Prāṇa?

Wenn heute über Wirkungen und Ziele im Zusammenhang mit Yoga von prāṇa die Rede ist, bleibt dabei oft unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Möchte man damit nicht nur Altehrwürdigkeit und geheimnisvolle Exotik transportieren, wollen Erklärungen und Begründungen mit Begriffen aus einer alten Tradition wie dem Yoga und einer Sprache wie dem Sanskrit wohlbedacht sein. Vor allem, wenn sie mit einer so wechselvollen Geschichte verbunden sind, wie es bei prāṇa der Fall ist.

Worauf bezieht es sich, wenn jemand davon spricht, dass prāṇa fließt, blockiert ist, mit entsprechender Konzentration erreicht werden kann oder lenkbar ist? Und vor allem, woher weiß man dies eigentlich? Der folgende Artikel soll helfen, achtsam mit einem Begriff umzugehen, der in der Tradition des Yoga zwar verschiedene Bedeutungen hatte, aber nie beliebig war.

Da für diesen Artikel die Frage »Woher weiß man dies alles?« besonders ernst zu nehmen ist, geben die entsprechenden Anmerkungen Interessierten darauf teilweise recht ausführliche Antworten. Man verpasst aber inhaltlich nichts Wichtiges, wenn man sich durch die vielen und zum Teil langen Anmerkungen den Lesefluss nicht unterbrechen lassen will.

Beginnen wir mit dem Einfachsten, nämlich einem Blick in klassische Sanskrit-Wörterbücher.1 Dort werden für prāṇa verschiedene Bedeutungen angeboten, im Wesentlichen: Einatmung, Atem, die Bezeichnung für einen von fünf Körperwinden oder Lebenskraft, und als Adjektiv verwendet, angefüllt.

Folgen wir diesen Übersetzungen, so bezieht sich prāṇa sowohl auf den Atem als auch auf ein Modell menschlicher Körperfunktionen oder ganz allgemein auf das, was uns am Leben hält – was immer wir uns darunter vorstellen mögen.

Viel komplexer stellt sich die Bedeutung von prāṇa jedoch dar, wenn wir uns damit auseinandersetzen, wofür dieser Begriff in der langen Geschichte des Yoga eigentlich stand. Dabei zeigt sich, dass unter prāṇa sehr Unterschiedliches verstanden wurde. In seiner Verwendung spiegeln sich die jeweiligen Glaubensvorstellungen, Menschen- und Weltbilder ebenso wider, wie unterschiedliche Vorstellungen von der Wirkungsweise und den Zielen der Yogapraxis. Dies gilt insbesondere für eine Neudeutung von prāṇa. Sie ist eng verbunden mit der Entstehung des modernen Yoga am Ende des 19. Jahrhunderts und prägt bis heute viele Erklärungen zur Wirkung von Yoga und soll deshalb hier besonders erläutert werden.

Was also meinte eigentlich prāṇa? Und: Woher wissen wir das?

Beginnen wir mit einem Text, den wir gerne nutzen, wenn wir nach der Referenz für unser Wissen über Yoga gefragt werden. Es handelt sich um das Yoga Sūtra des Patañjali, mit dem sich vor mehr als tausend Jahren Yoga in Indien als eigenständiges Übungssystem etablierte.

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1 Insbesondere das bekannteste Wörterbuch „Monier-Williams Sanskrit-English Dictionary“ von 1899, in seiner online-Version unter https://www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/scans/MWScan/2020/web/webtc2/index.php. Am nützlichsten für die Übersetzung von Sanskrit-Wörtern (mit Links zu den wichtigsten Sanskrit-Online-Wörterbüchern) ist das Übersetzungsportal https://www.learnsanskrit.cc/translate?search=prana&dir=a

Prāṇa?

Wenn heute über Wirkungen und Ziele im Zusammenhang mit Yoga von prāṇa die Rede ist, bleibt dabei oft unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Möchte man damit nicht nur Altehrwürdigkeit und geheimnisvolle Exotik transportieren, wollen Erklärungen und Begründungen mit Begriffen aus einer alten Tradition wie dem Yoga und einer Sprache wie dem Sanskrit wohlbedacht sein. Vor allem, wenn sie mit einer so wechselvollen Geschichte verbunden sind, wie es bei prāṇa der Fall ist.

Worauf bezieht es sich, wenn jemand davon spricht, dass prāṇa fließt, blockiert ist, mit entsprechender Konzentration erreicht werden kann oder lenkbar ist? Und vor allem, woher weiß man dies eigentlich? Der folgende Artikel soll helfen, achtsam mit einem Begriff umzugehen, der in der Tradition des Yoga zwar verschiedene Bedeutungen hatte, aber nie beliebig war.

Da für diesen Artikel die Frage »Woher weiß man dies alles?« besonders ernst zu nehmen ist, geben die entsprechenden Anmerkungen Interessierten darauf teilweise recht ausführliche Antworten. Man verpasst aber inhaltlich nichts Wichtiges, wenn man sich durch die vielen und zum Teil langen Anmerkungen den Lesefluss nicht unterbrechen lassen will.

Beginnen wir mit dem Einfachsten, nämlich einem Blick in klassische Sanskrit-Wörterbücher.1 Dort werden für prāṇa verschiedene Bedeutungen angeboten, im Wesentlichen: Einatmung, Atem, die Bezeichnung für einen von fünf Körperwinden oder Lebenskraft, und als Adjektiv verwendet, angefüllt.

Folgen wir diesen Übersetzungen, so bezieht sich prāṇa sowohl auf den Atem als auch auf ein Modell menschlicher Körperfunktionen oder ganz allgemein auf das, was uns am Leben hält – was immer wir uns darunter vorstellen mögen.

Viel komplexer stellt sich die Bedeutung von prāṇa jedoch dar, wenn wir uns damit auseinandersetzen, wofür dieser Begriff in der langen Geschichte des Yoga eigentlich stand. Dabei zeigt sich, dass unter prāṇa sehr Unterschiedliches verstanden wurde. In seiner Verwendung spiegeln sich die jeweiligen Glaubensvorstellungen, Menschen- und Weltbilder ebenso wider, wie unterschiedliche Vorstellungen von der Wirkungsweise und den Zielen der Yogapraxis. Dies gilt insbesondere für eine Neudeutung von prāṇa. Sie ist eng verbunden mit der Entstehung des modernen Yoga am Ende des 19. Jahrhunderts und prägt bis heute viele Erklärungen zur Wirkung von Yoga und soll deshalb hier besonders erläutert werden.

Was also meinte eigentlich prāṇa? Und: Woher wissen wir das?

Beginnen wir mit einem Text, den wir gerne nutzen, wenn wir nach der Referenz für unser Wissen über Yoga gefragt werden. Es handelt sich um das Yoga Sūtra des Patañjali, mit dem sich vor mehr als tausend Jahren Yoga in Indien als eigenständiges Übungssystem etablierte.

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1 Insbesondere das bekannteste Wörterbuch „Monier-Williams Sanskrit-English Dictionary“ von 1899, in seiner online-Version unter https://www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/scans/MWScan/2020/web/webtc2/index.php. Am nützlichsten für die Übersetzung von Sanskrit-Wörtern (mit Links zu den wichtigsten Sanskrit-Online-Wörterbüchern) ist das Übersetzungsportal https://www.learnsanskrit.cc/translate?search=prana&dir=a

Prāṇa?

Wenn heute über Wirkungen und Ziele im Zusammenhang mit Yoga von prāṇa die Rede ist, bleibt dabei oft unklar, was damit eigentlich gemeint ist. Möchte man damit nicht nur Altehrwürdigkeit und geheimnisvolle Exotik transportieren, wollen Erklärungen und Begründungen mit Begriffen aus einer alten Tradition wie dem Yoga und einer Sprache wie dem Sanskrit wohlbedacht sein. Vor allem, wenn sie mit einer so wechselvollen Geschichte verbunden sind, wie es bei prāṇa der Fall ist.

Worauf bezieht es sich, wenn jemand davon spricht, dass prāṇa fließt, blockiert ist, mit entsprechender Konzentration erreicht werden kann oder lenkbar ist? Und vor allem, woher weiß man dies eigentlich? Der folgende Artikel soll helfen, achtsam mit einem Begriff umzugehen, der in der Tradition des Yoga zwar verschiedene Bedeutungen hatte, aber nie beliebig war.

Da für diesen Artikel die Frage »Woher weiß man dies alles?« besonders ernst zu nehmen ist, geben die entsprechenden Anmerkungen Interessierten darauf teilweise recht ausführliche Antworten. Man verpasst aber inhaltlich nichts Wichtiges, wenn man sich durch die vielen und zum Teil langen Anmerkungen den Lesefluss nicht unterbrechen lassen will.

Beginnen wir mit dem Einfachsten, nämlich einem Blick in klassische Sanskrit-Wörterbücher.1 Dort werden für prāṇa verschiedene Bedeutungen angeboten, im Wesentlichen: Einatmung, Atem, die Bezeichnung für einen von fünf Körperwinden oder Lebenskraft, und als Adjektiv verwendet, angefüllt.

Folgen wir diesen Übersetzungen, so bezieht sich prāṇa sowohl auf den Atem als auch auf ein Modell menschlicher Körperfunktionen oder ganz allgemein auf das, was uns am Leben hält – was immer wir uns darunter vorstellen mögen.

Viel komplexer stellt sich die Bedeutung von prāṇa jedoch dar, wenn wir uns damit auseinandersetzen, wofür dieser Begriff in der langen Geschichte des Yoga eigentlich stand. Dabei zeigt sich, dass unter prāṇa sehr Unterschiedliches verstanden wurde. In seiner Verwendung spiegeln sich die jeweiligen Glaubensvorstellungen, Menschen- und Weltbilder ebenso wider, wie unterschiedliche Vorstellungen von der Wirkungsweise und den Zielen der Yogapraxis. Dies gilt insbesondere für eine Neudeutung von prāṇa. Sie ist eng verbunden mit der Entstehung des modernen Yoga am Ende des 19. Jahrhunderts und prägt bis heute viele Erklärungen zur Wirkung von Yoga und soll deshalb hier besonders erläutert werden.

Was also meinte eigentlich prāṇa? Und: Woher wissen wir das?

Beginnen wir mit einem Text, den wir gerne nutzen, wenn wir nach der Referenz für unser Wissen über Yoga gefragt werden. Es handelt sich um das Yoga Sūtra des Patañjali, mit dem sich vor mehr als tausend Jahren Yoga in Indien als eigenständiges Übungssystem etablierte.

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1 Insbesondere das bekannteste Wörterbuch „Monier-Williams Sanskrit-English Dictionary“ von 1899, in seiner online-Version unter https://www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/scans/MWScan/2020/web/webtc2/index.php. Am nützlichsten für die Übersetzung von Sanskrit-Wörtern (mit Links zu den wichtigsten Sanskrit-Online-Wörterbüchern) ist das Übersetzungsportal https://www.learnsanskrit.cc/translate?search=prana&dir=a

Prāṇa im Yoga Sūtra des Patañjali: prāṇa ist Atmung

Das mag manche überraschen: In der ausführlichen Begründung von Yoga durch Patañjali spielt prāṇa keine wesentliche Rolle. Nur einmal ist ausdrücklich von prāṇa die Rede, und zwar dort, wo im ersten Kapitel in einer Reihe von Sūtren verschiedene Möglichkeiten aufgezählt werden, wie ein unsteter Geist beruhigt werden kann. In einem davon (Yoga Sūtra, 1. Kapitel – Sūtra 34) schlägt Patañjali eine Atemübung vor, bei der in besonderer Weise nicht nur eingeatmet, sondern vor allem auch ausgeatmet werden soll.

pracchardanavidhāranābhyām vā prāṇasya
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 34

Oder durch intensives Ausstoßen zusammen mit besonderem Aufnehmen/Halten von prāṇa.

Die Bedeutung von prāṇa ist hier schlicht der Atem oder die Atmung als physischer Atemfluss P.T. Karambelkar, Patañjali Yoga Sūtras, Lonavla, Kaivalyadhama, o. J., S. 10 – so der Kommentar des kundigen Kenners und Übersetzers des Yoga Sūtra P.V. Karambelkar. Er folgt dabei wie viele andere Übersetzer auch dem ältesten zum Yoga Sūtra von Vyāsa verfassten Kommentar, der in keiner der überlieferten Fassungen des Sūtra-Textes fehlt.1 Was hier mit prāṇa gemeint ist, wird sehr genau erklärt. Es ist die aus dem Bauchraum durch die Öffnungen der Nase ausgestoßene Luft bei der Ausatmung und deren Kontrolle bzw. Verhaltung mit der Einatmung.2  

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1 Inzwischen spricht vieles dafür, dass der Kommentar von Vyāsa kein nachträglich angefügter Text war, sondern vom selben Autor wie, dem der Sūtren verfasst wurde – ein in der indischen Tradition kein ungewöhnliches Vorgehen. Heute spricht man deshalb oft über das Yoga Sūtra als Yogaśastra („Abhandlung über Yoga“) und meint damit die Sūtren mit deren Kommentar. Ausführlich begründet findet sich diese Auffassung bei: Philipp André Maas, Samādhipāda. Das erste Kapitel des Patañjaliyogaśastra, 2006. Und ders.: Patañjaliyogaśastra, in: Knut A. Jacobsen (Chief Ed.). Brill’s Encyclopedia of Hinduism.2023, freier Download unter: https://www.academia.edu/108697576/Pta%C3%B1jalayoga%20stra?email_work_card=view-paper

2 Karambelkar (s. o.) diskutiert aber auch andere Möglichkeiten der Interpretation: „oder“ (= vā) bezieht sich auf die vorherigen und nachfolgenden Sūtren, in denen es ebenso wie hier um Möglichkeiten zur Beruhigung des Geistes geht: „durch intensives Ausstoßen“ (= pracchardana) / „zusammen mit“ (= bhyām) „besonderem“ (= vi) / Aufnehmen/Halten (= dhāraṇa) von prāṇa (= prāṇasya).
Zur Bedeutung von „dhārana“ ergänzt der Kommentar: „dhārana ist Prāṇāyāma“. Weil dhārana sowohl „ergreifen“ als auch „halten“ bedeuten kann, ist für Karambelkar als Übersetzung sowohl möglich: „zusammen mit besonderem Einatmen von prāṇa“ als auch zusammen mit besonderem Halten von prāṇa. Letzteres entspricht der Betonung der Atemverhaltungen im damaligen Verständnis von „Prāṇāyāma“ am ehesten. Karambelka vermeidet in seiner Übersetzung aber die Betonung des Anhaltens des Atems und schlägt als eine dem heutigen Verständnis von Atempraxis sinnvollste und angemessenste Übersetzung des Sūtra vor: „Oder das tiefe und intensive Ausatmen von prāṇa und dessen kontrolliertes Einatmen“. Ähnlich die freie Übertragung von T.K.V. Desikachar. Er greift den Hinweis in Vyāsas Kommentar auf, dass es sich in diesem Sūtra nicht um einen einzigen Atemzug handelt, sondern tatsächlich, wie Vyāsa erläutert, um ein Prāṇāyāma, also eine Atem-Übung und überträgt: „Atemübungen, die eine Betonung und Verlängerung der Ausatmung einschließen, können dazu dienen, unseren Geist ruhiger werden zu lassen.“ Auch dies auf dem Hintergrund heutigen Wissens über die besondere Bedeutung der Ausatmung und der Unsinnigkeit der Betonung des Einatmens gerade für eine Übung zur Beruhigung eines unsteten Geistes.T.K.V. Desikachar, Über Freiheit und Meditation; Das Yoga Sūtra des Patañjali, S. 44.

Prāṇa im Prāṇāyāma des Yoga Sūtra

Diese Lesart von prāṇa als das beeinflussbare körperliche Atemgeschehen gilt im Yoga Sūtra auch für das Verständnis von Prāṇāyāma und damit auch für jenes prāṇa, das hier mit āyāma zu einem Begriff verbunden wird. Letzteres meint Kontrolle oder Ausdehnung.1

Wörtlich ließe sich Prāṇāyāma also als Prāṇa-Kontrolle verstehen. Was es zu kontrollieren gilt, beschreibt Patañjali in seiner Definition von Prāṇāyāma (Yoga Sūtra, 2. Kapitel – Sūtra 50):

  • die Einatmung
  • die Ausatmung
  • das Verhalten des Atems

Und der Vyāsa-Kommentar konkretisiert weiter: Einatmung ist das Trinken der äußeren Luft, die Ausatmung das Ausstoßen der Luft aus dem Unterleib. Ziel dieser Kontrolle ist, den Atem zu verlängern (dīrgha) und zu verfeinern (sūkṣma). Als Ergebnis dieser Praxis verspricht Patañjali die Verringerung innerer Unklarheiten und die Verbesserung der Fähigkeit des Geistes, sich ohne Ablenkung auszurichten. Von prāṇa ist dabei nicht mehr die Rede.

Im Yoga Sūtra meint prāṇa also den Atem als Bewegung der ein- und ausströmenden Atemluft.

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1 Der Sanskrit-Begriff āyāma bedeutet gleichermaßen ausdehnen, strecken wie kontrollieren, anhalten. Monier-Williams Sanskrit-English Dictionary 1899, Seite 148.2. Inhaltlich geht es hier um das Gleiche: die Kontrolle der Atembewegung im Sinne einer Ausdehnung, also Verlängerung der Atemphasen. Was das Yoga Sūtra angeht, kann man Prāṇāyāma also wörtlich und auch inhaltlich richtig als Atem-Ausdehnung oder Ausdehnung der Atembewegung übersetzen.

Prāṇa im Sāṃkhya

Auch im Sāṃkhya, dem Theoriegebäude, auf das sich das Yoga Sūtra bezieht, spielt prāṇa keine besondere Rolle. Es gehört nicht zu den 25 sogenannten tattvas, aus denen sich nach der Welterklärung des Sāṃkhya das Universum (zusammen mit den drei gunas: rajas, tamas und sattva) formt. Im ältesten erhaltenen Text des Sāṃkhya, der Sāṃkhyakārikā, Vers 29 wird prāṇa dort erwähnt, wo es um die Tätigkeit der menschlichen Organe geht. Sie besteht, so heißt es dort, in der Bewegung der fünf Winde (vāyu), also prāṇa und der Rest. Sāṃkhyakārikā, śloka 29, The Sāṃkhyakārikā of Īśvara Kṛṣã, Madras 1973 (1930) Damit ist ein damals weitverbreitetes und häufig genutztes Modell angesprochen, in dem prāṇa als einer (und der wichtigste) von fünf Lebenswinden verstanden wird.

Die fünf Lebenswinde – die vāyu

Hört der Mensch auf zu atmen, so verlässt ihn das Leben. Auf diesen offensichtlichen Zusammenhang wird schon in den ältesten Schriftzeugnissen Indiens immer wieder hingewiesen, um die zentrale Bedeutung des Atems für das Leben zu unterstreichen.

Wie organisiert sich aber das Leben im Menschen selbst? Als Antwort auf diese Frage entwickelte sich schließlich von den frühesten Anfängen bis in die Zeit der Upaniṣaden vor zweieinhalbtausend Jahren so etwas wie ein Standardmodell, auf das in vielen Texten – auch des Yoga – immer wieder Bezug genommen wird.

Was den Menschen am Leben erhält, so eine damals weitverbreitete Spekulation, ist die Bewegung der fünf Winde, der fünf vāyu.1 Für eine Erinnerung, was damit gemeint ist, genügte dann wie in der Sāṃkhyakārikā der kurze Hinweis:

Prāṇa und der Rest. Der Rest, das meint apāna, udāna, samāna und vyāna, oder eben apānavāyu, udānavāyu, samānavāyu und vyānavāyu.

  • Prāṇa steht dabei für den ersten Atem, der dem Menschen überhaupt erst das Leben schenkt. Prāṇa bezeichnet aber gleichzeitig auch den vorderen oder oberen Atem, der durch die Nasenlöcher im Gesicht bis zum Herz hinunterreicht.
  • Apāna, der nach unten bis zu den Fußsohlen gehende Atem, wird unter anderem mit dem Ausatmen, der Ausscheidung oder dem Geburtsvorgang in Verbindung gebracht.
  • Udāna führt vāyu nach oben bis in den Kopf und wird oft mit der Fähigkeit zu sprechen in Verbindung gebracht.
  • Samāna, der ausgleichende Atem, steht für die Fähigkeit des Körpers zum Stoffwechsel und bezieht sich vorwiegend auf die Verdauung und wird oft auch agni, (Magen-Feuer) genannt.
  • Und schließlich vyāna, der durchdringende Atem, der über den ganzen Körper verteilt ist und für jede Form von Zirkulation steht.

Die verschiedenen vāyu wurden ebenfalls unterschiedlichen Körperfunktionen und Körperorten zugeordnet, und zwar in einer hierarchischen Ordnung:

  • Prāṇa im Herzen regiert die anderen Winde.
  • Apāna hat seinen ersten Ort im unteren Bauchraum/Becken
  • Udāna im oberen Brustkorb/Kehle/Kopf
  • Samāna im Bauch
  • Vyāna im ganzen Körper.

Die Zuordnung der 5 Winde zu bestimmten Körperorten und besonderen Körperfunktionen war (und blieb) allerdings keineswegs einheitlich.2 Mal endete udāna am Scheitel, mal zwischen den Augenbrauen, mal galt es, wie in der Maitrī Upanishad, als der Wind zwischen vyāna und samāna, der das, was man trinkt oder isst, aufstößt oder verschluckt.

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1 Eine ausführliche Darlegung der historischen Entwicklung des Modells der Vāyu, auch deren Rolle in der Āyuveda in:Kenneth G. Zysk, The bodily winds in ancient India revisited; Journal of the Royal Anthropological Institute, 2007 sowie Kenneth G. Zysk, The Science of respiration and the doctrine of the bodily winds in ancient India; Journal of the American Oriental Society, Vol 113, No 2, 1993 sowie Graham Burns, Vedic and Ayurvedic Roots of the Ha†ha Yoga Theory of Prāṇa, Diss. am SOAS, London 2010 freier Download: https://www.academia.edu/3589772/Vedic_and_Ayurvedic_Roots_of_the_Hatha_Yoga_Theory_of_Prana*

2 Es ist grundsätzlich Vorsicht angebracht mit einer direkten Übertragung der damals üblichen Beschreibungen des Körpers auf unser heutiges Körperverständnis. So wurde etwa das Lungengewebe zwar als ein besonderer Teil des menschlichen und tierischen Körpers erkannt, aber nicht als Ort des Stoff- oder, wenn man so will, Energieaustauschs mit der Atemluft betrachtet. Vielmehr galt die Lunge als der Ort des Schleims (kapha), das Herz hingegen als erster Ort der inneren Atmung. s. K.G. Zyst 1993, S. 201

Die Ursprünge

Wie zur gleichen Zeit im Abendland, war auch im alten Indien das Denken von der Suche nach Ähnlichkeiten beherrscht: zwischen Körper und Kosmos, zwischen körperlichen Vorgängen und dem, was als Elemente und Phänomene in der natürlichen Welt angesehen wurde.

So glaubten die Verfasser der ältesten Veden vor dreitausend Jahren, dass sich im Atem des Menschen prāṇa der Wind der Natur vāyu manifestiere und in beiden eine alles Leben spendende Kraft manifestiere.

Als es noch kein Leben auf der Erde gab, heißt es in der Ṛg Veda, der ältesten Textsammlung der indischen Religion, die vor etwa dreitausend Jahren entstand, gab es auch noch keinen Wind und keinen Himmel darüber … weder Tod noch Unsterblichkeit. Erst der Wind gab der Erde und über den Atem dem Menschen das Leben.1

Die Spekulationen über die Aufteilung des Lebenswindes prāṇa in verschiedene vāyu und deren Zuordnung zu bestimmten Körperfunktionen waren jedoch lange noch nicht standardisiert. In der Atharvaveda (um 1000 v.u.Z.) beispielsweise sind die vāyu nicht zu einem festen System von fünf zusammengefasst worden, sondern es werden nur zwei (meist als Paar prāṇa und apāna) oder eine Konstellation von drei oder vier genannt. Dort ist auch von einer Gruppe von Asketen Vrātyas die Rede, die für ihre Techniken der Atemkontrolle bekannt waren. Dabei werden drei Atemzüge erwähnt, prāṇa, apāna und vyāna, die sich jeweils auf das Einatmen, Ausatmen und das Zurückhalten beziehen. K.G. Zysk 2007 (s. o.), S. 107, s. u. Hervorh. d. Verf.

Und in der Aitareya Brāhmaṇa, einem Text aus der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends, werden 3, 9 oder 10 Winde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Vāyu-Konzepten aufgezählt. Mallinson, M. Singleton, Roots of Yoga; 2017, S. 173 Im religiösen Kontext der viel späteren Upanishaden (ab ca. 600 v.u.Z.) wurde prāṇa nicht nur als universelle Kraft des Lebens angesehen. In prāṇa manifestierte sich nun auch die Vorstellung von Ātman als individueller Seele. Dieser Ātman wiederum galt als die Verkörperung von Brahman, dem höchsten Prinzip im Kosmos schlechthin. Dazu ausführlich G. Burns 2010, S. 16 ff.

Ging es dort aber darum, prāṇa als die dem Menschen innewohnende Lebenskraft näher zu erläutern, so diente dazu, wie in der Taittirīya Upanishad, häufig das Modell der fünf vāyu. Und dies immer mit dem oben beschriebenen funktionalen Verständnis von prāṇa, apāna, udāna, samāna und vyāna als bestimmte Körperfunktionen und damit verbundene Körperbereiche.

Kurz gesagt: Prāṇa und die fünf vāyu dienten nun als eine Art Standardmodell für die Beschreibung des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Es erklärte die wichtigsten Körperfunktionen in direktem Zusammenhang mit Atem und bezogen auf Offensichtliches: Atembewegung, Zirkulation, Ausscheidung, Stoffwechsel.

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1 In einer Hymne des Ṛg Veda wird (neben Sonne, Mond, Himmel und Erde) der Wind (vāyu) als wichtige vedische Gottheit aus dem Aushauchen des zerstückelten ersten Menschen erschaffen. Die Bedeutung des Atems als primäre Lebenskraft – zweifellos durch einfache empirische Beobachtung der Funktion der Atmung – spiegelt sich in mehreren Sterbehymnen des Ṛg Veda wider, die das Verschwinden von prāṇa als eines der Indizien des Todes anführen. G. Burns 2010, S. 9

Haṭha Yoga

Wenn es in der Verbindung mit Prāṇāyāma vorkommt, dann hat das Wort prāṇa bei den Autoren des Haṭha Yoga nur eine Bedeutung, nämlich Atem, stellt Kuvalayananda in seinem 1931 erschienenen Buch Prāṇāyāma fest.1

Im Haṭha Yoga steht prāṇa zwar auch für den ersten und oberen Atem, wie im Modell der fünf Vāyu.2 Wenn sie aber nicht von Prāṇāyāma selbst sprechen, so Kuvalyananda, dann meinen die Texte des Haṭha Yoga damit eine Kraft, die durch den Prozess des Prāṇāyāma erst erweckt wird.

Wesentlich für dieses Verständnis des Haṭha Yoga von prāṇa ist, dass es als etwas angesehen wurde, das durch die Praxis von Āsana, Prāṇāyāma und Mudrā unmittelbar erreicht werden kann, also bei entsprechend intensiver Anstrengung und Willenskraft einem direkten Zugriff zugänglich ist. Von prāṇa ist immer dann die Rede, wenn es um dessen Beherrschung geht. Die dahinter stehenden Vorstellungen sind auf den großen Einfluss asketischer Konzepte und tantrischer Religionen, auf den Haṭha Yoga zurückzuführen.3
Prāṇa wird weniger als eine Leben und Freude schenkende Kraft gefeiert, sondern ist Ziel der Bemühung um seine möglichst vollkommene Unterwerfung unter den Willen des praktizierenden Yogis. Das gilt auch für das Zusammenspiel der fünf Vāyu. Auch hier ist das Ziel nicht die Förderung ihres harmonischen Funktionierens, sondern ihre möglichst vollkommene Beherrschung. Diese Sichtweise von prāṇa ist mit einem besonderen Verständnis der menschlichen Lebensdynamik verbunden. Dem Körper wird offensichtlich die Fähigkeit abgesprochen, aus eigener Kraft ein inneres Gleichgewicht zu erreichen. Er wird eher als ein mit Schlacken beladener Ort betrachtet, der ständiger Reinigung bedarf; seine ihm eigene innere Organisation und Dynamik sind grundsätzlich mangelhaft.4 Natürliche Körperprozesse sollen dem eigenen Willen unterworfen und zum Beispiel das eigentlich nach unten gerichtete apāna (wie auch der männliche Samen) durch entsprechende Praxis auf den Weg nach oben gezwungen werden.

Dieses Streben nach vollständiger Kontrolle bezieht sich auch auf den Atem selbst. Gleich zu Beginn des Kapitels über Prāṇāyāma heißt es in der berühmten Haṭha Pradīpikā: Solange der Atem fließt, bleibt der Geist unruhig, hört der Atem auf, wird der Geist ruhig und der Yogi erlangt völlige Regungslosigkeit. Deshalb sollte man seinen Atem anhalten. (Haṭha Yoga Pradīpikā Kapitel 2, Vers 2)

Letztlich geht es darum, durch den willentlichen Zugriff auf den Atem nicht nur prāṇa und die Bewegungen aller anderen vāyu zu beherrschen, sondern auch das Leben selbst. So galt als ein Zeichen großen Fortschritts in der yogischen Praxis die Fähigkeit, zumindest den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, wenn nicht gar Unsterblichkeit zu erlangen.4
Dabei erklärte der Haṭha Yoga die Wirkung von Yogapraxis in einer sehr mechanistischen Weise. Zum Beispiel sah man im Erzeugen von Hitze (analog zum Opferfeuer) das wirksamste Mittel, Schlacken und Unreinheiten im Körper zu beseitigen. Entsprechend gilt im Haṭha Yoga als wichtigste Reinigungstechnik das Erzeugen von innerer Hitze durch Betonung der Einatmung und möglichst langen Atemverhaltungen, um so im Körper Schlacken zu verbrennen. Da das innere Feuer im Magenbereich verortet und die Schlacken im Becken angesiedelt sind, zielen viele Reinigungstechniken darauf ab, die Distanz zwischen diesen Bereichen zu verringern. Durch Praktiken wie bandha oder Umkehrhaltungen soll das Feuer die Schlacken effizienter verbrennen. Trotz dieser Allmachtsfantasien verdanken wir dem Haṭha Yoga einen großen Schatz an Āsana- und Atemübungen, aus denen sich schließlich unsere heutige Yogapraxis entwickelte.

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1 Kuvalayananda, Prāṇāyāma; Lonavla, zuerst 1931, S. 48/49 und in seinen Erläuterungen zu den verschiedenen Atemübungen in der Haṭha Yoga Pradīpikā. Kuvalayananda (1883 – 1966) argumentiert hier schon in den 1930er Jahren explizit gegen moderne Vorstellungen wie die von Vivekananda (s. u.), der vierzig Jahre vorher prāṇa als universelle Kraft ganz neu deutete.

2 J. Mallinson, M. Singleton, Roots of Yoga; 2017, S. 133. Viele Texte der tantrischen und haṭhayogischen Traditionen lehren, dass der Yogi prāṇa (der obere Atem) und apāna (der untere Atem) verbinden sollte. Dabei geht es immer um etwas dem Menschen innewohnendes, wie es auch in der Gorakṣaśataka, einem Text des Haṭha Yoga aus dem 13. Jahrhundert, heißt: Prāṇa ist der Wind (vāyu), der im Körper entsteht.

3 Dazu zählt die bekannte Vorstellung eines den ganzen Körper überziehenden Netzes von Kanälen (nāḍī), die Existenz ganz besonderer Kanäle entlang der Wirbelsäule, verbunden mit besonderen Körperorten, die sich als Chakren visualisieren lassen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich viele Elemente der bisweilen sogenannten yogischen Physiologe nicht als Ergebnis der empirischen Beobachtung des Yogis, sondern als Teile einer im Körper visualisierten Abbildung der für die jeweilige Tradition spezifischen Weltbilder (metaphysisch) und deren Ritualstrukturen.
Verschiedene Traditionen präsentieren verschiedene Konzepte des yogischen Körpers, von denen einige sich ergänzen und miteinander vereinbar sind und andere nicht. Dies liegt daran, dass yogische Körperbilder den besonderen rituellen, philosophischen oder lehrmäßigen Erfordernissen der jeweils greifbaren Tradition erwachsen. Und daran, dass sie Ausdruck dieser Erfordernisse sind und nicht Beschreibungen einer sich aus sich selbst heraus verständlichen Körpererfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist. Mit anderen Worten: Die Ziele eines bestimmten Systems bestimmen die Art und Weise, wie der Körper in den Yogapraktiken vorgestellt und verwendet wird. Der yogische Körper war – und ist in den Kreisen der traditionell Praktizierenden immer noch – einer, der von der Tradition selbst konstruiert oder auf und in den Körper des Praktizierenden geschrieben wird. Zitiert aus Mallinson, Roots of Yoga; S. 172 und 175.

4 Das war wörtlich gemeint. Auch wenn die Körperkonzepte des Haṭha Yoga nie ein in sich stimmiges Ganzes waren (wie es manche Publikationen glauben machen wollen), hatten sie eines gemeinsam: Das Ziel einer Verwandlung des menschlichen Körpers durch Āsana und bestimmte Reinigungspraktiken in ein Gefäß, das gegen den sterblichen Verfall immun ist. G. Bruns 2010, S. 36 im Verweis auf die Forschungsergebnisse von G. D. Flood, Body and Cosmology in Kashmir Saivism 1993 und ders. The Tantric Body, London 2006.

Moderner Yoga

Eine bemerkenswerte Neudeutung von prāṇa entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Yoga. Es ist diese Neudeutung von prāṇa, die bei der Verbreitung des Yoga im Westen die Erklärungen zur Praxis und Wirkung des Yoga bestimmte und in vielen Yogapublikationen bis heute bestimmt. Es gab in der Entwicklung des Modernen Yoga auch prominente andere Stimmen, wie etwa Kuvalayananda, der ausdrücklich gegen Vivekanandas Neudeutung argumentierte oder T. Krishnamacharya, der davon gänzlich unbeeinflußt blieb.

Wichtigster Protagonist dieser Neudeutung war Swami Vivekananda (1863–1902): „Prāṇāyāma ist nicht, wie viele denken, etwas über den Atem; der Atem hat in der Tat, wenn überhaupt, nur sehr wenig damit zu tun. Prāṇa ist der Name für die Energie, die sich im Universum befindet. Was immer Sie im Universum sehen, was immer sich bewegt oder wirkt oder Leben hat, ist eine Manifestation dieses prāṇa. Die Gesamtsumme der im Universum repräsentierten Energie wird prāṇa genannt.“ Swami Vivekananda, Complete Works Bd. 1, Calcutta 2006, S. 147

Diese neue Sicht auf Prāṇāyāma (und letztlich auf die Rolle des Yoga insgesamt) entstand unter dem starken Einfluss euroamerikanischer okkulter, magiegläubiger und spiritistischer Bewegungen. Dabei erhob Vivekananda prāṇa zu einer zentralen Kategorie in der Erklärung der Praxis und Wirkung von Yoga:

Aus prāṇa hat sich alles entwickelt, was wir Energie nennen, alles, was wir Kraft nennen. Es ist prāṇa, das sich als Gravitation, als Magnetismus manifestiert. Es ist das prāṇa, das sich als die Aktion des Körpers, als Nervenstrom, als Gedankenkraft manifestiert.... prāṇa ist die verallgemeinerte Manifestation von Kraft. Vivekananda, 2006, S. 147

In der ständigen Wiederholung von Begriffen wie Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus oder Nervenstrom drückt Vivekananda das große Bedürfnis der spiritistischen und okkultistischen Bewegungen (nicht nur) seiner Zeit aus, ihre Theorien als wissenschaftlich fundierte Gesetzmäßigkeiten darzustellen. Dabei ging es ihm nicht allein um eine Anerkennung seiner Lehren im Westen. Auch unter den hinduistischen Reformern des 19. Jahrhunderts war es eine vorherrschende Tendenz, die vedantische Religion der empirischen Philosophie der mechanistischen Wissenschaften anzupassen.1

Und genauso wie sich heute vieles mit dem Namen Yoga schmückt, spannte Vivekananda mit seinem Yogaverständnis einen weiten Schirm auf: Wo immer eine Sekte von Menschengruppen versucht, etwas Okkultes und Mystisches oder Verborgenes aufzuspüren, ist das, was sie tun, in Wirklichkeit Yoga. Vivekananda, 2006, S. 159 Weil sich Yoga seiner Ansicht nach auf einer Ebene mit den Naturgesetzen verortet, sind laut Vivekananda seiner Wirkung keine natürlichen Grenzen gesetzt: Der Mensch, der gelernt hat, die inneren Kräfte zu manipulieren, wird die gesamte Natur unter seine Kontrolle bringen. Der Yogi sucht nichts weniger, als das ganze Universum zu beherrschen, die ganze Natur zu kontrollieren (…) er wird der Herr der ganzen Natur sein, innerlich und äußerlich. Vivekananda, 2006, S. 133

Hier ist Vivekananda wieder ganz bei den Allmachtsfantasien und dem Wunderglauben der alten Yogis des Haṭha Yoga, deren Körperpraxis er allerdings weiterhin verachtet. Was dies für das Verständnis von Yogapraxis konkret bedeutet, wird deutlich, wenn Vivekananda Prāṇāyāma erklärt: Manchmal verlagert sich die Zufuhr von Prāṇāyāma im eigenen Körper mehr oder weniger auf einen Teil; das Gleichgewicht ist gestört, und wenn das Gleichgewicht von prāṇa gestört ist, entsteht das, was wir Krankheit nennen. Wenn man das überflüssige prāṇa entfernt oder das fehlende prāṇa zuführt, heilt man die Krankheit. Das wiederum ist Prāṇāyāma – zu lernen, wann in einem Teil des Körpers mehr oder weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte. Das Fühlen wird so subtil, dass der Geist selbst spürt, dass im Zeh oder im Finger weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte, und dass er die Kraft besitzt, es zu ergänzen. Vivekananda, 2006, S. 155f, zit. n. Elisabeth de Michelis, A History of Modern Yoga, London 2008, S. 164

Dazu bemerkt Elisabeth De Michelis: In dieser Passage wird eine vollständige Materialisierung des Prāṇa-Konzepts deutlich: Prāṇa wird als eine ganz und gar materielle, wahrnehmbare Substanz beschrieben, die auf physikalische Gesetze (wenn auch subtile) in kontrollierbarer Weise reagiert. Michelis 2008, S. 164

Im Zuge der Verbreitung des Yoga im Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Beherrschung und Lenkung dieses stets recht wolkig beschriebenen Fluidums zu einem zentralen Motiv für die Erklärung von Yogapraxis und deren Wirkungen – und ist es vielfach noch heute. Grundlage dafür legten die bei der Popularisierung des Prāṇāyāma in Europa einflussreichsten Publikationen wie André van Lisebeths – Die große Kraft des Atems oder B.K.S. Iyengars – Licht auf Prāṇāyāma. In letzterem heißt es beispielsweise: Beim Einatmen wird die Urenergie in der Form des Atems empfangen, und beim Luftanhalten geht es darum, diese Energie auszukosten. B.K.S. Iyengar, Licht auf Pranayama, München 1984, S. 35

Und weiter: Die Erzeugung und Verteilung von prāṇa im menschlichen Organismus mag man mit der elektrischen Energie vergleichen. (…) Prāṇa gleicht dem fallenden Wasser oder dem Druck des Dampfes. (…) Der Brustraum ist das magnetische Feld. Einatmung, Ausatmung und Luftanhalten sind wie die Turbinen, während die Chakras die Akkumulatoren und Transformatoren darstellen. Die von prāṇa erzeugte Energie (ojas) ist wie Elektrizität. B.K.S. Iyengar, 1984, S. 67

In Die große Kraft des Atems schreibt André van Lisebeth: Werden die yogischen Theorien mit den Beobachtungen und Entdeckungen der westlichen Wissenschaft verglichen, kann man sagen, dass das prāṇa der Atmosphäre, wenn nicht vollständig, so doch zum großen Teil von elektrisch geladenen Partikeln gebildet wird, die Ionen sein können. Andererseits gibt es in unserem Körper einen Stoffwechsel der Elektrizität, der aus der Atmosphäre geschöpft wird. 2

Die theosophisch-spiritistische Neudeutung von Yoga durch Vivekananda fand ihre Verbreitung schon früh auch in Deutschland, vorwiegend durch Karl-Otto Schmidt, dessen bereits 1929 erschienenes Buch Kraft durch Atem großen Einfluss auf das Verständnis, die Praxis und die Verbreitung von Prāṇāyāma – und Yoga insgesamt hatte. Karl – Otto Schmidt, „Kraft durch Atem“; 1. Auflage 1929, zuletzt 2010

Das Echo der Neudeutungen von prāṇa und Yoga im Zuge der Entstehung des Modernen Yoga Ende des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung im Westen Anfang des 20. Jahrhunderts ist in vielen Erklärungen von Yoga und seinen Wirkungen auch heute noch allgegenwärtig.

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1 Meera Nanda, Yoga Scientized: How Sami Vivekananda rewrote Ptatañjali’s Yoga Sūtra. In: Science in Saffron, Gurgaon, India 2016, S.166 Freier download u.a. unter: https://www.researchgate.net/publication/303857130_Science_in_Saffron_Skeptical_Essays_on_History_of_Science

2 André van Lysebeth, Die große Kraft des Atems, 1982, S. 15 – Zum Verhältnis esoterischer Weltdeutung und heutiger Wissenschaft die faktenreichen Essays der indischen Wissenschaftshistorikerin Meera Nanda, zum Beispiel: Yoga Scientized (2016). Die unreflektierte Vermischung traditioneller Welt- und Körperbilder mit empirischer Wissenschaft ist in Yoga-Publikationen allgegenwärtig. Ergebnis sind Konfusionen wie dieser: „Die Hatha-Yogis waren der Überzeugung, dass wir mit jedem Atemzug nicht nur Sauerstoff, sondern auch Lebensenergie aufnehmen“ Anna Trökes, Das große Yogabuch, München 2000, S. 166. Man fragt sich also, ob es die Yogis also nicht schon immer besser gewusst haben. Aber der Satz gibt keinen Sinn. Die Hatha-Yogis konnten einfach deshalb nicht überzeugt sein, dass wir beim Atmen nicht nur Sauerstoff aufnehmen, weil „Sauerstoff“ in ihrem Wissen von der Welt schlicht nicht existierte. Was sie kannten und was für sie große Bedeutung hatte (und in alten Texten immer wieder thematisiert wurde), war die offensichtliche Tatsache, dass ein Mensch, der aufhört zu atmen, nicht weiterleben kann, ihm also etwas Entscheidendes fehlt, das er zum Leben benötigt. Was das sein genau könnte, darüber wurde intensiv spekuliert. Die Antworten fielen je nach religiöser Überzeugung und jeweiligem Zeitgeist unterschiedlich aus und blieben es in den verschiedenen Traditionen auch.

Prāṇa heute?

Wird heute bei der Erklärung von prāṇa die Tradition bemüht, dann findet man dabei in der Tat nur mit Mühe einen ausgewiesenen Bezug auf den vor mehr als einem halben Jahrtausend real existierenden Haṭha Yoga, seine Praktiken und seine Weltanschauungen. Vielmehr begegnet uns in solchen Erklärungen ein erst in den vergangenen hundert Jahren entstandenes buntes Sammelsurium unterschiedlichster Versatzstücke – eingebettet in jene esoterischen Neudeutungen traditioneller Konzepte, die die Entstehung des modernen Yogas prägten.

Unser heutiges Wissen über die Lebensdynamik des Menschen lehrt uns dagegen mehr Bescheidenheit und demütiges Staunen. Es ist eine Dynamik, die sich weder durch den martialischen Zugriff auf ein wie auch immer geartetes Fluidum beherrschen lässt, noch durch Versuche, eine quasi-elektrische, feinstoffliche Energie zu lenken.

Allmachtsversprechen sind so alt wie der Yoga, aber sie taugen nicht mehr, den Nutzen und Wert von Yoga zu vermitteln. Lebenskraft ist kein Etwas, kein fassbarer und manipulierbarer Energiestrom, sondern ein Prozess. Ein sich in jedem Moment selbst organisierendes Geschehen – getragen von einer subtilen und verlässlichen Kommunikation, den vielfältigen Abhängigkeiten und überaus komplexen Strukturen des menschlichen Organismus.

Die Vorstellung eines alles steuernden Zentrums wird der immer besser verstandenen wunderbaren Anpassungsfähigkeit dieser Selbstorganisation in keiner Weise gerecht. Gleichzeitig ist die menschliche Lebensdynamik ungemein verletzlich und von ungewissem Verlauf. Dies macht den Wunsch nach deren Kontrolle verständlich – eine Sehnsucht, die aber auf falsche Fährten führt.

Wenn Prāṇāyāma und Yoga wirken, dann nicht, weil wir damit unsere Lebensprozesse oder unsere Lebenskraft beherrschen oder lenken können. Prāṇāyāma und Yoga entfalten ihre Wirkung vielmehr als Impulse hinein in die Dynamik der allgegenwärtigen menschlichen Selbstregulation.

Erst deren Antworten auf solche Impulse können die Gesundheit eines Menschen fördern, Ungleichgewichte ausgleichen und zu mehr innerer Ruhe, Klarheit und einer Stärkung der körperlichen Integrität beitragen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Erfreulicherweise wird Yoga hierzulande immer weniger im Gewand der hier angesprochenen esoterischen, mechanistischen oder religiösen Welt-, Menschen- und Körperbilder gelehrt. Vielerorts ist Yoga in einer Kultur angekommen, in der das Bemühen um einen kritischen Umgang mit Offenbarungswissen, intellektueller Redlichkeit und gesundem Menschenverstand eine lange Tradition hat. Wo Neugierde, Offenheit für neue Erkenntnisse und das Korrigieren von falsch erkannten Erklärungen als Tugenden gelten und wo Fragen wie Was ist damit eigentlich gemeint und woher wissen wir das? hochgeschätzt werden. Es ist dies eine gute Nachricht für das weitere Fortbestehen und die Weiterentwicklung eines nachhaltigen Zugangs zu den großen Schätzen des Yoga. ▼

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Neben den Anmerkungen unter den Abschnitten hier noch einige Literaturhinweise.

Karl Baier – Universität Wien: zahlreiche Aufsätze, die meisten frei verfügbar über www.academia.edu

  • Swami Vivekananda. Reform Hinduism, Nationalism and Scientistic Yoga, 2019
  • Mesmeric Yoga and The Development of Meditation within the Theosophical Society, 2012

Elisabeth de Michelis

  • A History of Modern Yoga, 2005

Meera Nanda

  • Yoga Scientized: How Swami Vivekananda rewrote Patanjalis Yoga Sutra, 2016
  • Madame Blavatsky’s Children, Modern Hindu Encounters with Darwinism, 2010

Magdalena Kraler

  • Tracing Vivekananda's Prāṇa and Ākāśa: The Yogavāiṣṭha and Rama Prasad's Occult Science of Breath
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Prāṇa im Yoga Sūtra des Patañjali: prāṇa ist Atmung

Das mag manche überraschen: In der ausführlichen Begründung von Yoga durch Patañjali spielt prāṇa keine wesentliche Rolle. Nur einmal ist ausdrücklich von prāṇa die Rede, und zwar dort, wo im ersten Kapitel in einer Reihe von Sūtren verschiedene Möglichkeiten aufgezählt werden, wie ein unsteter Geist beruhigt werden kann. In einem davon (Yoga Sūtra, 1. Kapitel – Sūtra 34) schlägt Patañjali eine Atemübung vor, bei der in besonderer Weise nicht nur eingeatmet, sondern vor allem auch ausgeatmet werden soll.

pracchardanavidhāranābhyām vā prāṇasya
Yoga Sūtra, 1. Kapitel - Sūtra 34

Oder durch intensives Ausstoßen zusammen mit besonderem Aufnehmen/Halten von prāṇa.

Die Bedeutung von prāṇa ist hier schlicht der Atem oder die Atmung als physischer Atemfluss P.T. Karambelkar, Patañjali Yoga Sūtras, Lonavla, Kaivalyadhama, o. J., S. 10 – so der Kommentar des kundigen Kenners und Übersetzers des Yoga Sūtra P.V. Karambelkar. Er folgt dabei wie viele andere Übersetzer auch dem ältesten zum Yoga Sūtra von Vyāsa verfassten Kommentar, der in keiner der überlieferten Fassungen des Sūtra-Textes fehlt.1 Was hier mit prāṇa gemeint ist, wird sehr genau erklärt. Es ist die aus dem Bauchraum durch die Öffnungen der Nase ausgestoßene Luft bei der Ausatmung und deren Kontrolle bzw. Verhaltung mit der Einatmung.2  

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1 Inzwischen spricht vieles dafür, dass der Kommentar von Vyāsa kein nachträglich angefügter Text war, sondern vom selben Autor wie, dem der Sūtren verfasst wurde – ein in der indischen Tradition kein ungewöhnliches Vorgehen. Heute spricht man deshalb oft über das Yoga Sūtra als Yogaśastra („Abhandlung über Yoga“) und meint damit die Sūtren mit deren Kommentar. Ausführlich begründet findet sich diese Auffassung bei: Philipp André Maas, Samādhipāda. Das erste Kapitel des Patañjaliyogaśastra, 2006. Und ders.: Patañjaliyogaśastra, in: Knut A. Jacobsen (Chief Ed.). Brill’s Encyclopedia of Hinduism.2023, freier Download unter: https://www.academia.edu/108697576/Pta%C3%B1jalayoga%20stra?email_work_card=view-paper

2 Karambelkar (s. o.) diskutiert aber auch andere Möglichkeiten der Interpretation: „oder“ (= vā) bezieht sich auf die vorherigen und nachfolgenden Sūtren, in denen es ebenso wie hier um Möglichkeiten zur Beruhigung des Geistes geht: „durch intensives Ausstoßen“ (= pracchardana) / „zusammen mit“ (= bhyām) „besonderem“ (= vi) / Aufnehmen/Halten (= dhāraṇa) von prāṇa (= prāṇasya).
Zur Bedeutung von „dhārana“ ergänzt der Kommentar: „dhārana ist Prāṇāyāma“. Weil dhārana sowohl „ergreifen“ als auch „halten“ bedeuten kann, ist für Karambelkar als Übersetzung sowohl möglich: „zusammen mit besonderem Einatmen von prāṇa“ als auch zusammen mit besonderem Halten von prāṇa. Letzteres entspricht der Betonung der Atemverhaltungen im damaligen Verständnis von „Prāṇāyāma“ am ehesten. Karambelka vermeidet in seiner Übersetzung aber die Betonung des Anhaltens des Atems und schlägt als eine dem heutigen Verständnis von Atempraxis sinnvollste und angemessenste Übersetzung des Sūtra vor: „Oder das tiefe und intensive Ausatmen von prāṇa und dessen kontrolliertes Einatmen“. Ähnlich die freie Übertragung von T.K.V. Desikachar. Er greift den Hinweis in Vyāsas Kommentar auf, dass es sich in diesem Sūtra nicht um einen einzigen Atemzug handelt, sondern tatsächlich, wie Vyāsa erläutert, um ein Prāṇāyāma, also eine Atem-Übung und überträgt: „Atemübungen, die eine Betonung und Verlängerung der Ausatmung einschließen, können dazu dienen, unseren Geist ruhiger werden zu lassen.“ Auch dies auf dem Hintergrund heutigen Wissens über die besondere Bedeutung der Ausatmung und der Unsinnigkeit der Betonung des Einatmens gerade für eine Übung zur Beruhigung eines unsteten Geistes.T.K.V. Desikachar, Über Freiheit und Meditation; Das Yoga Sūtra des Patañjali, S. 44.

Prāṇa im Prāṇāyāma des Yoga Sūtra

Diese Lesart von prāṇa als das beeinflussbare körperliche Atemgeschehen gilt im Yoga Sūtra auch für das Verständnis von Prāṇāyāma und damit auch für jenes prāṇa, das hier mit āyāma zu einem Begriff verbunden wird. Letzteres meint Kontrolle oder Ausdehnung.1

Wörtlich ließe sich Prāṇāyāma also als Prāṇa-Kontrolle verstehen. Was es zu kontrollieren gilt, beschreibt Patañjali in seiner Definition von Prāṇāyāma (Yoga Sūtra, 2. Kapitel – Sūtra 50):

  • die Einatmung
  • die Ausatmung
  • das Verhalten des Atems

Und der Vyāsa-Kommentar konkretisiert weiter: Einatmung ist das Trinken der äußeren Luft, die Ausatmung das Ausstoßen der Luft aus dem Unterleib. Ziel dieser Kontrolle ist, den Atem zu verlängern (dīrgha) und zu verfeinern (sūkṣma). Als Ergebnis dieser Praxis verspricht Patañjali die Verringerung innerer Unklarheiten und die Verbesserung der Fähigkeit des Geistes, sich ohne Ablenkung auszurichten. Von prāṇa ist dabei nicht mehr die Rede.

Im Yoga Sūtra meint prāṇa also den Atem als Bewegung der ein- und ausströmenden Atemluft.

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1 Der Sanskrit-Begriff āyāma bedeutet gleichermaßen ausdehnen, strecken wie kontrollieren, anhalten. Monier-Williams Sanskrit-English Dictionary 1899, Seite 148.2. Inhaltlich geht es hier um das Gleiche: die Kontrolle der Atembewegung im Sinne einer Ausdehnung, also Verlängerung der Atemphasen. Was das Yoga Sūtra angeht, kann man Prāṇāyāma also wörtlich und auch inhaltlich richtig als Atem-Ausdehnung oder Ausdehnung der Atembewegung übersetzen.

Prāṇa im Sāṃkhya

Auch im Sāṃkhya, dem Theoriegebäude, auf das sich das Yoga Sūtra bezieht, spielt prāṇa keine besondere Rolle. Es gehört nicht zu den 25 sogenannten tattvas, aus denen sich nach der Welterklärung des Sāṃkhya das Universum (zusammen mit den drei gunas: rajas, tamas und sattva) formt. Im ältesten erhaltenen Text des Sāṃkhya, der Sāṃkhyakārikā, Vers 29 wird prāṇa dort erwähnt, wo es um die Tätigkeit der menschlichen Organe geht. Sie besteht, so heißt es dort, in der Bewegung der fünf Winde (vāyu), also prāṇa und der Rest. Sāṃkhyakārikā, śloka 29, The Sāṃkhyakārikā of Īśvara Kṛṣã, Madras 1973 (1930) Damit ist ein damals weitverbreitetes und häufig genutztes Modell angesprochen, in dem prāṇa als einer (und der wichtigste) von fünf Lebenswinden verstanden wird.

Die fünf Lebenswinde – die vāyu

Hört der Mensch auf zu atmen, so verlässt ihn das Leben. Auf diesen offensichtlichen Zusammenhang wird schon in den ältesten Schriftzeugnissen Indiens immer wieder hingewiesen, um die zentrale Bedeutung des Atems für das Leben zu unterstreichen.

Wie organisiert sich aber das Leben im Menschen selbst? Als Antwort auf diese Frage entwickelte sich schließlich von den frühesten Anfängen bis in die Zeit der Upaniṣaden vor zweieinhalbtausend Jahren so etwas wie ein Standardmodell, auf das in vielen Texten – auch des Yoga – immer wieder Bezug genommen wird.

Was den Menschen am Leben erhält, so eine damals weitverbreitete Spekulation, ist die Bewegung der fünf Winde, der fünf vāyu.1 Für eine Erinnerung, was damit gemeint ist, genügte dann wie in der Sāṃkhyakārikā der kurze Hinweis:

Prāṇa und der Rest. Der Rest, das meint apāna, udāna, samāna und vyāna, oder eben apānavāyu, udānavāyu, samānavāyu und vyānavāyu.

  • Prāṇa steht dabei für den ersten Atem, der dem Menschen überhaupt erst das Leben schenkt. Prāṇa bezeichnet aber gleichzeitig auch den vorderen oder oberen Atem, der durch die Nasenlöcher im Gesicht bis zum Herz hinunterreicht.
  • Apāna, der nach unten bis zu den Fußsohlen gehende Atem, wird unter anderem mit dem Ausatmen, der Ausscheidung oder dem Geburtsvorgang in Verbindung gebracht.
  • Udāna führt vāyu nach oben bis in den Kopf und wird oft mit der Fähigkeit zu sprechen in Verbindung gebracht.
  • Samāna, der ausgleichende Atem, steht für die Fähigkeit des Körpers zum Stoffwechsel und bezieht sich vorwiegend auf die Verdauung und wird oft auch agni, (Magen-Feuer) genannt.
  • Und schließlich vyāna, der durchdringende Atem, der über den ganzen Körper verteilt ist und für jede Form von Zirkulation steht.

Die verschiedenen vāyu wurden ebenfalls unterschiedlichen Körperfunktionen und Körperorten zugeordnet, und zwar in einer hierarchischen Ordnung:

  • Prāṇa im Herzen regiert die anderen Winde.
  • Apāna hat seinen ersten Ort im unteren Bauchraum/Becken
  • Udāna im oberen Brustkorb/Kehle/Kopf
  • Samāna im Bauch
  • Vyāna im ganzen Körper.

Die Zuordnung der 5 Winde zu bestimmten Körperorten und besonderen Körperfunktionen war (und blieb) allerdings keineswegs einheitlich.2 Mal endete udāna am Scheitel, mal zwischen den Augenbrauen, mal galt es, wie in der Maitrī Upanishad, als der Wind zwischen vyāna und samāna, der das, was man trinkt oder isst, aufstößt oder verschluckt.

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1 Eine ausführliche Darlegung der historischen Entwicklung des Modells der Vāyu, auch deren Rolle in der Āyuveda in:Kenneth G. Zysk, The bodily winds in ancient India revisited; Journal of the Royal Anthropological Institute, 2007 sowie Kenneth G. Zysk, The Science of respiration and the doctrine of the bodily winds in ancient India; Journal of the American Oriental Society, Vol 113, No 2, 1993 sowie Graham Burns, Vedic and Ayurvedic Roots of the Ha†ha Yoga Theory of Prāṇa, Diss. am SOAS, London 2010 freier Download: https://www.academia.edu/3589772/Vedic_and_Ayurvedic_Roots_of_the_Hatha_Yoga_Theory_of_Prana*

2 Es ist grundsätzlich Vorsicht angebracht mit einer direkten Übertragung der damals üblichen Beschreibungen des Körpers auf unser heutiges Körperverständnis. So wurde etwa das Lungengewebe zwar als ein besonderer Teil des menschlichen und tierischen Körpers erkannt, aber nicht als Ort des Stoff- oder, wenn man so will, Energieaustauschs mit der Atemluft betrachtet. Vielmehr galt die Lunge als der Ort des Schleims (kapha), das Herz hingegen als erster Ort der inneren Atmung. s. K.G. Zyst 1993, S. 201

Die Ursprünge

Wie zur gleichen Zeit im Abendland, war auch im alten Indien das Denken von der Suche nach Ähnlichkeiten beherrscht: zwischen Körper und Kosmos, zwischen körperlichen Vorgängen und dem, was als Elemente und Phänomene in der natürlichen Welt angesehen wurde.

So glaubten die Verfasser der ältesten Veden vor dreitausend Jahren, dass sich im Atem des Menschen prāṇa der Wind der Natur vāyu manifestiere und in beiden eine alles Leben spendende Kraft manifestiere.

Als es noch kein Leben auf der Erde gab, heißt es in der Ṛg Veda, der ältesten Textsammlung der indischen Religion, die vor etwa dreitausend Jahren entstand, gab es auch noch keinen Wind und keinen Himmel darüber … weder Tod noch Unsterblichkeit. Erst der Wind gab der Erde und über den Atem dem Menschen das Leben.1

Die Spekulationen über die Aufteilung des Lebenswindes prāṇa in verschiedene vāyu und deren Zuordnung zu bestimmten Körperfunktionen waren jedoch lange noch nicht standardisiert. In der Atharvaveda (um 1000 v.u.Z.) beispielsweise sind die vāyu nicht zu einem festen System von fünf zusammengefasst worden, sondern es werden nur zwei (meist als Paar prāṇa und apāna) oder eine Konstellation von drei oder vier genannt. Dort ist auch von einer Gruppe von Asketen Vrātyas die Rede, die für ihre Techniken der Atemkontrolle bekannt waren. Dabei werden drei Atemzüge erwähnt, prāṇa, apāna und vyāna, die sich jeweils auf das Einatmen, Ausatmen und das Zurückhalten beziehen. K.G. Zysk 2007 (s. o.), S. 107, s. u. Hervorh. d. Verf.

Und in der Aitareya Brāhmaṇa, einem Text aus der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends, werden 3, 9 oder 10 Winde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Vāyu-Konzepten aufgezählt. Mallinson, M. Singleton, Roots of Yoga; 2017, S. 173 Im religiösen Kontext der viel späteren Upanishaden (ab ca. 600 v.u.Z.) wurde prāṇa nicht nur als universelle Kraft des Lebens angesehen. In prāṇa manifestierte sich nun auch die Vorstellung von Ātman als individueller Seele. Dieser Ātman wiederum galt als die Verkörperung von Brahman, dem höchsten Prinzip im Kosmos schlechthin. Dazu ausführlich G. Burns 2010, S. 16 ff.

Ging es dort aber darum, prāṇa als die dem Menschen innewohnende Lebenskraft näher zu erläutern, so diente dazu, wie in der Taittirīya Upanishad, häufig das Modell der fünf vāyu. Und dies immer mit dem oben beschriebenen funktionalen Verständnis von prāṇa, apāna, udāna, samāna und vyāna als bestimmte Körperfunktionen und damit verbundene Körperbereiche.

Kurz gesagt: Prāṇa und die fünf vāyu dienten nun als eine Art Standardmodell für die Beschreibung des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Es erklärte die wichtigsten Körperfunktionen in direktem Zusammenhang mit Atem und bezogen auf Offensichtliches: Atembewegung, Zirkulation, Ausscheidung, Stoffwechsel.

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1 In einer Hymne des Ṛg Veda wird (neben Sonne, Mond, Himmel und Erde) der Wind (vāyu) als wichtige vedische Gottheit aus dem Aushauchen des zerstückelten ersten Menschen erschaffen. Die Bedeutung des Atems als primäre Lebenskraft – zweifellos durch einfache empirische Beobachtung der Funktion der Atmung – spiegelt sich in mehreren Sterbehymnen des Ṛg Veda wider, die das Verschwinden von prāṇa als eines der Indizien des Todes anführen. G. Burns 2010, S. 9

Haṭha Yoga

Wenn es in der Verbindung mit Prāṇāyāma vorkommt, dann hat das Wort prāṇa bei den Autoren des Haṭha Yoga nur eine Bedeutung, nämlich Atem, stellt Kuvalayananda in seinem 1931 erschienenen Buch Prāṇāyāma fest.1

Im Haṭha Yoga steht prāṇa zwar auch für den ersten und oberen Atem, wie im Modell der fünf Vāyu.2 Wenn sie aber nicht von Prāṇāyāma selbst sprechen, so Kuvalyananda, dann meinen die Texte des Haṭha Yoga damit eine Kraft, die durch den Prozess des Prāṇāyāma erst erweckt wird.

Wesentlich für dieses Verständnis des Haṭha Yoga von prāṇa ist, dass es als etwas angesehen wurde, das durch die Praxis von Āsana, Prāṇāyāma und Mudrā unmittelbar erreicht werden kann, also bei entsprechend intensiver Anstrengung und Willenskraft einem direkten Zugriff zugänglich ist. Von prāṇa ist immer dann die Rede, wenn es um dessen Beherrschung geht. Die dahinter stehenden Vorstellungen sind auf den großen Einfluss asketischer Konzepte und tantrischer Religionen, auf den Haṭha Yoga zurückzuführen.3
Prāṇa wird weniger als eine Leben und Freude schenkende Kraft gefeiert, sondern ist Ziel der Bemühung um seine möglichst vollkommene Unterwerfung unter den Willen des praktizierenden Yogis. Das gilt auch für das Zusammenspiel der fünf Vāyu. Auch hier ist das Ziel nicht die Förderung ihres harmonischen Funktionierens, sondern ihre möglichst vollkommene Beherrschung. Diese Sichtweise von prāṇa ist mit einem besonderen Verständnis der menschlichen Lebensdynamik verbunden. Dem Körper wird offensichtlich die Fähigkeit abgesprochen, aus eigener Kraft ein inneres Gleichgewicht zu erreichen. Er wird eher als ein mit Schlacken beladener Ort betrachtet, der ständiger Reinigung bedarf; seine ihm eigene innere Organisation und Dynamik sind grundsätzlich mangelhaft.4 Natürliche Körperprozesse sollen dem eigenen Willen unterworfen und zum Beispiel das eigentlich nach unten gerichtete apāna (wie auch der männliche Samen) durch entsprechende Praxis auf den Weg nach oben gezwungen werden.

Dieses Streben nach vollständiger Kontrolle bezieht sich auch auf den Atem selbst. Gleich zu Beginn des Kapitels über Prāṇāyāma heißt es in der berühmten Haṭha Pradīpikā: Solange der Atem fließt, bleibt der Geist unruhig, hört der Atem auf, wird der Geist ruhig und der Yogi erlangt völlige Regungslosigkeit. Deshalb sollte man seinen Atem anhalten. (Haṭha Yoga Pradīpikā Kapitel 2, Vers 2)

Letztlich geht es darum, durch den willentlichen Zugriff auf den Atem nicht nur prāṇa und die Bewegungen aller anderen vāyu zu beherrschen, sondern auch das Leben selbst. So galt als ein Zeichen großen Fortschritts in der yogischen Praxis die Fähigkeit, zumindest den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, wenn nicht gar Unsterblichkeit zu erlangen.4
Dabei erklärte der Haṭha Yoga die Wirkung von Yogapraxis in einer sehr mechanistischen Weise. Zum Beispiel sah man im Erzeugen von Hitze (analog zum Opferfeuer) das wirksamste Mittel, Schlacken und Unreinheiten im Körper zu beseitigen. Entsprechend gilt im Haṭha Yoga als wichtigste Reinigungstechnik das Erzeugen von innerer Hitze durch Betonung der Einatmung und möglichst langen Atemverhaltungen, um so im Körper Schlacken zu verbrennen. Da das innere Feuer im Magenbereich verortet und die Schlacken im Becken angesiedelt sind, zielen viele Reinigungstechniken darauf ab, die Distanz zwischen diesen Bereichen zu verringern. Durch Praktiken wie bandha oder Umkehrhaltungen soll das Feuer die Schlacken effizienter verbrennen. Trotz dieser Allmachtsfantasien verdanken wir dem Haṭha Yoga einen großen Schatz an Āsana- und Atemübungen, aus denen sich schließlich unsere heutige Yogapraxis entwickelte.

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1 Kuvalayananda, Prāṇāyāma; Lonavla, zuerst 1931, S. 48/49 und in seinen Erläuterungen zu den verschiedenen Atemübungen in der Haṭha Yoga Pradīpikā. Kuvalayananda (1883 – 1966) argumentiert hier schon in den 1930er Jahren explizit gegen moderne Vorstellungen wie die von Vivekananda (s. u.), der vierzig Jahre vorher prāṇa als universelle Kraft ganz neu deutete.

2 J. Mallinson, M. Singleton, Roots of Yoga; 2017, S. 133. Viele Texte der tantrischen und haṭhayogischen Traditionen lehren, dass der Yogi prāṇa (der obere Atem) und apāna (der untere Atem) verbinden sollte. Dabei geht es immer um etwas dem Menschen innewohnendes, wie es auch in der Gorakṣaśataka, einem Text des Haṭha Yoga aus dem 13. Jahrhundert, heißt: Prāṇa ist der Wind (vāyu), der im Körper entsteht.

3 Dazu zählt die bekannte Vorstellung eines den ganzen Körper überziehenden Netzes von Kanälen (nāḍī), die Existenz ganz besonderer Kanäle entlang der Wirbelsäule, verbunden mit besonderen Körperorten, die sich als Chakren visualisieren lassen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich viele Elemente der bisweilen sogenannten yogischen Physiologe nicht als Ergebnis der empirischen Beobachtung des Yogis, sondern als Teile einer im Körper visualisierten Abbildung der für die jeweilige Tradition spezifischen Weltbilder (metaphysisch) und deren Ritualstrukturen.
Verschiedene Traditionen präsentieren verschiedene Konzepte des yogischen Körpers, von denen einige sich ergänzen und miteinander vereinbar sind und andere nicht. Dies liegt daran, dass yogische Körperbilder den besonderen rituellen, philosophischen oder lehrmäßigen Erfordernissen der jeweils greifbaren Tradition erwachsen. Und daran, dass sie Ausdruck dieser Erfordernisse sind und nicht Beschreibungen einer sich aus sich selbst heraus verständlichen Körpererfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist. Mit anderen Worten: Die Ziele eines bestimmten Systems bestimmen die Art und Weise, wie der Körper in den Yogapraktiken vorgestellt und verwendet wird. Der yogische Körper war – und ist in den Kreisen der traditionell Praktizierenden immer noch – einer, der von der Tradition selbst konstruiert oder auf und in den Körper des Praktizierenden geschrieben wird. Zitiert aus Mallinson, Roots of Yoga; S. 172 und 175.

4 Das war wörtlich gemeint. Auch wenn die Körperkonzepte des Haṭha Yoga nie ein in sich stimmiges Ganzes waren (wie es manche Publikationen glauben machen wollen), hatten sie eines gemeinsam: Das Ziel einer Verwandlung des menschlichen Körpers durch Āsana und bestimmte Reinigungspraktiken in ein Gefäß, das gegen den sterblichen Verfall immun ist. G. Bruns 2010, S. 36 im Verweis auf die Forschungsergebnisse von G. D. Flood, Body and Cosmology in Kashmir Saivism 1993 und ders. The Tantric Body, London 2006.

Moderner Yoga

Eine bemerkenswerte Neudeutung von prāṇa entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Yoga. Es ist diese Neudeutung von prāṇa, die bei der Verbreitung des Yoga im Westen die Erklärungen zur Praxis und Wirkung des Yoga bestimmte und in vielen Yogapublikationen bis heute bestimmt. Es gab in der Entwicklung des Modernen Yoga auch prominente andere Stimmen, wie etwa Kuvalayananda, der ausdrücklich gegen Vivekanandas Neudeutung argumentierte oder T. Krishnamacharya, der davon gänzlich unbeeinflußt blieb.

Wichtigster Protagonist dieser Neudeutung war Swami Vivekananda (1863–1902): „Prāṇāyāma ist nicht, wie viele denken, etwas über den Atem; der Atem hat in der Tat, wenn überhaupt, nur sehr wenig damit zu tun. Prāṇa ist der Name für die Energie, die sich im Universum befindet. Was immer Sie im Universum sehen, was immer sich bewegt oder wirkt oder Leben hat, ist eine Manifestation dieses prāṇa. Die Gesamtsumme der im Universum repräsentierten Energie wird prāṇa genannt.“ Swami Vivekananda, Complete Works Bd. 1, Calcutta 2006, S. 147

Diese neue Sicht auf Prāṇāyāma (und letztlich auf die Rolle des Yoga insgesamt) entstand unter dem starken Einfluss euroamerikanischer okkulter, magiegläubiger und spiritistischer Bewegungen. Dabei erhob Vivekananda prāṇa zu einer zentralen Kategorie in der Erklärung der Praxis und Wirkung von Yoga:

Aus prāṇa hat sich alles entwickelt, was wir Energie nennen, alles, was wir Kraft nennen. Es ist prāṇa, das sich als Gravitation, als Magnetismus manifestiert. Es ist das prāṇa, das sich als die Aktion des Körpers, als Nervenstrom, als Gedankenkraft manifestiert.... prāṇa ist die verallgemeinerte Manifestation von Kraft. Vivekananda, 2006, S. 147

In der ständigen Wiederholung von Begriffen wie Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus oder Nervenstrom drückt Vivekananda das große Bedürfnis der spiritistischen und okkultistischen Bewegungen (nicht nur) seiner Zeit aus, ihre Theorien als wissenschaftlich fundierte Gesetzmäßigkeiten darzustellen. Dabei ging es ihm nicht allein um eine Anerkennung seiner Lehren im Westen. Auch unter den hinduistischen Reformern des 19. Jahrhunderts war es eine vorherrschende Tendenz, die vedantische Religion der empirischen Philosophie der mechanistischen Wissenschaften anzupassen.1

Und genauso wie sich heute vieles mit dem Namen Yoga schmückt, spannte Vivekananda mit seinem Yogaverständnis einen weiten Schirm auf: Wo immer eine Sekte von Menschengruppen versucht, etwas Okkultes und Mystisches oder Verborgenes aufzuspüren, ist das, was sie tun, in Wirklichkeit Yoga. Vivekananda, 2006, S. 159 Weil sich Yoga seiner Ansicht nach auf einer Ebene mit den Naturgesetzen verortet, sind laut Vivekananda seiner Wirkung keine natürlichen Grenzen gesetzt: Der Mensch, der gelernt hat, die inneren Kräfte zu manipulieren, wird die gesamte Natur unter seine Kontrolle bringen. Der Yogi sucht nichts weniger, als das ganze Universum zu beherrschen, die ganze Natur zu kontrollieren (…) er wird der Herr der ganzen Natur sein, innerlich und äußerlich. Vivekananda, 2006, S. 133

Hier ist Vivekananda wieder ganz bei den Allmachtsfantasien und dem Wunderglauben der alten Yogis des Haṭha Yoga, deren Körperpraxis er allerdings weiterhin verachtet. Was dies für das Verständnis von Yogapraxis konkret bedeutet, wird deutlich, wenn Vivekananda Prāṇāyāma erklärt: Manchmal verlagert sich die Zufuhr von Prāṇāyāma im eigenen Körper mehr oder weniger auf einen Teil; das Gleichgewicht ist gestört, und wenn das Gleichgewicht von prāṇa gestört ist, entsteht das, was wir Krankheit nennen. Wenn man das überflüssige prāṇa entfernt oder das fehlende prāṇa zuführt, heilt man die Krankheit. Das wiederum ist Prāṇāyāma – zu lernen, wann in einem Teil des Körpers mehr oder weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte. Das Fühlen wird so subtil, dass der Geist selbst spürt, dass im Zeh oder im Finger weniger prāṇa vorhanden ist, als es sein sollte, und dass er die Kraft besitzt, es zu ergänzen. Vivekananda, 2006, S. 155f, zit. n. Elisabeth de Michelis, A History of Modern Yoga, London 2008, S. 164

Dazu bemerkt Elisabeth De Michelis: In dieser Passage wird eine vollständige Materialisierung des Prāṇa-Konzepts deutlich: Prāṇa wird als eine ganz und gar materielle, wahrnehmbare Substanz beschrieben, die auf physikalische Gesetze (wenn auch subtile) in kontrollierbarer Weise reagiert. Michelis 2008, S. 164

Im Zuge der Verbreitung des Yoga im Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Beherrschung und Lenkung dieses stets recht wolkig beschriebenen Fluidums zu einem zentralen Motiv für die Erklärung von Yogapraxis und deren Wirkungen – und ist es vielfach noch heute. Grundlage dafür legten die bei der Popularisierung des Prāṇāyāma in Europa einflussreichsten Publikationen wie André van Lisebeths – Die große Kraft des Atems oder B.K.S. Iyengars – Licht auf Prāṇāyāma. In letzterem heißt es beispielsweise: Beim Einatmen wird die Urenergie in der Form des Atems empfangen, und beim Luftanhalten geht es darum, diese Energie auszukosten. B.K.S. Iyengar, Licht auf Pranayama, München 1984, S. 35

Und weiter: Die Erzeugung und Verteilung von prāṇa im menschlichen Organismus mag man mit der elektrischen Energie vergleichen. (…) Prāṇa gleicht dem fallenden Wasser oder dem Druck des Dampfes. (…) Der Brustraum ist das magnetische Feld. Einatmung, Ausatmung und Luftanhalten sind wie die Turbinen, während die Chakras die Akkumulatoren und Transformatoren darstellen. Die von prāṇa erzeugte Energie (ojas) ist wie Elektrizität. B.K.S. Iyengar, 1984, S. 67

In Die große Kraft des Atems schreibt André van Lisebeth: Werden die yogischen Theorien mit den Beobachtungen und Entdeckungen der westlichen Wissenschaft verglichen, kann man sagen, dass das prāṇa der Atmosphäre, wenn nicht vollständig, so doch zum großen Teil von elektrisch geladenen Partikeln gebildet wird, die Ionen sein können. Andererseits gibt es in unserem Körper einen Stoffwechsel der Elektrizität, der aus der Atmosphäre geschöpft wird. 2

Die theosophisch-spiritistische Neudeutung von Yoga durch Vivekananda fand ihre Verbreitung schon früh auch in Deutschland, vorwiegend durch Karl-Otto Schmidt, dessen bereits 1929 erschienenes Buch Kraft durch Atem großen Einfluss auf das Verständnis, die Praxis und die Verbreitung von Prāṇāyāma – und Yoga insgesamt hatte. Karl – Otto Schmidt, „Kraft durch Atem“; 1. Auflage 1929, zuletzt 2010

Das Echo der Neudeutungen von prāṇa und Yoga im Zuge der Entstehung des Modernen Yoga Ende des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung im Westen Anfang des 20. Jahrhunderts ist in vielen Erklärungen von Yoga und seinen Wirkungen auch heute noch allgegenwärtig.

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1 Meera Nanda, Yoga Scientized: How Sami Vivekananda rewrote Ptatañjali’s Yoga Sūtra. In: Science in Saffron, Gurgaon, India 2016, S.166 Freier download u.a. unter: https://www.researchgate.net/publication/303857130_Science_in_Saffron_Skeptical_Essays_on_History_of_Science

2 André van Lysebeth, Die große Kraft des Atems, 1982, S. 15 – Zum Verhältnis esoterischer Weltdeutung und heutiger Wissenschaft die faktenreichen Essays der indischen Wissenschaftshistorikerin Meera Nanda, zum Beispiel: Yoga Scientized (2016). Die unreflektierte Vermischung traditioneller Welt- und Körperbilder mit empirischer Wissenschaft ist in Yoga-Publikationen allgegenwärtig. Ergebnis sind Konfusionen wie dieser: „Die Hatha-Yogis waren der Überzeugung, dass wir mit jedem Atemzug nicht nur Sauerstoff, sondern auch Lebensenergie aufnehmen“ Anna Trökes, Das große Yogabuch, München 2000, S. 166. Man fragt sich also, ob es die Yogis also nicht schon immer besser gewusst haben. Aber der Satz gibt keinen Sinn. Die Hatha-Yogis konnten einfach deshalb nicht überzeugt sein, dass wir beim Atmen nicht nur Sauerstoff aufnehmen, weil „Sauerstoff“ in ihrem Wissen von der Welt schlicht nicht existierte. Was sie kannten und was für sie große Bedeutung hatte (und in alten Texten immer wieder thematisiert wurde), war die offensichtliche Tatsache, dass ein Mensch, der aufhört zu atmen, nicht weiterleben kann, ihm also etwas Entscheidendes fehlt, das er zum Leben benötigt. Was das sein genau könnte, darüber wurde intensiv spekuliert. Die Antworten fielen je nach religiöser Überzeugung und jeweiligem Zeitgeist unterschiedlich aus und blieben es in den verschiedenen Traditionen auch.

Prāṇa heute?

Wird heute bei der Erklärung von prāṇa die Tradition bemüht, dann findet man dabei in der Tat nur mit Mühe einen ausgewiesenen Bezug auf den vor mehr als einem halben Jahrtausend real existierenden Haṭha Yoga, seine Praktiken und seine Weltanschauungen. Vielmehr begegnet uns in solchen Erklärungen ein erst in den vergangenen hundert Jahren entstandenes buntes Sammelsurium unterschiedlichster Versatzstücke – eingebettet in jene esoterischen Neudeutungen traditioneller Konzepte, die die Entstehung des modernen Yogas prägten.

Unser heutiges Wissen über die Lebensdynamik des Menschen lehrt uns dagegen mehr Bescheidenheit und demütiges Staunen. Es ist eine Dynamik, die sich weder durch den martialischen Zugriff auf ein wie auch immer geartetes Fluidum beherrschen lässt, noch durch Versuche, eine quasi-elektrische, feinstoffliche Energie zu lenken.

Allmachtsversprechen sind so alt wie der Yoga, aber sie taugen nicht mehr, den Nutzen und Wert von Yoga zu vermitteln. Lebenskraft ist kein Etwas, kein fassbarer und manipulierbarer Energiestrom, sondern ein Prozess. Ein sich in jedem Moment selbst organisierendes Geschehen – getragen von einer subtilen und verlässlichen Kommunikation, den vielfältigen Abhängigkeiten und überaus komplexen Strukturen des menschlichen Organismus.

Die Vorstellung eines alles steuernden Zentrums wird der immer besser verstandenen wunderbaren Anpassungsfähigkeit dieser Selbstorganisation in keiner Weise gerecht. Gleichzeitig ist die menschliche Lebensdynamik ungemein verletzlich und von ungewissem Verlauf. Dies macht den Wunsch nach deren Kontrolle verständlich – eine Sehnsucht, die aber auf falsche Fährten führt.

Wenn Prāṇāyāma und Yoga wirken, dann nicht, weil wir damit unsere Lebensprozesse oder unsere Lebenskraft beherrschen oder lenken können. Prāṇāyāma und Yoga entfalten ihre Wirkung vielmehr als Impulse hinein in die Dynamik der allgegenwärtigen menschlichen Selbstregulation.

Erst deren Antworten auf solche Impulse können die Gesundheit eines Menschen fördern, Ungleichgewichte ausgleichen und zu mehr innerer Ruhe, Klarheit und einer Stärkung der körperlichen Integrität beitragen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Erfreulicherweise wird Yoga hierzulande immer weniger im Gewand der hier angesprochenen esoterischen, mechanistischen oder religiösen Welt-, Menschen- und Körperbilder gelehrt. Vielerorts ist Yoga in einer Kultur angekommen, in der das Bemühen um einen kritischen Umgang mit Offenbarungswissen, intellektueller Redlichkeit und gesundem Menschenverstand eine lange Tradition hat. Wo Neugierde, Offenheit für neue Erkenntnisse und das Korrigieren von falsch erkannten Erklärungen als Tugenden gelten und wo Fragen wie Was ist damit eigentlich gemeint und woher wissen wir das? hochgeschätzt werden. Es ist dies eine gute Nachricht für das weitere Fortbestehen und die Weiterentwicklung eines nachhaltigen Zugangs zu den großen Schätzen des Yoga. ▼

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Neben den Anmerkungen unter den Abschnitten hier noch einige Literaturhinweise.

Karl Baier – Universität Wien: zahlreiche Aufsätze, die meisten frei verfügbar über www.academia.edu

  • Swami Vivekananda. Reform Hinduism, Nationalism and Scientistic Yoga, 2019
  • Mesmeric Yoga and The Development of Meditation within the Theosophical Society, 2012

Elisabeth de Michelis

  • A History of Modern Yoga, 2005

Meera Nanda

  • Yoga Scientized: How Swami Vivekananda rewrote Patanjalis Yoga Sutra, 2016
  • Madame Blavatsky’s Children, Modern Hindu Encounters with Darwinism, 2010

Magdalena Kraler

  • Tracing Vivekananda's Prāṇa and Ākāśa: The Yogavāiṣṭha and Rama Prasad's Occult Science of Breath
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