere Aktivität in eine bestimmte Richtung entfalten? Wenn Menschen ihren Körper sich selbst überlassen, dann krümmt sich in der Regel ihr Rücken, sie entwickeln Fehlhaltungen, der Körper verharrt in negativen Mustern. Wenn wir nicht gerade jeden Tag jagend durch die Wälder ziehen (was körperlich recht anstrengend und fordernd ist), entwickelt unser Körper fast zwangsläufig solche oder ähnliche negative Muster. Um dies zu verändern oder zu überwinden, bedarf es einer besonderen, aktiven und sehr bewussten Anstrengung.
Wir beobachten beispielsweise in der Praxis von Āsana nicht einfach unsere „natürliche“ Haltung, sondern fordern den Körper, greifen aktiv ein, indem wir ihn etwa lehren, sich aufzurichten.
Dagegen halten könnte man, dass unser Atem etwas viel Subtileres als unser Körper sei. Dann sollte es erlaubt sein, noch einen Schritt weiterzugehen: noch subtiler als unser Atem ist ohne Zweifel der Geist. Und wohin bewegt er sich, wenn wir ihm seinem „natürlichen“ Muster überlassen? Er springt hierhin und dorthin, ist oberflächlich, flüchtig und folgt jedem Reiz, der von außen auf ihn trifft. Auch dieser ganz „natürliche“ Zustand unseres Geistes ist verbesserungswürdig, und auch er verändert sich nachhaltig erst dann, wenn wir aktiv in seinen natürlichen Fluss eingreifen.
Wieviel Anstrengung kostet es uns, wenn wir nichts weiter tun wollen, als unseren Geist zu beobachten und dabei nicht ins Träumen, Dösen oder das übliche Umherspringen geraten möchten?
Eine aufrechte Haltung, ein ausgerichteter Geist, beides ist das Ergebnis eines bewussten und aktiven Eingreifens, in dem gegen eine alte eine neue Qualität geübt, erlernt und schließlich so etabliert wird, dass sie auch über das Üben hinaus Bestand hat. In der Regel ist dies mit einiger Mühe verbunden und nur dadurch erreichbar, dass der Tendenz des Körpers zur Krümmung und der des Geistes zur Zerstreutheit eine andere, bessere Tendenz entgegensetzt und in der Wiederholung dieses Bemühens nicht nachlasse wird.
dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 53
Der Geist ist nun gut vorbereitet und fähig für den Prozess, sich auf ein gewähltes Ziel auszurichten.
Was also soll das Besondere oder gar Gefährliche daran sein, wenn auf die gleiche Weise mit dem Atem verfahren wird? Auch eine Geigenspielerin wartet nicht einfach darauf, dass sich aus ihrem Strich mit dem Bogen über die Saiten ein harmonischer Ton entwickelt. Es ist das Ergebnis eines kontinuierlichen, disziplinierten Übens.
Wie unser Körper und Geist ist auch der Atem natürlicherweise weit entfernt von seinen Möglichkeiten und auch er benötigt eine aktive Intervention, die ihn alte und negative Muster überwinden und neue positivere finden lässt.
Natürlich gilt bei der praktischen Realisierung eines solchen Vorhabens für den Atem das Gleiche wie für den Körper und den Geist: Wenn das für mich falsche geübt wird, wenn nicht in geeigneten Schritten vorgegangen wird, wenn Grenzen nicht respektiert werden, wenn Quantitäten und nicht Qualitäten in den Mittelpunkt gestellt werden, wenn Techniken zum Selbstzweck werden, wenn geglaubt wird, Yoga ließe sich aus Büchern lernen, dann kann jede Arbeit, seien es Körperübungen, seien es Atemübungen, seien es Übungen der Konzentration und Meditation Schaden anrichten.
Und es kann vielen Yoga übenden der Spaß und die mögliche gute Erfahrung mit Prāṇāyāma dadurch genommen werden, dass sie mit unsinnigen Praktiken, falschen Ansprüchen an ein „wahres“ oder sogenanntes „klassisches“ Prāṇāyāma und einer unpassenden Pädagogik konfrontiert wurden. Es ist, um an die kurze Diskussion der Sūtren des Patañjali zu erinnern, auch nicht in besonderem Maße der Tradition verpflichtet, wenn Prāṇāyāma auf das möglichst lange Halten des Atems reduziert wird.
Tatsächlich kann etwa eine Atemverhaltung nach einer langen und gleichmäßigen Ausatmung unter bestimmten Umständen die Wirkung dieser Ausatmung verstärken. Sie kann es, muss es aber nicht. Die Techniken der Atemverhaltung sind von ihrem Konzept, ihrer Wirkung, ihren technischen Voraussetzungen und Schwierigkeiten her nur verständlich als besondere Betonung jener Atemphase, die einer solchen Verhaltung vorangegangen ist.
So stellt sich die Frage, warum es Sinn ergeben sollte, mit den in der Haṭha Yoga Pradīpikā aufgezählten unterschiedlichen Atemtechniken ein- und auszuatmen, wenn es wesentlich nur um den Atemstillstand ginge. Gerade bei Techniken wie nāḍī śodhana oder ujjayī ist die Verlängerung der Atemdauer, in der das besondere dieser Techniken (Atem fließt nur durch eine Nasenseite und wird dort reguliert; Atem wird durch einen Kehllaut reguliert und gerichtet) stattfindet und wirkt, essenziell. Die Atemverhaltung kann die dabei genommene Richtung verstärken und modifizieren, und sie ist sicher absolut nötig für eine Technik wie uḍḍīyāna bandha. Der Inhalt dieser Techniken wird aber wesentlich durch die Richtung der Atembewegung, nicht durch das Halten bestimmt.
Was daraus folgt.
Jede der zahlreichen Techniken des Prāṇāyāma hat ihre besonderen Wirkungen, Vorzüge, Nachteile und Risiken. Nicht anders als bei der Arbeit mit Āsana, wo nicht jedes Āsana für jede Person als Übung Sinn ergibt, taugt auch nicht jedes Prāṇāyāma für jede Person und jede Zeit. Was jemanden wirklich weiterbringt oder schließlich zu einer gewünschten Wirkung führt, muss immer wieder neu gefunden und erprobt werden. Ein Vorgehen in angemessenen Schritten ist dabei unabdingbar.
- Das Unterrichten von Prāṇāyāma bedarf deshalb einer individuellen Begleitung. Welche Technik, für welche Person in ihrer regelmäßigen und selbstständigen Praxis im Mittelpunkt stehen sollte, hängt nicht nur von deren individuellen Möglichkeiten ab, sondern vor allem auch davon, welche Art von Veränderungen mit dem gewählten Prāṇāyāma erreicht werden soll.
- Die positiven Wirkungen von Prāṇāyāma entfalten sich gerade mithilfe einfacher Technik, die das Erreichen einer besonderen Atemqualität nicht nur möglich, sondern auch in jedem Moment des Übens überprüfbar machen muss. Deshalb sollte im Prāṇāyāma auch tatsächlich der Atem, sein Fluss und seine Veränderung in einer bestimmten Richtung im Mittelpunkt stehen.
So benutzt, kann Prāṇāyāma tatsächlich zu dem werden, was Vyāsa als das Besondere der Atemübungen ins Schwärmen brachte – Nichts übertrifft Prāṇāyāma an Kraft, um uns von Blockaden zu befreien. ▼