Moderner Yoga
Eine bemerkenswerte Neudeutung von prāṇa entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Yoga. Es ist diese Neudeutung von prāṇa, die bei der Verbreitung des Yoga im Westen die Erklärungen zur Praxis und Wirkung des Yoga bestimmte und in vielen Yogapublikationen bis heute bestimmt. Es gab in der Entwicklung des Modernen Yoga auch prominente andere Stimmen, wie etwa Kuvalayananda, der ausdrücklich gegen Vivekanandas Neudeutung argumentierte oder T. Krishnamacharya, der davon gänzlich unbeeinflußt blieb.
Wichtigster Protagonist dieser Neudeutung war Swami Vivekananda (1863–1902): „Prāṇāyāma ist nicht, wie viele denken, etwas über den Atem; der Atem hat in der Tat, wenn überhaupt, nur sehr wenig damit zu tun. Prāṇa ist der Name für die Energie, die sich im Universum befindet. Was immer Sie im Universum sehen, was immer sich bewegt oder wirkt oder Leben hat, ist eine Manifestation dieses prāṇa. Die Gesamtsumme der im Universum repräsentierten Energie wird prāṇa genannt.“ Swami Vivekananda, Complete Works Bd. 1, Calcutta 2006, S. 147
Diese neue Sicht auf Prāṇāyāma (und letztlich auf die Rolle des Yoga insgesamt) entstand unter dem starken Einfluss euroamerikanischer okkulter, magiegläubiger und spiritistischer Bewegungen. Dabei erhob Vivekananda prāṇa zu einer zentralen Kategorie in der Erklärung der Praxis und Wirkung von Yoga:
Aus prāṇa hat sich alles entwickelt, was wir Energie nennen, alles, was wir Kraft nennen. Es ist prāṇa, das sich als Gravitation, als Magnetismus manifestiert. Es ist das prāṇa, das sich als die Aktion des Körpers, als Nervenstrom, als Gedankenkraft manifestiert.... prāṇa ist die verallgemeinerte Manifestation von Kraft. Vivekananda, 2006, S. 147
In der ständigen Wiederholung von Begriffen wie Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus oder Nervenstrom drückt Vivekananda das große Bedürfnis der spiritistischen und okkultistischen Bewegungen (nicht nur) seiner Zeit aus, ihre Theorien als wissenschaftlich fundierte Gesetzmäßigkeiten darzustellen. Dabei ging es ihm nicht allein um eine Anerkennung seiner Lehren im Westen. Auch unter den hinduistischen Reformern des 19. Jahrhunderts war es eine vorherrschende Tendenz, die vedantische Religion der empirischen Philosophie der mechanistischen Wissenschaften anzupassen.1
Und genauso wie sich heute vieles mit dem Namen Yoga schmückt, spannte Vivekananda mit seinem Yogaverständnis einen weiten Schirm auf: Wo immer eine Sekte von Menschengruppen versucht, etwas Okkultes und Mystisches oder Verborgenes aufzuspüren, ist das, was sie tun, in Wirklichkeit Yoga. Vivekananda, 2006, S. 159 Weil sich Yoga seiner Ansicht nach auf einer Ebene mit den Naturgesetzen verortet, sind laut Vivekananda seiner Wirkung keine natürlichen Grenzen gesetzt: Der Mensch, der gelernt hat, die inneren Kräfte zu manipulieren, wird die gesamte Natur unter seine Kontrolle bringen. Der Yogi sucht nichts weniger, als das ganze Universum zu beherrschen, die ganze Natur zu kontrollieren (…) er wird der Herr der ganzen Natur sein, innerlich und äußerlich. Vivekananda, 2006, S. 133
Hier ist Vivekananda wieder ganz bei den Allmachtsfantasien und dem Wunderglauben der alten Yogis des Haṭha Yoga, deren Körperpraxis er allerdings weiterhin verachtet. Was dies für das Verständnis von Yogapraxis konkret bedeutet, wird deutlich, wenn Vivekananda Prāṇāyāma erklärt: Manchmal verlagert sich die Zufuhr von Prāṇāyāma im eigenen Körper mehr oder weniger auf einen Teil; das Gleichgewicht ist gestört, und wenn das Gleichgewicht von prāṇa gestört ist, entsteht das, was wir Krankheit nennen. Wenn man das überflüssige prāṇa entfernt oder das fehlende prāṇa zuführt, heilt man die Krankheit. Das wiederum ist Prāṇāyāma – zu lernen, wann in einem Teil des Körpers mehr oder weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte. Das Fühlen wird so subtil, dass der Geist selbst spürt, dass im Zeh oder im Finger weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte, und dass er die Kraft besitzt, es zu ergänzen. Vivekananda, 2006, S. 155f, zit. n. Elisabeth de Michelis, A History of Modern Yoga, London 2008, S. 164
Dazu bemerkt Elisabeth De Michelis: In dieser Passage wird eine vollständige Materialisierung des Prāṇa-Konzepts deutlich: Prāṇa wird als eine ganz und gar materielle, wahrnehmbare Substanz beschrieben, die auf physikalische Gesetze (wenn auch subtile) in kontrollierbarer Weise reagiert. Michelis 2008, S. 164
Im Zuge der Verbreitung des Yoga im Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Beherrschung und Lenkung dieses stets recht wolkig beschriebenen Fluidums zu einem zentralen Motiv für die Erklärung von Yogapraxis und deren Wirkungen – und ist es vielfach noch heute. Grundlage dafür legten die bei der Popularisierung des Prāṇāyāma in Europa einflussreichsten Publikationen wie André van Lisebeths – Die große Kraft des Atems oder B.K.S. Iyengars – Licht auf Prāṇāyāma. In letzterem heißt es beispielsweise: Beim Einatmen wird die Urenergie in der Form des Atems empfangen, und beim Luftanhalten geht es darum, diese Energie auszukosten. B.K.S. Iyengar, Licht auf Pranayama, München 1984, S. 35
Und weiter: Die Erzeugung und Verteilung von prāṇa im menschlichen Organismus mag man mit der elektrischen Energie vergleichen. (…) Prāṇa gleicht dem fallenden Wasser oder dem Druck des Dampfes. (…) Der Brustraum ist das magnetische Feld. Einatmung, Ausatmung und Luftanhalten sind wie die Turbinen, während die Chakras die Akkumulatoren und Transformatoren darstellen. Die von prāṇa erzeugte Energie (ojas) ist wie Elektrizität. B.K.S. Iyengar, 1984, S. 67
In Die große Kraft des Atems schreibt André van Lisebeth: Werden die yogischen Theorien mit den Beobachtungen und Entdeckungen der westlichen Wissenschaft verglichen, kann man sagen, dass das prāṇa der Atmosphäre, wenn nicht vollständig, so doch zum großen Teil von elektrisch geladenen Partikeln gebildet wird, die Ionen sein können. Andererseits gibt es in unserem Körper einen Stoffwechsel der Elektrizität, der aus der Atmosphäre geschöpft wird. 2
Die theosophisch-spiritistische Neudeutung von Yoga durch Vivekananda fand ihre Verbreitung schon früh auch in Deutschland, vorwiegend durch Karl-Otto Schmidt, dessen bereits 1929 erschienenes Buch Kraft durch Atem großen Einfluss auf das Verständnis, die Praxis und die Verbreitung von Prāṇāyāma – und Yoga insgesamt hatte. Karl – Otto Schmidt, „Kraft durch Atem“; 1. Auflage 1929, zuletzt 2010
Das Echo der Neudeutungen von prāṇa und Yoga im Zuge der Entstehung des Modernen Yoga Ende des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung im Westen Anfang des 20. Jahrhunderts ist in vielen Erklärungen von Yoga und seinen Wirkungen auch heute noch allgegenwärtig.
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1 Meera Nanda, Yoga Scientized: How Sami Vivekananda rewrote Ptatañjali’s Yoga Sūtra. In: Science in Saffron, Gurgaon, India 2016, S.166 Freier download u.a. unter: https://www.researchgate.net/publication/303857130_Science_in_Saffron_Skeptical_Essays_on_History_of_Science
2 André van Lysebeth, Die große Kraft des Atems, 1982, S. 15 – Zum Verhältnis esoterischer Weltdeutung und heutiger Wissenschaft die faktenreichen Essays der indischen Wissenschaftshistorikerin Meera Nanda, zum Beispiel: Yoga Scientized (2016). Die unreflektierte Vermischung traditioneller Welt- und Körperbilder mit empirischer Wissenschaft ist in Yoga-Publikationen allgegenwärtig. Ergebnis sind Konfusionen wie dieser: „Die Hatha-Yogis waren der Überzeugung, dass wir mit jedem Atemzug nicht nur Sauerstoff, sondern auch Lebensenergie aufnehmen“ Anna Trökes, Das große Yogabuch, München 2000, S. 166. Man fragt sich also, ob es die Yogis also nicht schon immer besser gewusst haben. Aber der Satz gibt keinen Sinn. Die Hatha-Yogis konnten einfach deshalb nicht überzeugt sein, dass wir beim Atmen nicht nur Sauerstoff aufnehmen, weil „Sauerstoff“ in ihrem Wissen von der Welt schlicht nicht existierte. Was sie kannten und was für sie große Bedeutung hatte (und in alten Texten immer wieder thematisiert wurde), war die offensichtliche Tatsache, dass ein Mensch, der aufhört zu atmen, nicht weiterleben kann, ihm also etwas Entscheidendes fehlt, das er zum Leben benötigt. Was das sein genau könnte, darüber wurde intensiv spekuliert. Die Antworten fielen je nach religiöser Überzeugung und jeweiligem Zeitgeist unterschiedlich aus und blieben es in den verschiedenen Traditionen auch.