Der Fluss des Lebens – Vom Umgang mit Prāṇāyāma

Viele Yoga übende und Yogaunterrichtende haben Schwierigkeiten mit den Atemübungen des Yoga. Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass das eigentliche Ziel der Arbeit mit dem Atem im Yoga oft unklar ist.

Dieser Artikel, der den Beginn einer Serie über Prāṇāyāma darstellt, beantwortet grundlegende Fragen zu diesem Thema.

An dieser Stelle noch ein Hinweis: Informationen zur Aussprache und Schreibweise der verwendeten Sanskrit-Begriffe findest Du im Bereich Fragen und Antworten.

Der Fluss des Lebens – Vom Umgang mit Prāṇāyāma

Viele Yoga übende und Yogaunterrichtende haben Schwierigkeiten mit den Atemübungen des Yoga. Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass das eigentliche Ziel der Arbeit mit dem Atem im Yoga oft unklar ist.

Dieser Artikel, der den Beginn einer Serie über Prāṇāyāma darstellt, beantwortet grundlegende Fragen zu diesem Thema.

An dieser Stelle noch ein Hinweis: Informationen zur Aussprache und Schreibweise der verwendeten Sanskrit-Begriffe findest Du im Bereich Fragen und Antworten.

Der Fluss des Lebens – Vom Umgang mit Prāṇāyāma

Viele Yoga übende und Yogaunterrichtende haben Schwierigkeiten mit den Atemübungen des Yoga. Eines der Hauptprobleme besteht darin, dass das eigentliche Ziel der Arbeit mit dem Atem im Yoga oft unklar ist.

Dieser Artikel, der den Beginn einer Serie über Prāṇāyāma darstellt, beantwortet grundlegende Fragen zu diesem Thema.

An dieser Stelle noch ein Hinweis: Informationen zur Aussprache und Schreibweise der verwendeten Sanskrit-Begriffe findest Du im Bereich Fragen und Antworten.

Einleitung

Manchmal wird bezweifelt, ob Prāṇāyāma überhaupt für westliche Menschen sinnvoll ist. Dabei wird sich oft auf moderne Atemschulen bezogen, die scheinbar eine bewusste Veränderung des Atems ablehnen. Sie weisen nicht nur auf die Anspannung hin, die durch direktes Arbeiten mit dem Atem eher neue Blockaden als einen freien Fluss hervorbringt, sondern auch auf die Tendenz, alles kontrollieren zu wollen. Sie möchten den Atem vor solchen Eingriffen bewahren.

Oft basieren diese Einschätzungen auf schlechten Erfahrungen mit Prāṇāyāma, bei denen ein verkrampfter Kampf mit dem Atem, unüberwindbare Anforderungen oder abenteuerlich anmutende Übungen den Unterricht geprägt haben.

Kritiker von Prāṇāyāma beziehen sich auch auf Anleitungen und Texte, die tatsächlich den Eindruck erwecken, dass das Ziel von Prāṇāyāma darin besteht, den Atem gewaltsam zu unterdrücken, anstatt ihn zu entwickeln.

Zu oft wird Prāṇāyāma dogmatisch und unreflektiert praktiziert. Es fehlt Raum für Fragen wie:

  • Welche Techniken sind für wen und wann sinnvoll?
  • Ergibt es Sinn, alle sogenannten „klassischen“ Prāṇāyāma-Techniken zu üben?
  • Wie geht man mit Schwierigkeiten um und welche Risiken sind mit welcher Technik verbunden?
  • Ist der Erfolg von Prāṇāyāma daran zu messen, wie lange jemand den Atem anhalten kann?

In diesem Artikel wird anhand einzelner Sūtren aus dem Yoga Sūtra nach Patañjali erläutert, welche Ziele Prāṇāyāma hat und wie sie in Schritten erreicht werden können. Insbesondere anhand der Interpretation von Patañjalis Sūtren, in denen er Prāṇāyāma erklärt, wird deutlich, wie missverständlich und praxisfern über Prāṇāyāma gesprochen werden kann.

In einer Übersetzung von I. K. Taimni wird beispielsweise Patañjalis erstes Sūtra zu Atemübungen so gelesen: Prāṇāyāma ist „das Aufhören der Ein- und Ausatmung“.

Später werden wir sehen, dass Patañjali tatsächlich ein ganz anderes Konzept von Prāṇāyāma vertritt.

Dennoch finden sich Vorstellungen, die Prāṇāyāma als das Beenden der Atmung ansehen, sowohl im Westen als auch in Indien. Es ist das Ideal des Asketen, der sich tief in die Erde gräbt und dort tagelang oder sogar wochenlang ohne Atmung überlebt, um seine Vollkommenheit in den Techniken des Yoga zu zeigen. Das eigentliche Ziel von Prāṇāyāma in dieser Vorstellung ist tatsächlich ein Zustand ohne Atem.

  • Welche Konsequenzen hat eine solche Vorstellung für die Arbeit mit dem Atem?
  • Welche grundlegenden Ideale stecken hinter einer solchen Zielrichtung und welches Bild von der Entwicklung des Menschen im Yoga wird damit vermittelt?
  • Sollte das Hauptziel der Atemübungen im Yoga wirklich darin bestehen, den kontinuierlichen Fluss des Ein- und Ausatmens so weit wie möglich zu unterbinden?
  • Ist der Fluss unseres Atems nicht vielmehr die Grundlage für den Fluss von Prāṇa, der Lebensenergie in uns?

Es hilft nicht, diesen Fragen auszuweichen, indem man eine Trennlinie zwischen „vorbereitenden“ Übungen für normale Menschen und den eigentlichen Geheimnissen von Prāṇāyāma zieht, die nur wenigen vorbehalten sind. Es ist wichtig, das Konzept von Prāṇāyāma insgesamt zu verstehen und die grundlegenden Vorstellungen, auf denen es basiert, zu hinterfragen.

Ein solches Konzept sollte nicht nur das Ziel zeigen, sondern bereits im ersten Schritt nachvollziehbar sein.

  • Wohin sollten wir uns also bemühen, wenn wir Prāṇāyāma üben?
  • Anhand welcher Kriterien können wir prüfen, ob wir in die richtige Richtung gehen?

Die Ängste, Bedenken oder auch Ablehnung gegenüber Prāṇāyāma sind zum Teil auf dieses spezielle Verständnis zurückzuführen, dass das Erreichen eines Atemstillstands das höchste Ziel ist.

Wenn man das vollständige "Stilllegen" der Atembewegung als idealen Zustand einer Atemtechnik betrachtet, ist es nicht verwunderlich, dass jemand den Weg dorthin als hinderlich für die Entwicklung eines freien und gesunden Atems oder sogar als lebensfeindlich ansieht.

Die Einwände und Zurückhaltung gegenüber der Praxis von Prāṇāyāma sind jedoch auf einem Missverständnis begründet. Es mag Menschen innerhalb der vielfältigen Tradition des Yoga gegeben haben und geben, die nach Zuständen suchen, die dem Tod näher sind als dem Leben. Glücklicherweise ist das Konzept des Yoga und seiner Übungstechniken, zu denen auch Prāṇāyāma gehört, von anderem Inhalt. Insbesondere die Sūtras von Patañjali machen dies deutlich. Was Patañjali unter Prāṇāyāma versteht, wie seine Ausführungen im täglichen Unterricht als wichtigster Leitfaden dienen kann und eine solide Grundlage für die weitere Diskussion über Prāṇāyāma bietet, wird im Folgenden beschrieben.

Diese Interpretation der Sūtras von Patañjali folgt dem Verständnis der Yoga Sūtras in der Tradition von T. Krishnamacharya. Für ihn war das Yoga Sūtra nicht nur die maßgebliche Referenz für alle Fragen des Yoga, sondern ein Text, der sich in der Praxis über die Jahrhunderte bewährt hat und deshalb auch als Leitfaden durch die manchmal widersprüchlichen und erklärungsbedürftigen Anleitungen zur Praxis von Prāṇāyāma in Texten wie der Haṭha Yoga Pradīpikā, der Yogayajñavalkya, der Gerandha Samhitā und anderen dienen kann.

T. Krishnamacharya’s umfassende Sanskritkenntnisse, seine herausragende Yogapraxis sowie sein kompromissloser und vielseitiger Bezug auf die alte Yogatradition bilden die Grundlage seiner Erläuterungen zu den Yoga Sūtras.

Das Prāṇāyāma Konzept im Yoga Sūtra

Um die Sūtren über Prāṇāyāma zu verstehen, muss kurz daran erinnert werden, welche Zusammenhänge Patañjali zwischen Körper, Atem und Geist herstellt. Wenn unser Geist in Unruhe und Konflikt gerät, dann drückt sich dies in unserem Fühlen, unserem Körper und eben auch in unserem Atem aus. Wie, das wird im ersten Kapitel des Yoga Sūtra dargestellt (1. Kapitel – Sūtra 31).

Sind wir unklar, unruhig im Geist, kann sich dies ausdrücken in einem Gefühl von Bedrücktheit und Unzufriedenheit (duḥkha) oder tiefer Niedergeschlagenheit.
(daur­manasya), es kann sich in Disharmonien auf der Ebene des Körpers (aṅgamejayatva) zeigen und schließlich kann auch unser Atem gestört sein. Ein solcherart zustande gekommenes und negatives Atemmuster nennt Patañjali śvāsa-praśvāsāḥ.

duḥkha daurmananasya aṅgamejayatva śvāsa-praśvāsāḥ vikṣepasahabhuvaḥ
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 31

Ein Gefühl von innerer Enge, ein Gefühl von tiefer Niedergeschlagenheit, eine Störung des harmonischen Gleichgewichtes körperlicher Funktionen oder die Unmöglichkeit, den Atem ruhig zu führen, gehen einher mit einem Geist, der in Probleme verwickelt ist.

In der Einleitung seiner Darste­l­lung der Grundprinzipien des Prāṇāyāma erinnert Patañjali daran, dass unser Atem normaler­weise oberflächlich, unbewusst und gestört ist. Prāṇāyāma, so heißt es im Yoga Sūtra (2. Kapitel – Sūtra 49), ist die Unterbrechung die­ser negativen Atemqualität, das Unterbrechen von śvāsa-praśvāsāḥ.

tasminsati śvāsapraśvāsayoḥ gativicchedaḥ prāṇāyāmaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 49

Das Unterbrechen unbewußter Atemmuster ist erst dann möglich, wenn die Praxis von Āsana in einem gewissen Maß beherrscht wird.

Danach geht es im Prāṇāyāma nicht um die Abschaf­fung der Atembewe­gung insgesamt, sondern lediglich um das Beenden eines verbesserungswürdigen Atemmusters.

Warum sollte mit śvāsa-praśvāsāḥ, anders als dort, wo dieser Begriff von Patañjali mit eindeutigem Inhalt eingeführt wird (1. Kapitel – Sūtra 31), die Atem­bewegung überhaupt ge­meint sein, wie uns manche Übersetzungen dieses Sūtra nahelegen wollen?

Der Atem – fein, gleichmäßig und lang

Ein kurzer Blick auf das folgende Sūtra reicht, um Patañ­jalis Anliegen in seiner Eindeutigkeit zu verstehen. Zuerst nennt er jene drei Aspekte des Atems, die Gegen­stand des Übens werden können (2. Kapitel – Sūtra 50; siehe etwas weiter unten im Text):

  • die Bewe­gung der Ausatmung (bāhya-vṛtti)
  • die Bewe­gung der Einatmung (ābhyantara-vṛtti))
  • die Verhaltung des Atems (stambḥa-vṛtti)

Wozu diese Aufzäh­lung, wenn es im Prāṇāyāma nur um die Atemverhal­tung ginge? Und weiter: Patañjalis Konzept von Prāṇāyāma besteht nicht nur darin, ein Beenden negativer Atemmuster einzufordern. Er nennt vielmehr eine Qualität, in deren Richtung sich dieser Atem verändern kann und soll. Der Inhalt von Prāṇāyāma besteht somit im Bemühen, sich dieser besonderen Atemqualität schrittweise an­zunähern.

Diese Qua­li­tät besteht darin, unseren Atem sowohl lang (dīrgha) als auch gleichförmig, fein (sūkṣma) zu führen.

Damit ist der eigentliche Kern des Prāṇāyāma-Konzeptes im Yoga Sūtra beschrieben. Nicht das Aussetzen des Atems steht im Mittelpunkt, sondern die Frage nach der Qualität seiner Bewegung. Keine Kurzatmigkeit und keine Unruhe im Fluss des Atems, sondern die Herstellung einer feinen und langen Atembewe­gung, das ist das Ziel, das ist die Definition von Prāṇāyāma. Lang und fein, ein Atem von solcher Qualität ist es, der den Fluss des Prāṇa, der Lebensenergie selbst, erreichen und beeinflussen kann. Ohne diese Qualität, so die Vorstellung, fühlt sich Prāṇa beim Üben welcher Tech­nik auch immer, nicht angesprochen.

Wer mit dem Yoga Sūtra etwas vertrauter ist, wird diese Definition an jenes erinnern, mit dem er einige Sūtren vorher (2. Kapitel – Sūtra 46) das Ziel der Arbeit mit den Āsana beschreibt: Fest und leicht (sthira sukham), sagt Patañjali dort, so soll die Qualität eines Āsana sein.

Die gleichzeitige Herstellung von Festig­keit und Leichtigkeit im Körper ist nicht einfach: Dem Bemühen, Fe­stigkeit im Körper zu erreichen, fehlt gewöhnlich die Leichtigkeit und es entsteht daraus schnell Verkram­pfung und Starrheit; wollen wir uns dagegen besonders leicht fühlen, endet das gerne in der Bequem­lichkeit eines Fernsehsessels. Ähnlich schwierig ist es mit der gleichzeitigen Her­stellung von Feinheit und Länge in der Atembewegung. Es mag vielleicht einfach sein, den Atem zu verlängern, wenn wir keinen Anspruch an seine Feinheit und Gleichmäßig­keit stellen. Ebenso ist es nicht sehr schwierig, den Atem fein werden zu lassen, wenn wir uns nicht gleichzeitig um seine Verlän­gerung kümmern müssen. In Indien wird dazu gerne ein Vergleich be­müht, der Patañjalis Ziel im Prāṇāyāma anschaulich macht.

Jeder Brahmane trägt traditio­nellerweise eine Schnur, die von einer Schulter aus schräg über den Oberkörper läuft. Diese Schnur musste ihr Träger in einem be­stimmten Ritual selbst spinnen. Für die ungeübte Hand bieten sich zwei Lösungen an: Wenn die Schnur lang werden und nicht ab­rei­ßen soll, dann gelingt dies dem Anfänger nur, wenn er ihre Regelmäßigkeit außer Acht lässt. Die Folge ist ein grober Strang mit Knollen und dem Wechsel von sehr dicken, unförmigen und äußerst dünnen, feinen Abschnitten. Beim Versuch, die Schnur sehr gleich­mäßig und fein zu spinnen, reißt sie in der Regel ab.

Länge und feines Gleichmaß, diese Qualitäten im Atemfluß gleichzeitig zu erreichen, ist tatsächlich nicht ganz einfach.

Aber es ist das Bemühen um die Verbindung dieser beiden Qualitäten, was das Üben von Prāṇāyāma charakterisiert. Wie in den Sūtren über die Āsana beschreibt Patañjali auch für das Prāṇāyāma über diese Definition seines Inhalts hinaus die wichtig­sten As­pekte, die zur Erreichung des angestrebten Zieles not­wendig sind und welche Ergebnisse zu erwarten sind.

Zur Erarbeitung einer Atem­qualität, die sich durch Gleich­mäßigkeit und Länge auszeichnet, benötigen wir bestimmte Techniken. Diese Techniken sind kein Selbst­zweck und Patañjali beschreibt im 2. Kapitel – Sūtra 50, welche Aspekte dabei von besonderer Wichtigkeit sind.

bāhya abhyantara stambhavṛttir deśa kāla saṃkhyābhiḥ paridṛṣṭo dīrghasūkṣmaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 50

Die Regulierung der Ausatmung, der Einatmung und der Atemverhaltung, diese drei Prozesse werden durch das Verhältnis ihrer Länge zueinander bestimmt. Ziel ist es dieses Atemverhältnis über eine gewisse Anzahl von Atemzügen beizubehalten, den Geist auf diesen Prozess auszurichten und dadurch einen langen und gleichförmigen Atem zu erreichen.

Zum einen verlangt Prāṇāyāma einen klaren Ort der Ausrichtung (deśa).

Wohin sollen wir uns ausrichten?

  • Zum Beispiel auf die Feinheit des Tones in der Kehle bei einer Technik wie der Ujjāyī-Atmung, in der der Atem durch die Erzeugung eines sanften Kehltons reguliert wird.
  • Oder auf die Feinheit des Atem­flusses in der Nase, wenn wir in einer Technik wie dem nādī-śodhana den Atemfluss an den Nasenflügeln mithilfe des Druckes unserer Finger regulieren.
  • Oder schlicht auf die Bewe­gung des Atems im Brustkorb und Bauch.

Nicht nur für Anfänger ist es von großer Wichtigkeit, in der Aus­richtung während des Prāṇāyāma auf solche oder ähnliche Weise eindeutig zu bleiben.

Zum anderen gilt es sich mit der Frage des Zeit­verhältnisses der einzelnen Atem­phasen (Ausatmung, Einatmung und Atemverhaltung) zueinander auseinanderzusetzen (kāla).

  • Wie lang ist die Ausatmung im Verhältnis zur Einatmung?
  • Wie lang sind die Ver­haltungen des Atems im Ver­hältnis zur Ein- und Ausatmung?

Wenn wir uns fragen, in welche Richtung ein Prāṇāyāma wirkt, dann ergibt sich die Antwort darauf wesentlich daraus, welches Atemver­hältnis ihm zugrunde liegt.

  • Betonen wir die Einat­mung oder die Ausatmung?
Gerade auf dieser praktischer Ebene zeigt sich ein weiteres Mal, wie unbrauchbar ein unreflektiertes Üben nach Texten wie etwa der Haṭha Yoga Pradīpikā ist.

Auf den ersten Blick scheint dieser Text nahezulegen, während des Übens von Prāṇāyāma müsse besonders die Einatmung, ja primär sogar das Anhalten des Atems mit voller Lunge betont werden. Interessant ist das Konzept, das hinter dieser Vorstellung steht; was die Praxis angeht, so gilt das genaue Gegenteil. Es ist vorwiegend die Be­tonung der Ausatmung, die die meisten Menschen benötigen, um Yoga zu lernen.

Für ein Wochenende mag es eine interessante und beeindruckende Erfahrung sein, verschiedenste Atemtechniken, schwierige Atem­verhaltungen und anderes zu üben. Soll Prāṇāyāma tatsächlich zu Ver­änderungen in uns führen, soll es von Wirkung sein, dann braucht es jedoch Kontinuität und Einfach­heit. Und vor allem eine klare Richtung, die dem Menschen angepasst ist, und diese Richtung liegt für die meisten Übenden gerade in einer Beto­nung der Bewegung der Aus­at­mung, wie immer die entsprechende Technik auch im Einzelnen aussehen mag.

Die Bedeutung von Aus- und Einatmung

Für jede Annäherung an das Üben von Prāṇāyāma wies T. Krish­na­macharya darüber hinaus auf die Bedeutung gerade der Ausatmung auch in der Pädagogik Patañjalis hin.

Im 2. Kapitel – Sūtra 50 (siehe oben) werden die verschiedenen, im Prāṇāyāma modifizierbaren Atemprozesse in folgender Reihenfolge genannt:

  • Ausat­mung
  • Einatmung
  • Atemverhal­tung.

Jede Atemtechnik wird zuerst in der Ausatmung geübt. Erst wenn sich dabei die nötigen Fort­schrit­te zeigen, kann sich einer Verän­derung der Einatmung zugewendet werden. Und wenn der oder die Übende in der Lage ist, sowohl in der Ein- als auch in der Ausat­mung ohne Mühe eine hohe Quali­tät (siehe oben) im Atemfluss zu erreichen, wird mit den Atemver­haltungen weiter gearbeitet.

Sind diese Techniken erarbeitet, ist es nicht beliebig, welche davon im täglichen Üben benutzt werden, ausgewählt werden diejenigen, die in die richtige Richtung weisen und unerwünschte Stö­rungen beseitigen.

Schließlich bedarf Prāṇāyāma auch noch einer angemessenen Anzahl von Wiederholungen (sāṃkhya), ohne die unser Üben wenig Wirkung und Ent­wicklungs­mög­lichkeiten hätte. Ziel ist es, ein bestimmtes Atemverhältnis und eine spezielle Atemtechnik über eine gewisse Anzahl von Atemzügen hinweg aufrechtzuerhalten, damit die gewünschte Wirkung erzielt wird. So kann erspürt werden, ob im Rahmen der eigenen Möglichkeiten geübt wird und weder eine Unter- noch eine Überforderung entsteht.

bāhya abhyantara viṣayākṣepī caturthaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 51

Das Überschreiten der bewußten Regulation der Ein- und Ausatmung wird als vierter der Prozesse des Atems bezeichnet.

Im 2. Kapitel – Sūtra 51 weist Patañjali darauf hin, dass im Prāṇāyāma durch den Atem außerordentliche Erfahrungen unterschied­lichster Art gemacht werden können. Das eigentliche Ziel und gleich­zeitig der entscheidende Maßstab für sein Gelingen sind jedoch die Tatsache, dass der Geist Aus­richtung und Sammlung erfährt (2. Kapitel – Sūtra 52 und 53).

tataḥ kṣīyate prakāśāvaraṇam
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 52

Die regelmäßige Praxis von Prāṇāyāma verringert die Blockaden, die uns an einer klaren Wahrnehmung hindern.

Diese Klärung und Beruhigung unseres Geistes, die Herstellung einer größe­ren Fähigkeit zur Ausrichtung ist dabei das Maß aller Dinge, nicht unklare besondere Erlebnisse im Prāṇāyāma, die vielleicht spektakulär und deshalb als besonders attraktiv erscheinen mö­gen. Aber nicht anders als bei den Erfah­run­gen im Üben von Āsanas oder in der Meditation ist eben nicht das besonders Spektakuläre ge­fragt. Ein Erfolg im Prāṇāyāma zeigt sich vielmehr darin, dass sich eine regelmäßige Praxis etablieren lässt und der Atem dadurch feiner, weiter und länger wird. Mit der Zeit wird der Geist ruhiger, klarer und offener, während die Energien (prāṇa) freier fließen, Blockaden gelöst, das Wohlbefinden gesteigert und die Lebenskraft gestärkt wird.

Kurz zusammengefasst:

Die Veränderung unseres Atemflusses hin zu einer Qualität, die sich durch Feinheit und Gleichmaß einerseits und Länge andererseits auszeichnet, ist das Ziel im Prāṇāyāma. Eine bestimmte Atemtechnik zu beherrschen heißt somit, mithilfe dieser Technik einen gleichmä­ßigen und verlängerten Atem zu erreichen. Eine Vertiefung und Intensivierung von Prāṇāyāma bedeutet, einen noch gleichmäßigeren, noch längeren Atemfluss zu erreichen. Ein solcher Eingriff in den Atem und seine bewusste Veränderung in diese Richtung haben Folgen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Der Atem selbst wird verbes­sert und die Fähigkeit unseres Geistes zur Ausrichtung wird ge­stärkt.

Was meint „natürlicher“ Atem?

Es gibt die Auffassung, der „natürliche“ Atem würde sich dann am besten entwickeln, wenn er nicht gestört wird. Technisch sieht das dann oft so aus, dass der Atem nur als Objekt der Beobachtung zugelassen wird, nicht aber einer wil­lentlichen und bewussten Veränderung unterworfen werden darf.

Was also meint „natürlicher“ Atem?

Wenn ich sehr schnell renne, ist mein „natürlicher“ Atem heftiger und tiefer als in Ruhe, weil mein Körper ihn so benötigt. Wenn ich Angst habe, ist es nur natürlich, dass mein Atem „eng“ wird. Wenn ich schlafe, ist mein „natürlicher“ Atem ein anderer, als wenn ich ihn zum Beispiel beobachte oder ein Āsana übe.

Soll „natürlich“ für einen „guten“ Atem stehen?

Dann ist darüber zu sprechen, wie ein „guter“ Atem auszusehen hat. Ist es ein Atem, der sich den unterschiedlichsten Anforderungen, die an ihn gestellt werden, optimal anpasst? Oder einer, der immer gleich bleibt, egal, was ich tue, denke und vor­habe?

Schließlich: Was gibt uns Grund zu glauben, dass sich ein positives Muster in uns allein deshalb durchsetzt, weil wir darauf warten und keine besondere Aktivität in eine bestimmte Richtung entfalten? Wenn Menschen ihren Körper sich selbst überlassen, dann krümmt sich in der Regel ihr Rücken, sie entwickeln Fehlhal­tungen, der Körper verharrt in negativen Mustern. Wenn wir nicht gerade jeden Tag jagend durch die Wälder ziehen (was kör­perlich recht anstrengend und fordernd ist), entwickelt un­ser Körper fast zwangsläufig solche oder ähnliche negative Muster. Um dies zu verändern oder zu überwinden, bedarf es einer besonderen, aktiven und sehr bewussten Anstrengung.

Wir beobachten beispielsweise in der Praxis von Āsana nicht einfach unsere „natürliche“ Haltung, sondern fordern den Körper, greifen aktiv ein, indem wir ihn etwa lehren, sich aufzurichten.

Dagegen halten könnte man, dass unser Atem etwas viel Subtileres als unser Körper sei. Dann sollte es erlaubt sein, noch einen Schritt weiterzugehen: noch subti­ler als unser Atem ist ohne Zweifel der Geist. Und wohin bewegt er sich, wenn wir ihm seinem „natürlichen“ Muster überlassen? Er springt hierhin und dorthin, ist oberflächlich, flüchtig und folgt jedem Reiz, der von außen auf ihn trifft. Auch dieser ganz „natürliche“ Zustan­d unseres Geistes ist verbesserungswürdig, und auch er verändert sich nachhaltig erst dann, wenn wir aktiv in seinen natürlichen Fluss eingreifen.

Wieviel Anstrengung kostet es uns, wenn wir nichts weiter tun wollen, als unseren Geist zu beobachten und dabei nicht ins Träu­men, Dösen oder das übliche Umher­springen geraten möchten?

Eine aufrechte Haltung, ein ausgerichteter Geist, beides ist das Ergeb­nis eines bewussten und aktiven Eingreifens, in dem gegen eine alte eine neue Qualität geübt, erlernt und schließlich so etabliert wird, dass sie auch über das Üben hinaus Bestand hat. In der Regel ist dies mit einiger Mühe verbunden und nur dadurch erreichbar, dass der Tendenz des Körpers zur Krümmung und der des Geistes zur Zerstreutheit eine andere, bessere Tendenz entgegensetzt und in der Wiederholung dieses Bemühens nicht nachlasse wird.

dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 53

Der Geist ist nun gut vorbereitet und fähig für den Prozess, sich auf ein gewähltes Ziel auszurichten.

Was also soll das Besondere oder gar Gefährliche daran sein, wenn auf die gleiche Weise mit dem Atem verfahren wird? Auch eine Geigenspielerin wartet nicht einfach darauf, dass sich aus ihrem Strich mit dem Bogen über die Saiten ein harmonischer Ton entwickelt. Es ist das Ergebnis eines kontinuierlichen, disziplinierten Übens.

Wie unser Körper und Geist ist auch der Atem natürlicherweise weit entfernt von seinen Möglich­kei­ten und auch er benötigt eine aktive Intervention, die ihn alte und negative Muster überwinden und neue positivere finden lässt.

Natür­lich gilt bei der praktischen Realisie­rung eines solchen Vorhabens für den Atem das Gleiche wie für den Körper und den Geist: Wenn das für mich falsche geübt wird, wenn nicht in geeigneten Schritten vor­gegangen wird, wenn Grenzen nicht respektiert werden, wenn Quantitäten und nicht Qualitäten in den Mittelpunkt gestellt werden, wenn Techniken zum Selbstzweck werden, wenn geglaubt wird, Yoga ließe sich aus Büchern lernen, dann kann jede Arbeit, seien es Körper­übungen, seien es Atemübungen, seien es Übungen der Konzentration und Meditation Schaden anrichten.

Und es kann vielen Yoga übenden der Spaß und die mög­liche gute Erfahrung mit Prāṇāyāma dadurch genommen werden, dass sie mit unsinnigen Praktiken, fal­schen Ansprüchen an ein „wahres“ oder sogenanntes „klassisches“ Prāṇāyāma und einer unpassenden Pädagogik konfrontiert wurden. Es ist, um an die kurze Dis­kussion der Sūtren des Patañjali zu erinnern, auch nicht in besonderem Maße der Tradition verpflichtet, wenn Prāṇāyāma auf das möglichst lange Halten des Atems reduziert wird.

Tatsäch­lich kann etwa eine Atemverhaltung nach ei­ner langen und gleichmäßigen Ausatmung unter bestimmten Umständen die Wirkung dieser Ausatmung verstärken. Sie kann es, muss es aber nicht. Die Techniken der Atemverhaltung sind von ihrem Konzept, ihrer Wirkung, ihren technischen Voraussetzungen und Schwierig­keiten her nur verständlich als be­sondere Betonung jener Atempha­se, die einer solchen Verhaltung vorangegangen ist.

So stellt sich die Frage, warum es Sinn ergeben sollte, mit den in der Haṭha Yoga Pradīpikā aufgezählten unterschied­lichen Atemtechniken ein- und auszuatmen, wenn es wesentlich nur um den Atemstillstand ginge. Gerade bei Techniken wie nāḍī śodhana oder ujjayī ist die Verlängerung der Atemdauer, in der das beson­dere dieser Techniken (Atem fließt nur durch eine Nasenseite und wird dort reguliert; Atem wird durch einen Kehl­laut reguliert und gerichtet) stattfindet und wirkt, essenziell. Die Atem­verhaltung kann die dabei genommene Richtung verstärken und modifizieren, und sie ist sicher absolut nötig für eine Technik wie uḍḍīyāna bandha. Der Inhalt dieser Techniken wird aber wesentlich durch die Richtung der Atembewegung, nicht durch das Halten bestimmt.

Was daraus folgt.

Jede der zahlreichen Tech­niken des Prāṇāyāma hat ihre besonderen Wirkungen, Vorzüge, Nach­teile und Risiken. Nicht anders als bei der Arbeit mit Āsana, wo nicht jedes Āsana für jede Person als Übung Sinn ergibt, taugt auch nicht jedes Prāṇāyāma für jede Person und jede Zeit. Was jemanden wirklich weiterbringt oder schließlich zu einer gewünschten Wirkung führt, muss immer wieder neu ge­funden und erprobt werden. Ein Vorgehen in angemessenen Schritten ist dabei unabdingbar.

  • Das Unterrichten von Prāṇāyāma bedarf deshalb einer individuellen Begleitung. Welche Technik, für welche Person in ihrer regel­mäßigen und selbstständigen Praxis im Mittelpunkt stehen sollte, hängt nicht nur von deren individuellen Möglichkeiten ab, sondern vor allem auch davon, welche Art von Verän­derungen mit dem ge­wählten Prāṇāyāma erreicht werden soll.
  • Die positiven Wirkungen von Prāṇāyāma entfalten sich gerade mithilfe einfacher Technik, die das Erreichen einer besonderen Atem­qualität nicht nur möglich, sondern auch in jedem Moment des Übens überprüfbar machen muss. Deshalb sollte im Prāṇāyāma auch tatsächlich der Atem, sein Fluss und seine Veränderung in einer bestimmten Richtung im Mittelpunkt stehen.

So benutzt, kann Prāṇāyāma tatsächlich zu dem werden, was Vyāsa als das Besondere der Atemübungen ins Schwär­men brachte – Nichts übertrifft Prāṇāyāma an Kraft, um uns von Blockaden zu befreien. ▼

Einleitung

Manchmal wird bezweifelt, ob Prāṇāyāma überhaupt für westliche Menschen sinnvoll ist. Dabei wird sich oft auf moderne Atemschulen bezogen, die scheinbar eine bewusste Veränderung des Atems ablehnen. Sie weisen nicht nur auf die Anspannung hin, die durch direktes Arbeiten mit dem Atem eher neue Blockaden als einen freien Fluss hervorbringt, sondern auch auf die Tendenz, alles kontrollieren zu wollen. Sie möchten den Atem vor solchen Eingriffen bewahren.

Oft basieren diese Einschätzungen auf schlechten Erfahrungen mit Prāṇāyāma, bei denen ein verkrampfter Kampf mit dem Atem, unüberwindbare Anforderungen oder abenteuerlich anmutende Übungen den Unterricht geprägt haben.

Kritiker von Prāṇāyāma beziehen sich auch auf Anleitungen und Texte, die tatsächlich den Eindruck erwecken, dass das Ziel von Prāṇāyāma darin besteht, den Atem gewaltsam zu unterdrücken, anstatt ihn zu entwickeln.

Zu oft wird Prāṇāyāma dogmatisch und unreflektiert praktiziert. Es fehlt Raum für Fragen wie:

  • Welche Techniken sind für wen und wann sinnvoll?
  • Ergibt es Sinn, alle sogenannten „klassischen“ Prāṇāyāma-Techniken zu üben?
  • Wie geht man mit Schwierigkeiten um und welche Risiken sind mit welcher Technik verbunden?
  • Ist der Erfolg von Prāṇāyāma daran zu messen, wie lange jemand den Atem anhalten kann?

In diesem Artikel wird anhand einzelner Sūtren aus dem Yoga Sūtra nach Patañjali erläutert, welche Ziele Prāṇāyāma hat und wie sie in Schritten erreicht werden können. Insbesondere anhand der Interpretation von Patañjalis Sūtren, in denen er Prāṇāyāma erklärt, wird deutlich, wie missverständlich und praxisfern über Prāṇāyāma gesprochen werden kann.

In einer Übersetzung von I. K. Taimni wird beispielsweise Patañjalis erstes Sūtra zu Atemübungen so gelesen: Prāṇāyāma ist „das Aufhören der Ein- und Ausatmung“.

Später werden wir sehen, dass Patañjali tatsächlich ein ganz anderes Konzept von Prāṇāyāma vertritt.

Dennoch finden sich Vorstellungen, die Prāṇāyāma als das Beenden der Atmung ansehen, sowohl im Westen als auch in Indien. Es ist das Ideal des Asketen, der sich tief in die Erde gräbt und dort tagelang oder sogar wochenlang ohne Atmung überlebt, um seine Vollkommenheit in den Techniken des Yoga zu zeigen. Das eigentliche Ziel von Prāṇāyāma in dieser Vorstellung ist tatsächlich ein Zustand ohne Atem.

  • Welche Konsequenzen hat eine solche Vorstellung für die Arbeit mit dem Atem?
  • Welche grundlegenden Ideale stecken hinter einer solchen Zielrichtung und welches Bild von der Entwicklung des Menschen im Yoga wird damit vermittelt?
  • Sollte das Hauptziel der Atemübungen im Yoga wirklich darin bestehen, den kontinuierlichen Fluss des Ein- und Ausatmens so weit wie möglich zu unterbinden?
  • Ist der Fluss unseres Atems nicht vielmehr die Grundlage für den Fluss von Prāṇa, der Lebensenergie in uns?

Es hilft nicht, diesen Fragen auszuweichen, indem man eine Trennlinie zwischen „vorbereitenden“ Übungen für normale Menschen und den eigentlichen Geheimnissen von Prāṇāyāma zieht, die nur wenigen vorbehalten sind. Es ist wichtig, das Konzept von Prāṇāyāma insgesamt zu verstehen und die grundlegenden Vorstellungen, auf denen es basiert, zu hinterfragen.

Ein solches Konzept sollte nicht nur das Ziel zeigen, sondern bereits im ersten Schritt nachvollziehbar sein.

  • Wohin sollten wir uns also bemühen, wenn wir Prāṇāyāma üben?
  • Anhand welcher Kriterien können wir prüfen, ob wir in die richtige Richtung gehen?

Die Ängste, Bedenken oder auch Ablehnung gegenüber Prāṇāyāma sind zum Teil auf dieses spezielle Verständnis zurückzuführen, dass das Erreichen eines Atemstillstands das höchste Ziel ist.

Wenn man das vollständige "Stilllegen" der Atembewegung als idealen Zustand einer Atemtechnik betrachtet, ist es nicht verwunderlich, dass jemand den Weg dorthin als hinderlich für die Entwicklung eines freien und gesunden Atems oder sogar als lebensfeindlich ansieht.

Die Einwände und Zurückhaltung gegenüber der Praxis von Prāṇāyāma sind jedoch auf einem Missverständnis begründet. Es mag Menschen innerhalb der vielfältigen Tradition des Yoga gegeben haben und geben, die nach Zuständen suchen, die dem Tod näher sind als dem Leben. Glücklicherweise ist das Konzept des Yoga und seiner Übungstechniken, zu denen auch Prāṇāyāma gehört, von anderem Inhalt. Insbesondere die Sūtras von Patañjali machen dies deutlich. Was Patañjali unter Prāṇāyāma versteht, wie seine Ausführungen im täglichen Unterricht als wichtigster Leitfaden dienen kann und eine solide Grundlage für die weitere Diskussion über Prāṇāyāma bietet, wird im Folgenden beschrieben.

Diese Interpretation der Sūtras von Patañjali folgt dem Verständnis der Yoga Sūtras in der Tradition von T. Krishnamacharya. Für ihn war das Yoga Sūtra nicht nur die maßgebliche Referenz für alle Fragen des Yoga, sondern ein Text, der sich in der Praxis über die Jahrhunderte bewährt hat und deshalb auch als Leitfaden durch die manchmal widersprüchlichen und erklärungsbedürftigen Anleitungen zur Praxis von Prāṇāyāma in Texten wie der Haṭha Yoga Pradīpikā, der Yogayajñavalkya, der Gerandha Samhitā und anderen dienen kann.

T. Krishnamacharya’s umfassende Sanskritkenntnisse, seine herausragende Yogapraxis sowie sein kompromissloser und vielseitiger Bezug auf die alte Yogatradition bilden die Grundlage seiner Erläuterungen zu den Yoga Sūtras.

Das Prāṇāyāma Konzept im Yoga Sūtra

Um die Sūtren über Prāṇāyāma zu verstehen, muss kurz daran erinnert werden, welche Zusammenhänge Patañjali zwischen Körper, Atem und Geist herstellt. Wenn unser Geist in Unruhe und Konflikt gerät, dann drückt sich dies in unserem Fühlen, unserem Körper und eben auch in unserem Atem aus. Wie, das wird im ersten Kapitel des Yoga Sūtra dargestellt (1. Kapitel – Sūtra 31).

Sind wir unklar, unruhig im Geist, kann sich dies ausdrücken in einem Gefühl von Bedrücktheit und Unzufriedenheit (duḥkha) oder tiefer Niedergeschlagenheit.
(daur­manasya), es kann sich in Disharmonien auf der Ebene des Körpers (aṅgamejayatva) zeigen und schließlich kann auch unser Atem gestört sein. Ein solcherart zustande gekommenes und negatives Atemmuster nennt Patañjali śvāsa-praśvāsāḥ.

duḥkha daurmananasya aṅgamejayatva śvāsa-praśvāsāḥ vikṣepasahabhuvaḥ
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 31

Ein Gefühl von innerer Enge, ein Gefühl von tiefer Niedergeschlagenheit, eine Störung des harmonischen Gleichgewichtes körperlicher Funktionen oder die Unmöglichkeit, den Atem ruhig zu führen, gehen einher mit einem Geist, der in Probleme verwickelt ist.

In der Einleitung seiner Darste­l­lung der Grundprinzipien des Prāṇāyāma erinnert Patañjali daran, dass unser Atem normaler­weise oberflächlich, unbewusst und gestört ist. Prāṇāyāma, so heißt es im Yoga Sūtra (2. Kapitel – Sūtra 49), ist die Unterbrechung die­ser negativen Atemqualität, das Unterbrechen von śvāsa-praśvāsāḥ.

tasminsati śvāsapraśvāsayoḥ gativicchedaḥ prāṇāyāmaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 49

Das Unterbrechen unbewußter Atemmuster ist erst dann möglich, wenn die Praxis von Āsana in einem gewissen Maß beherrscht wird.

Danach geht es im Prāṇāyāma nicht um die Abschaf­fung der Atembewe­gung insgesamt, sondern lediglich um das Beenden eines verbesserungswürdigen Atemmusters.

Warum sollte mit śvāsa-praśvāsāḥ, anders als dort, wo dieser Begriff von Patañjali mit eindeutigem Inhalt eingeführt wird (1. Kapitel – Sūtra 31), die Atem­bewegung überhaupt ge­meint sein, wie uns manche Übersetzungen dieses Sūtra nahelegen wollen?

Der Atem – fein, gleichmäßig und lang

Ein kurzer Blick auf das folgende Sūtra reicht, um Patañ­jalis Anliegen in seiner Eindeutigkeit zu verstehen. Zuerst nennt er jene drei Aspekte des Atems, die Gegen­stand des Übens werden können (2. Kapitel – Sūtra 50; siehe etwas weiter unten im Text):

  • die Bewe­gung der Ausatmung (bāhya-vṛtti)
  • die Bewe­gung der Einatmung (ābhyantara-vṛtti))
  • die Verhaltung des Atems (stambḥa-vṛtti)

Wozu diese Aufzäh­lung, wenn es im Prāṇāyāma nur um die Atemverhal­tung ginge? Und weiter: Patañjalis Konzept von Prāṇāyāma besteht nicht nur darin, ein Beenden negativer Atemmuster einzufordern. Er nennt vielmehr eine Qualität, in deren Richtung sich dieser Atem verändern kann und soll. Der Inhalt von Prāṇāyāma besteht somit im Bemühen, sich dieser besonderen Atemqualität schrittweise an­zunähern.

Diese Qua­li­tät besteht darin, unseren Atem sowohl lang (dīrgha) als auch gleichförmig, fein (sūkṣma) zu führen.

Damit ist der eigentliche Kern des Prāṇāyāma-Konzeptes im Yoga Sūtra beschrieben. Nicht das Aussetzen des Atems steht im Mittelpunkt, sondern die Frage nach der Qualität seiner Bewegung. Keine Kurzatmigkeit und keine Unruhe im Fluss des Atems, sondern die Herstellung einer feinen und langen Atembewe­gung, das ist das Ziel, das ist die Definition von Prāṇāyāma. Lang und fein, ein Atem von solcher Qualität ist es, der den Fluss des Prāṇa, der Lebensenergie selbst, erreichen und beeinflussen kann. Ohne diese Qualität, so die Vorstellung, fühlt sich Prāṇa beim Üben welcher Tech­nik auch immer, nicht angesprochen.

Wer mit dem Yoga Sūtra etwas vertrauter ist, wird diese Definition an jenes erinnern, mit dem er einige Sūtren vorher (2. Kapitel – Sūtra 46) das Ziel der Arbeit mit den Āsana beschreibt: Fest und leicht (sthira sukham), sagt Patañjali dort, so soll die Qualität eines Āsana sein.

Die gleichzeitige Herstellung von Festig­keit und Leichtigkeit im Körper ist nicht einfach: Dem Bemühen, Fe­stigkeit im Körper zu erreichen, fehlt gewöhnlich die Leichtigkeit und es entsteht daraus schnell Verkram­pfung und Starrheit; wollen wir uns dagegen besonders leicht fühlen, endet das gerne in der Bequem­lichkeit eines Fernsehsessels. Ähnlich schwierig ist es mit der gleichzeitigen Her­stellung von Feinheit und Länge in der Atembewegung. Es mag vielleicht einfach sein, den Atem zu verlängern, wenn wir keinen Anspruch an seine Feinheit und Gleichmäßig­keit stellen. Ebenso ist es nicht sehr schwierig, den Atem fein werden zu lassen, wenn wir uns nicht gleichzeitig um seine Verlän­gerung kümmern müssen. In Indien wird dazu gerne ein Vergleich be­müht, der Patañjalis Ziel im Prāṇāyāma anschaulich macht.

Jeder Brahmane trägt traditio­nellerweise eine Schnur, die von einer Schulter aus schräg über den Oberkörper läuft. Diese Schnur musste ihr Träger in einem be­stimmten Ritual selbst spinnen. Für die ungeübte Hand bieten sich zwei Lösungen an: Wenn die Schnur lang werden und nicht ab­rei­ßen soll, dann gelingt dies dem Anfänger nur, wenn er ihre Regelmäßigkeit außer Acht lässt. Die Folge ist ein grober Strang mit Knollen und dem Wechsel von sehr dicken, unförmigen und äußerst dünnen, feinen Abschnitten. Beim Versuch, die Schnur sehr gleich­mäßig und fein zu spinnen, reißt sie in der Regel ab.

Länge und feines Gleichmaß, diese Qualitäten im Atemfluß gleichzeitig zu erreichen, ist tatsächlich nicht ganz einfach.

Aber es ist das Bemühen um die Verbindung dieser beiden Qualitäten, was das Üben von Prāṇāyāma charakterisiert. Wie in den Sūtren über die Āsana beschreibt Patañjali auch für das Prāṇāyāma über diese Definition seines Inhalts hinaus die wichtig­sten As­pekte, die zur Erreichung des angestrebten Zieles not­wendig sind und welche Ergebnisse zu erwarten sind.

Zur Erarbeitung einer Atem­qualität, die sich durch Gleich­mäßigkeit und Länge auszeichnet, benötigen wir bestimmte Techniken. Diese Techniken sind kein Selbst­zweck und Patañjali beschreibt im 2. Kapitel – Sūtra 50, welche Aspekte dabei von besonderer Wichtigkeit sind.

bāhya abhyantara stambhavṛttir deśa kāla saṃkhyābhiḥ paridṛṣṭo dīrghasūkṣmaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 50

Die Regulierung der Ausatmung, der Einatmung und der Atemverhaltung, diese drei Prozesse werden durch das Verhältnis ihrer Länge zueinander bestimmt. Ziel ist es dieses Atemverhältnis über eine gewisse Anzahl von Atemzügen beizubehalten, den Geist auf diesen Prozess auszurichten und dadurch einen langen und gleichförmigen Atem zu erreichen.

Zum einen verlangt Prāṇāyāma einen klaren Ort der Ausrichtung (deśa).

Wohin sollen wir uns ausrichten?

  • Zum Beispiel auf die Feinheit des Tones in der Kehle bei einer Technik wie der Ujjāyī-Atmung, in der der Atem durch die Erzeugung eines sanften Kehltons reguliert wird.
  • Oder auf die Feinheit des Atem­flusses in der Nase, wenn wir in einer Technik wie dem nādī-śodhana den Atemfluss an den Nasenflügeln mithilfe des Druckes unserer Finger regulieren.
  • Oder schlicht auf die Bewe­gung des Atems im Brustkorb und Bauch.

Nicht nur für Anfänger ist es von großer Wichtigkeit, in der Aus­richtung während des Prāṇāyāma auf solche oder ähnliche Weise eindeutig zu bleiben.

Zum anderen gilt es sich mit der Frage des Zeit­verhältnisses der einzelnen Atem­phasen (Ausatmung, Einatmung und Atemverhaltung) zueinander auseinanderzusetzen (kāla).

  • Wie lang ist die Ausatmung im Verhältnis zur Einatmung?
  • Wie lang sind die Ver­haltungen des Atems im Ver­hältnis zur Ein- und Ausatmung?

Wenn wir uns fragen, in welche Richtung ein Prāṇāyāma wirkt, dann ergibt sich die Antwort darauf wesentlich daraus, welches Atemver­hältnis ihm zugrunde liegt.

  • Betonen wir die Einat­mung oder die Ausatmung?
Gerade auf dieser praktischer Ebene zeigt sich ein weiteres Mal, wie unbrauchbar ein unreflektiertes Üben nach Texten wie etwa der Haṭha Yoga Pradīpikā ist.

Auf den ersten Blick scheint dieser Text nahezulegen, während des Übens von Prāṇāyāma müsse besonders die Einatmung, ja primär sogar das Anhalten des Atems mit voller Lunge betont werden. Interessant ist das Konzept, das hinter dieser Vorstellung steht; was die Praxis angeht, so gilt das genaue Gegenteil. Es ist vorwiegend die Be­tonung der Ausatmung, die die meisten Menschen benötigen, um Yoga zu lernen.

Für ein Wochenende mag es eine interessante und beeindruckende Erfahrung sein, verschiedenste Atemtechniken, schwierige Atem­verhaltungen und anderes zu üben. Soll Prāṇāyāma tatsächlich zu Ver­änderungen in uns führen, soll es von Wirkung sein, dann braucht es jedoch Kontinuität und Einfach­heit. Und vor allem eine klare Richtung, die dem Menschen angepasst ist, und diese Richtung liegt für die meisten Übenden gerade in einer Beto­nung der Bewegung der Aus­at­mung, wie immer die entsprechende Technik auch im Einzelnen aussehen mag.

Die Bedeutung von Aus- und Einatmung

Für jede Annäherung an das Üben von Prāṇāyāma wies T. Krish­na­macharya darüber hinaus auf die Bedeutung gerade der Ausatmung auch in der Pädagogik Patañjalis hin.

Im 2. Kapitel – Sūtra 50 (siehe oben) werden die verschiedenen, im Prāṇāyāma modifizierbaren Atemprozesse in folgender Reihenfolge genannt:

  • Ausat­mung
  • Einatmung
  • Atemverhal­tung.

Jede Atemtechnik wird zuerst in der Ausatmung geübt. Erst wenn sich dabei die nötigen Fort­schrit­te zeigen, kann sich einer Verän­derung der Einatmung zugewendet werden. Und wenn der oder die Übende in der Lage ist, sowohl in der Ein- als auch in der Ausat­mung ohne Mühe eine hohe Quali­tät (siehe oben) im Atemfluss zu erreichen, wird mit den Atemver­haltungen weiter gearbeitet.

Sind diese Techniken erarbeitet, ist es nicht beliebig, welche davon im täglichen Üben benutzt werden, ausgewählt werden diejenigen, die in die richtige Richtung weisen und unerwünschte Stö­rungen beseitigen.

Schließlich bedarf Prāṇāyāma auch noch einer angemessenen Anzahl von Wiederholungen (sāṃkhya), ohne die unser Üben wenig Wirkung und Ent­wicklungs­mög­lichkeiten hätte. Ziel ist es, ein bestimmtes Atemverhältnis und eine spezielle Atemtechnik über eine gewisse Anzahl von Atemzügen hinweg aufrechtzuerhalten, damit die gewünschte Wirkung erzielt wird. So kann erspürt werden, ob im Rahmen der eigenen Möglichkeiten geübt wird und weder eine Unter- noch eine Überforderung entsteht.

bāhya abhyantara viṣayākṣepī caturthaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 51

Das Überschreiten der bewußten Regulation der Ein- und Ausatmung wird als vierter der Prozesse des Atems bezeichnet.

Im 2. Kapitel – Sūtra 51 weist Patañjali darauf hin, dass im Prāṇāyāma durch den Atem außerordentliche Erfahrungen unterschied­lichster Art gemacht werden können. Das eigentliche Ziel und gleich­zeitig der entscheidende Maßstab für sein Gelingen sind jedoch die Tatsache, dass der Geist Aus­richtung und Sammlung erfährt (2. Kapitel – Sūtra 52 und 53).

tataḥ kṣīyate prakāśāvaraṇam
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 52

Die regelmäßige Praxis von Prāṇāyāma verringert die Blockaden, die uns an einer klaren Wahrnehmung hindern.

Diese Klärung und Beruhigung unseres Geistes, die Herstellung einer größe­ren Fähigkeit zur Ausrichtung ist dabei das Maß aller Dinge, nicht unklare besondere Erlebnisse im Prāṇāyāma, die vielleicht spektakulär und deshalb als besonders attraktiv erscheinen mö­gen. Aber nicht anders als bei den Erfah­run­gen im Üben von Āsanas oder in der Meditation ist eben nicht das besonders Spektakuläre ge­fragt. Ein Erfolg im Prāṇāyāma zeigt sich vielmehr darin, dass sich eine regelmäßige Praxis etablieren lässt und der Atem dadurch feiner, weiter und länger wird. Mit der Zeit wird der Geist ruhiger, klarer und offener, während die Energien (prāṇa) freier fließen, Blockaden gelöst, das Wohlbefinden gesteigert und die Lebenskraft gestärkt wird.

Kurz zusammengefasst:

Die Veränderung unseres Atemflusses hin zu einer Qualität, die sich durch Feinheit und Gleichmaß einerseits und Länge andererseits auszeichnet, ist das Ziel im Prāṇāyāma. Eine bestimmte Atemtechnik zu beherrschen heißt somit, mithilfe dieser Technik einen gleichmä­ßigen und verlängerten Atem zu erreichen. Eine Vertiefung und Intensivierung von Prāṇāyāma bedeutet, einen noch gleichmäßigeren, noch längeren Atemfluss zu erreichen. Ein solcher Eingriff in den Atem und seine bewusste Veränderung in diese Richtung haben Folgen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Der Atem selbst wird verbes­sert und die Fähigkeit unseres Geistes zur Ausrichtung wird ge­stärkt.

Was meint „natürlicher“ Atem?

Es gibt die Auffassung, der „natürliche“ Atem würde sich dann am besten entwickeln, wenn er nicht gestört wird. Technisch sieht das dann oft so aus, dass der Atem nur als Objekt der Beobachtung zugelassen wird, nicht aber einer wil­lentlichen und bewussten Veränderung unterworfen werden darf.

Was also meint „natürlicher“ Atem?

Wenn ich sehr schnell renne, ist mein „natürlicher“ Atem heftiger und tiefer als in Ruhe, weil mein Körper ihn so benötigt. Wenn ich Angst habe, ist es nur natürlich, dass mein Atem „eng“ wird. Wenn ich schlafe, ist mein „natürlicher“ Atem ein anderer, als wenn ich ihn zum Beispiel beobachte oder ein Āsana übe.

Soll „natürlich“ für einen „guten“ Atem stehen?

Dann ist darüber zu sprechen, wie ein „guter“ Atem auszusehen hat. Ist es ein Atem, der sich den unterschiedlichsten Anforderungen, die an ihn gestellt werden, optimal anpasst? Oder einer, der immer gleich bleibt, egal, was ich tue, denke und vor­habe?

Schließlich: Was gibt uns Grund zu glauben, dass sich ein positives Muster in uns allein deshalb durchsetzt, weil wir darauf warten und keine besondere Aktivität in eine bestimmte Richtung entfalten? Wenn Menschen ihren Körper sich selbst überlassen, dann krümmt sich in der Regel ihr Rücken, sie entwickeln Fehlhal­tungen, der Körper verharrt in negativen Mustern. Wenn wir nicht gerade jeden Tag jagend durch die Wälder ziehen (was kör­perlich recht anstrengend und fordernd ist), entwickelt un­ser Körper fast zwangsläufig solche oder ähnliche negative Muster. Um dies zu verändern oder zu überwinden, bedarf es einer besonderen, aktiven und sehr bewussten Anstrengung.

Wir beobachten beispielsweise in der Praxis von Āsana nicht einfach unsere „natürliche“ Haltung, sondern fordern den Körper, greifen aktiv ein, indem wir ihn etwa lehren, sich aufzurichten.

Dagegen halten könnte man, dass unser Atem etwas viel Subtileres als unser Körper sei. Dann sollte es erlaubt sein, noch einen Schritt weiterzugehen: noch subti­ler als unser Atem ist ohne Zweifel der Geist. Und wohin bewegt er sich, wenn wir ihm seinem „natürlichen“ Muster überlassen? Er springt hierhin und dorthin, ist oberflächlich, flüchtig und folgt jedem Reiz, der von außen auf ihn trifft. Auch dieser ganz „natürliche“ Zustan­d unseres Geistes ist verbesserungswürdig, und auch er verändert sich nachhaltig erst dann, wenn wir aktiv in seinen natürlichen Fluss eingreifen.

Wieviel Anstrengung kostet es uns, wenn wir nichts weiter tun wollen, als unseren Geist zu beobachten und dabei nicht ins Träu­men, Dösen oder das übliche Umher­springen geraten möchten?

Eine aufrechte Haltung, ein ausgerichteter Geist, beides ist das Ergeb­nis eines bewussten und aktiven Eingreifens, in dem gegen eine alte eine neue Qualität geübt, erlernt und schließlich so etabliert wird, dass sie auch über das Üben hinaus Bestand hat. In der Regel ist dies mit einiger Mühe verbunden und nur dadurch erreichbar, dass der Tendenz des Körpers zur Krümmung und der des Geistes zur Zerstreutheit eine andere, bessere Tendenz entgegensetzt und in der Wiederholung dieses Bemühens nicht nachlasse wird.

dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ
Yoga Sūtra, 2. Kapitel - Sūtra 53

Der Geist ist nun gut vorbereitet und fähig für den Prozess, sich auf ein gewähltes Ziel auszurichten.

Was also soll das Besondere oder gar Gefährliche daran sein, wenn auf die gleiche Weise mit dem Atem verfahren wird? Auch eine Geigenspielerin wartet nicht einfach darauf, dass sich aus ihrem Strich mit dem Bogen über die Saiten ein harmonischer Ton entwickelt. Es ist das Ergebnis eines kontinuierlichen, disziplinierten Übens.

Wie unser Körper und Geist ist auch der Atem natürlicherweise weit entfernt von seinen Möglich­kei­ten und auch er benötigt eine aktive Intervention, die ihn alte und negative Muster überwinden und neue positivere finden lässt.

Natür­lich gilt bei der praktischen Realisie­rung eines solchen Vorhabens für den Atem das Gleiche wie für den Körper und den Geist: Wenn das für mich falsche geübt wird, wenn nicht in geeigneten Schritten vor­gegangen wird, wenn Grenzen nicht respektiert werden, wenn Quantitäten und nicht Qualitäten in den Mittelpunkt gestellt werden, wenn Techniken zum Selbstzweck werden, wenn geglaubt wird, Yoga ließe sich aus Büchern lernen, dann kann jede Arbeit, seien es Körper­übungen, seien es Atemübungen, seien es Übungen der Konzentration und Meditation Schaden anrichten.

Und es kann vielen Yoga übenden der Spaß und die mög­liche gute Erfahrung mit Prāṇāyāma dadurch genommen werden, dass sie mit unsinnigen Praktiken, fal­schen Ansprüchen an ein „wahres“ oder sogenanntes „klassisches“ Prāṇāyāma und einer unpassenden Pädagogik konfrontiert wurden. Es ist, um an die kurze Dis­kussion der Sūtren des Patañjali zu erinnern, auch nicht in besonderem Maße der Tradition verpflichtet, wenn Prāṇāyāma auf das möglichst lange Halten des Atems reduziert wird.

Tatsäch­lich kann etwa eine Atemverhaltung nach ei­ner langen und gleichmäßigen Ausatmung unter bestimmten Umständen die Wirkung dieser Ausatmung verstärken. Sie kann es, muss es aber nicht. Die Techniken der Atemverhaltung sind von ihrem Konzept, ihrer Wirkung, ihren technischen Voraussetzungen und Schwierig­keiten her nur verständlich als be­sondere Betonung jener Atempha­se, die einer solchen Verhaltung vorangegangen ist.

So stellt sich die Frage, warum es Sinn ergeben sollte, mit den in der Haṭha Yoga Pradīpikā aufgezählten unterschied­lichen Atemtechniken ein- und auszuatmen, wenn es wesentlich nur um den Atemstillstand ginge. Gerade bei Techniken wie nāḍī śodhana oder ujjayī ist die Verlängerung der Atemdauer, in der das beson­dere dieser Techniken (Atem fließt nur durch eine Nasenseite und wird dort reguliert; Atem wird durch einen Kehl­laut reguliert und gerichtet) stattfindet und wirkt, essenziell. Die Atem­verhaltung kann die dabei genommene Richtung verstärken und modifizieren, und sie ist sicher absolut nötig für eine Technik wie uḍḍīyāna bandha. Der Inhalt dieser Techniken wird aber wesentlich durch die Richtung der Atembewegung, nicht durch das Halten bestimmt.

Was daraus folgt.

Jede der zahlreichen Tech­niken des Prāṇāyāma hat ihre besonderen Wirkungen, Vorzüge, Nach­teile und Risiken. Nicht anders als bei der Arbeit mit Āsana, wo nicht jedes Āsana für jede Person als Übung Sinn ergibt, taugt auch nicht jedes Prāṇāyāma für jede Person und jede Zeit. Was jemanden wirklich weiterbringt oder schließlich zu einer gewünschten Wirkung führt, muss immer wieder neu ge­funden und erprobt werden. Ein Vorgehen in angemessenen Schritten ist dabei unabdingbar.

  • Das Unterrichten von Prāṇāyāma bedarf deshalb einer individuellen Begleitung. Welche Technik, für welche Person in ihrer regel­mäßigen und selbstständigen Praxis im Mittelpunkt stehen sollte, hängt nicht nur von deren individuellen Möglichkeiten ab, sondern vor allem auch davon, welche Art von Verän­derungen mit dem ge­wählten Prāṇāyāma erreicht werden soll.
  • Die positiven Wirkungen von Prāṇāyāma entfalten sich gerade mithilfe einfacher Technik, die das Erreichen einer besonderen Atem­qualität nicht nur möglich, sondern auch in jedem Moment des Übens überprüfbar machen muss. Deshalb sollte im Prāṇāyāma auch tatsächlich der Atem, sein Fluss und seine Veränderung in einer bestimmten Richtung im Mittelpunkt stehen.

So benutzt, kann Prāṇāyāma tatsächlich zu dem werden, was Vyāsa als das Besondere der Atemübungen ins Schwär­men brachte – Nichts übertrifft Prāṇāyāma an Kraft, um uns von Blockaden zu befreien. ▼

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