Dynamik und Statik in der Āsanapraxis

Die meisten Āsana können sowohl dynamisch als auch statisch geübt werden. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten von Āsanapraxis? Welche Bedeutung hat das dynamische, welche das statische Üben?

Viveka hat T.K.V. Desikachar nach der Tradition und Bedeutung von dynamischem und statischem Üben im Yoga befragt.

Dynamik und Statik in der Āsanapraxis

Die meisten Āsana können sowohl dynamisch als auch statisch geübt werden. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten von Āsanapraxis? Welche Bedeutung hat das dynamische, welche das statische Üben?

Viveka hat T.K.V. Desikachar nach der Tradition und Bedeutung von dynamischem und statischem Üben im Yoga befragt.

Dynamik und Statik in der Āsanapraxis

Die meisten Āsana können sowohl dynamisch als auch statisch geübt werden. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten von Āsanapraxis? Welche Bedeutung hat das dynamische, welche das statische Üben?

Viveka hat T.K.V. Desikachar nach der Tradition und Bedeutung von dynamischem und statischem Üben im Yoga befragt.

Das Gespräch

Viveka

Wie kann statisches und dynamisches Üben von Āsana im Zusammenhang mit dem traditionellen Verständnis von Āsanapraxis eingeordnet werden?

T.K.V. Desikachar

Wenn wir uns die Definition von Āsana im wichtigsten Text über Yoga, dem Yoga Sūtra Patañjalis, an­schauen, so finden wir dort folgende Beschreibung – sthirasukham āsanam. Das Wort sthiram kann man in diesem Zusammen­hang als bleiben, verweilen verstehen, der Begriff sukham beschreibt ein Ge­fühl von Leichtigkeit, Wohlbefin­den. So also lautet die Definition von Āsana bei Patañjali.

Das bedeutet, hier wird ein besonderer Zu­stand beschrieben. Von diesem Ge­sichtspunkt aus gesehen hat das Yoga Sūtra Āsana also definiert als eine Haltung, in der wir für eine gewisse Zeit verweilen können und dies selbstverständlich leicht, also ohne Stress oder Schmerz.

Was der Begriff allerdings nicht definiert, ist den Weg, die Methode, wie man in diesen Zustand gelangt. Deshalb müssen wir noch einige Worte mehr darüber verlieren, was Āsana im Kontext des Yoga Sūtra eigentlich beinhaltet.

Wenn wir über Āsana sprechen, so reden wir über besondere Hal­tungen, an die wir aus unserer Alltagserfahrung heraus nicht gewöhnt sind.

Allein schon die Tat­sache, dass Āsana bei Patañjali eine besondere Definition erfährt, legt uns dieses Verständnis nahe. Wa­rum sollte Patañjali in einem so grundlegenden Yogatext eine Haltung definieren, die uns ohnehin vertraut ist, die wir von unseren alltäglichen Bewegungsabläufen her einzunehmen gewohnt sind? Angenommen, ich sitze normalerweise auf einem Stuhl wie jetzt gerade in unserem Gespräch, die Bei­ne übereinandergeschlagen, den linken Arm auf die Tischkante gestützt, in der rechten Hand einen Bleistift haltend – das ist kein Āsana.

Āsana ist immer etwas anders, verschieden von dem, was wir ge­wöhn­­­licherweise tun.

Indische Frauen arbeiten zum Beispiel über Stunden hinweg in einer hockenden Position, die wir unter den Āsana als utkatāsana beschrieben finden. Den­noch könnten wir nicht sagen, indische Frauen üben jeden Tag ausführlich utkatāsana; diese Hal­tung ist kein Āsana für sie. Manche von uns können stundenlang auf einem Stuhl sitzen, zu Hause oder im Büro, sie können das vielleicht sogar sehr still und unbewegt tun, ohne sich groß anzustrengen. Aber dennoch ist dies nicht Āsana.

Āsana sind also zunächst einmal Positionen, die unser Körper nicht gewohnt ist. Wir können Āsana darüber hinaus beschreiben als ein spezifisches Arrangement verschiedener Teile unseres Körpers zueinander; der Sanskritbegriff dafür lautet śarīra aṇga vinyāsa.

Aber Patañjali geht im Sūtra, das der oben beschriebenen Definition folgt, noch einen Schritt weiter. Er fragt danach, wie eine solche Hal­tung, zu bewerkstelligen ist, wie wir diesen besonderen Zustand von Verweilen in Leichtigkeit erreichen können?

Zunächst bedarf es unserer Vorstellungskraft – bhāvana: Wir müssen uns das Āsana, das wir üben wollen, visualisieren und auch, wie wir darin stabil und leicht sein können. Danach bleibt es uns nicht erspart, auch wirklich in diese Rich­tung hin zu handeln – prayatna, und zwar in der Art und Weise, dass allmählich die Anstrengungen, die uns dahin bringen, geringer und weniger schmerzlich werden. Um das Wie zu beschreiben, hat Pa­tañ­jali das Wort śaithilya benutzt. Es bezeichnet das Entstehen von mehr und mehr Freiheit und Leich­tigkeit in diesem Prozess. Das Wort hingegen, welches die Anstrengung selbst beschreibt, ist prayatna. Es vermittelt uns darüber hinaus auch den Gedanken, dass diese Anstren­gung – yatna – passend, richtig, adäquat – pra – sein sollte, denn Anstren­gung kann auch in die falsche Richtung gehen.

Wenn ich also Āsana üben möchte, Haltungen einnehmen möchte, die sich unterscheiden von dem, was ich gewöhnlich tue, so muss ich zunächst diese Haltungen visualisieren und dann Schritte unternehmen, die mich in diese Richtung voranbringen. Es müssen Schritte sein, die mir helfen, dorthin zu gelangen, die Position einzunehmen, und darin zu verweilen. Hier sind wir am ersten Punkt angelangt, der die Wich­tig­keit des dynamischen Übens deut­lich macht.

Dynamische Bewe­gungen sind das entscheidende Mittel, nach und nach die Mög­lichkeit zu verbessern, in einer gewünschten Haltung in einer Qualität verweilen zu können, die Patañjalis Anspruch genügen kann.

Stellen wir uns das einmal konkret vor. Angenommen, ich möchte uttānāsana, eine Vorbeuge aus dem Stand heraus, üben, bin aber eher steif. Ich stelle also meine Füße nebeneinander und versuche, mich nach vorn zu beugen. Vereinzelt beginnt es jetzt zu ziehen, vielleicht sogar zu schmerzen, weil mein Kör­per nicht so will, wie ich will. Zudem wird mir die Luft knapp, ich verspanne mich im Atem.

Es wird viel über die Frage des Schmerzes in der Āsanapraxis diskutiert. Ich bin überzeugt, dass Schmerz vermieden werden muss. Schmerz ist immer ein Hinweis darauf, dass der Körper nicht gut mit den Forderungen zurechtkommt, die man ihm stellt. Dass der Schmerz ein Botschafter ist, der uns sagt: Halte inne, deine Achtsam­keit war ungenügend, in diese Richtung kannst du so nicht weitergehen!

Eine Alternative dazu besteht nun darin, in dynamischem Wieder­holen meinen Körper immer ein wenig mehr dahinzubewegen, wohin ich gehen möchte. Jedes Mal, wenn ich mich in die Richtung von uttānāsana bewege, akzeptiert mein Kör­per diese Veränderung etwas besser. Ich erzwinge nichts, komme zurück und fahre so fort, bis ich endlich in der Haltung bleiben kann (Abb. 1). Daher haben sich die dynamischen Bewegungsabläufe als gute Vorbereitungen für das Verweilen in den jeweiligen Positio­nen erwiesen.

Dynamischen Bewegungsabläufe als gute Vorbereitungen für das statische Üben von uttānāsana.
Abb. 1

Wie lange das Ver­wei­len dann sinnvoll ist, ist eine weitere Frage. Sie bemisst sich zum Beispiel:

  • an der Reaktion, die mein Körper in dem Āsana zeigt
  • an der Anzahl der Atemzüge, die mir in dieser Position leicht fallen
  • an den Zielen, die ich mit meiner Praxis verfolge

Das dynamische Üben hat eine lange Tradition. Als mein Vater T. Krishnamacharya in den Dreißigerjahren Kinder und Jugend­liche unterrichtete, lehrte er sie die Āsana so, dass eines auf das andere folgte, mit dem vorigen und dem folgenden verbunden war, also in Āsanasequenzen, sogenannten Vinyāsa (Abb. 2). Wurde etwa ein Vinyāsa für paścimatānāsana geübt, so kam darin unweigerlich uttānāsana vor, dann vielleicht uttānāsana und eine weitere Haltung, etwa der Hund, der nach unten schaut, adhomukha śvānāsana, dann noch eine zusätzliche Haltung und so fort bis man bei paścimatānāsana ankam.

Ein Vinyāsa für Paścimatānāsana.
Abb. 2

Der erste Schritt dieses ganzen Pro­zesses bestand darin, dass man uttānāsana mehrere Male dynamisch übte und dann darin verweilte, danach den Hund mehrere Male dynamisch praktizierte, um ihn danach statisch einzunehmen und so fort (Abb. 3 - 5).

Ein Vinyāsa für uttānāsana.
Abb. 3
Ein Vinyāsa für ūrdhva mukhaśvānāsana.
Abb. 4
Ein Vinyāsa für ūrdhva mukhaśvānāsana und daṇḍāsana..
Abb. 5

Im endgültigen Vinyāsa war schließ­lich jedes dieser Āsana Teil eines dynamischen Ablaufes, mit Ausnahme des wichtigsten, zu dem die jeweilige Sequenz hinführte, dem Haupt­­āsana, das statisch geübt wurde.

Hinter dem dynamischen Üben steckt also das alte Wissen um Hil­fen, die man jemandem geben kann, damit er oder sie in einer Position verweilen kann, ohne darin Anstrengungen in die falsche Richtung zu unternehmen, ohne sich zu verspannen oder gar zu quälen.

Es ist die Idee von prayatna­śhaithilya, dem Verringern von Anspannung, die uns das dynamische Üben nahelegt, denn beim Verweilen im  Āsana geht es immer darum, etwas Positives zu erfahren, nicht Frustration oder Schmerz. Daher wurde das dynamische Üben ein Muss.

Sthirasukham āsanam und dynamisches Üben

Viveka

Kann die Qualität von sthirasukham, von Stabilität und Leichtigkeit auch auf das dynamische Üben bezogen werden?

T.K.V. Desikachar

Lassen Sie uns die Worte sthirasukham von verschiedenen Verständnisebenen her beleuchten.

Die eine bezieht sich auf den Körper und beinhaltet Stabilität einerseits sowie Leichtigkeit und Durchlässigkeit andererseits. Sthiram und sukham betreffen aber darüber hinaus das gesamte Befinden der Person, die übt. Aus dieser Sicht sollten wir in einer Hal­tung sowohl Wachheit als auch Wohlbefinden realisieren. Als Maß­stab dafür können wir getrost die Qualität des Atems im Āsana heranziehen.

Jeder, jede Übende sollte in der Lage sein, in jedem Āsana, das praktiziert wird, in einer guten Qua­lität aus- und einzuatmen.

Es ist nicht genug, in einem Āsana verweilen zu können, wenn dies nur mit flachem oder gar unruhigem Atem möglich ist. Auch der Aus­druck im Gesicht des Übenden zeigt etwas: Ich las gerade zufällig in dem berühmten Kom­mentar von Shankara zum Yoga Sūtra, was er zum Thema sthira­sukham āsanam zu sagen hat. Es heißt dort – Beim Ver­weilen im Āsana sollte immer ein kleiner Abstand zwischen dem Ober- und dem Unterkiefer sein. Die Zähne sollten die Zunge nicht bei­ßen, die Kiefer entspannt, das Ge­sicht sehr ruhig sein. Das Kinn sollte zum Hals hin gerichtet sein, die Au­gen so, dass man die Spitze der Nase sehen kann usw. – Diese Worte beschreiben keine besondere Form, sondern die Tat­sache, dass im Āsana eine große Acht­samkeit, eine Prä­senz des Geistes von uns verlangt wird. Es heißt, dass wir ein Āsana nicht machen, sondern dass wir in dem Āsana sind.

Ein weiteres Maß dafür, ob sthi­ra­sukham erreicht wurde, bietet der Zeitpunkt nach dem Āsana. Wie füh­len wir uns, wenn wir wieder zurück sind aus der Übung? Die Haltung wirkt nach, und das soll sie auch! Nach Patañjali hat gute Āsanapraxis ein besonderes Ergebnis; er nennt das tato dvandvānabighātaḥ: Āsanapraxis soll uns in die Lage versetzen, uns den unterschiedlichsten Situationen und Anforderungen anzupassen, mit ihnen umgehen zu können.

Zum Thema Āsana gibt es bei Pa­tañjali also drei Sūtren.

Und alles, was darin beschrieben wird, legt die schrittweise Annäherung an ein Āsana nahe. Letztendlich handelt es sich dabei um nichts anderes als um das Einsetzen des gesunden Menschen­verstandes.

Wenn ich aus dem hei­ßen Indien im Winter nach Deutsch­land komme, werde ich anfangs viel warme Kleidung überziehen und die Heizung weit aufdrehen. Nach vier oder fünf Tagen kann ich vielleicht die Handschuhe ablegen, wenn ich draußen herumlaufe und einen meiner drei Pullo­ver. Mein System muss sich eingewöhnen. Dynamisches Üben im Yoga ist nichts anderes.

Je­de dynamisch ausgeführte Position gibt dem Körper die Gelegenheit, sich innerhalb der individuellen Mög­lichkeiten nach und nach in die gewünschte Hal­tung einzugewöhnen.

Je vertrauter uns dann das Āsana ist, desto weniger benötigen wir das dynamische Üben. Warum? Der Körper setzt den Anforderungen und dem Atem in der Haltung immer weniger Widerstände entgegen. Wenn ich dann einatme, kann ich die Brust weiten, wenn ich ausatme, den Bauch aktiv bewegen. Die dynamischen Bewegungen bereiten also das ganze menschliche System darauf vor, in der gewünschten Position zu verweilen. Dieser Gedanke drückt sich auch in jenem Teil des Übens eines Āsana aus, den wir Āsana sthiti nennen.

Er ist besonders bei sehr fordernden Āsana von Wichtigkeit. Auch wenn wir ein Āsana durch dynamische Wiederholungen eingeleitet haben, nehmen wir noch nicht unmittelbar die endgültige oder vollständige – pūrnam – Haltung ein, sondern eine, die sehr nah an diese herankommt. Wir sind also schon fast in der Position, aber eben noch nicht ganz.

Nehmen wir noch einmal Uttānāsana als Beispiel. Die vollständige Haltung lässt sich so beschreiben: Die Füße stehen nebeneinander und wir sind so weit nach vorn gebeugt, dass die Stirn die Knie be­rührt und die Handflächen am Boden abgelegt sind. Wir nehmen diese Haltung aber nie ein, ohne vorher für eine gewisse Zeit das Āsana sthiti von Uttānāsana geübt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um ein anderes Āsana. Der einzige Unterschied zum vollständigen Uttānāsana besteht darin, dass wir vielleicht nur mit den Fingerspitzen den Boden berühren und den Kopf in einer gewissen Entfernung von den Knien haben (Abb. 6).

Ein Vinyāsa für uttānāsana mit āsana sthiti  und pūrnam āsana.
Abb. 6

Erst wenn ich die Prü­fung des Āsana sthiti bestehe, diese Position, also mit Leichtigkeit, beherrsche, sind die Vorausset­zun­gen gegeben, dass ich mit Gewinn von dort aus in die endgültige Position weitergehen kann. Das ist Sinn und Zweck des Āsana sthiti.

Für einige sehr fordernde Āsana wie Paścimatānāsana oder Uttānāsana hielt mein Vater im Unter­rich­ten das Prinzip von Āsana sthiti immer streng ein. In Indien wird übrigens alles immer schon in dieser Weise, Schritt für Schritt gelehrt. Musik, Tanz, was auch immer es sei.

Für den Yoga erscheint mir dynamisches Üben heute angesichts mangelnder Bewegung, des vielen Sitzens auf Stühlen usw. fast noch wichtiger als früher. Trotzdem dürfen wir dem Verweilen in einem Āsana keinesfalls wenig Wert beimessen. Das wäre ein großes Missverständnis; nein, das Gegenteil ist der Fall. Es geht jedoch darum, die Tech­niken und Werkzeuge zu finden und zu benutzen, die das auf eine sinnvolle Weise möglich machen.

Ab wann ist Üben statisch?

Viveka

Ab wann kann die Praxis eines Āsana statisch genannt werden?

T.K.V. Desikachar

Was bedeuten fünf Minuten für Sie, was ein Jahr für mich? Ein besonderes menschliches System lässt sich nicht auf der Basis von Sekunden, Minuten oder Stun­den messen.

  • Was Ihnen vielleicht in fünf Minuten passiert, geschieht bei mir in zehn Minuten.
  • Was sind fünf Minuten für ein fünfjähriges Kind? Etwa das Gleiche wie für eine Acht­zigjährige?

Zeit ist eine Übereinkunft und respektiert nicht, was in einem Menschen geschieht, welche Qualität sich entwickelt, welche Wirkung sich entfaltet. Der Maß­stab, den wir an die Praxis von Āsana anlegen, muss sich auf jede Person beziehen können, jedem Menschen gerecht werden.

Der Atem ist ein solcher Maßstab. Alle Zeit ist für uns Menschen am Atem meßbar.

Und etwas Weiteres, was dem Yoga wichtig ist, geschieht gleichsam von selbst: Wenn ich meinen Atem als Maß nehme, bin ich bei ihm, bin ich bei mir. Bin ich mit meiner Aufmerk­sam­keit beim Atem, so kann ich frühzeitig die Grenzen meines Kör­pers spüren. Sie sind jeden Tag anders, und nicht die Uhr sagt mir, wo sie heute sind oder morgen. Atem ist ein universelles Prinzip, das für jede/n ohne Ausnahme wertvoll ist und gelten kann. Im Kopfstand immer wieder nach der Uhr zu schielen ist Zerstreuung, Ablenkung, nicht Yoga. Im Atem ist die Uhr, nicht am Armband!

Das Sitzen im Prāṇāyāma und der Meditation

Viveka

Es gibt die Vorstellung, die Beschreibung von Āsana bei Patañjali würde sich nur auf eine besondere Haltung beziehen, nämlich auf die Sitzposition zum Prāṇāyāma und zur Meditation.

T.K.V. Desikachar

Patañjali hat uns nur die Charakteristika von Āsana beschrieben, Namen oder Beispiele finden wir bei ihm nicht. Aber schon sein erster Kommentator, Vyāsa, hat uns einige Āsana aufgezählt, die sowohl Sitzpositionen als auch sehr ungewöhnliche Positionen sind:

  • padmāsana – Lotussitz
  • svastikāsana – Kreuzsitz
  • daṇḍāsana – Stock
  • bakāsana – Krähe
  • uṣṭrāsana – Ka­mel
  • paryaṅkāsana – Variante von matsyāsana – Fisch
  • hastinśalāsana – Elefant

Auch wenn es also zweifellos so ist, dass mit Āsana bestimmte Sitz­positionen beschrieben sind, die jemandem als Position für Prāṇāyāma oder zur Meditation dienen können, so legt uns diese Aufzählung, die auch schon eineinhalb tausend Jahre alt ist, den Gedanken nahe, dass auch bereits bei Patañjali der Begriff Āsana über die ausschließ­liche Beschreibung sitzender Hal­tungen hinausgeht. Gerade, wenn wir wie Patañjali eine gewisse Be­herr­schung von Āsana als Voraus­setzung für Prāṇāyāma verstehen, geht der Inhalt von Āsanapraxis über das bloße Sitzen können hinaus. Allein durch die Tatsache, für das Üben von Prāṇāyāma eine bestimmte Sitzposition zu beherrschen und in ihr für längere Zeit verweilen zu können, ist man für Prāṇāyāma keineswegs genügend vorbereitet! Die Regulierung des Atems erfordert eine gute Atembewegung, die Fähig­keit, frei ein- und ausatmen zu können oder auch den Atem zu verhalten, und dies über eine gewisse An­zahl von Atemzügen, über eine längere Zeit also.

In sitzenden Posi­tionen allein kann der Körper diese Fähigkeiten nicht entwickeln und sitzende Positionen allein reichen auch nicht aus, diese Fähig­keiten, wenn wir sie einmal erlangt haben, zu erhalten. In den Anforderungen selbst also, die allein schon in der Funktion des Āsana als eine Bedingung für Prāṇāyāma liegen, sehe ich den Grund, warum Vyāsa viele und auch so unterschiedliche andere Āsana erwähnt hat.

Āsana sind auch dazu da, uns in allgemeiner und umfassender Weise körperlich fit zu machen. Und bin ich in der Lage, sehr unterschiedliche Āsana auszuführen und darin auch mit einem guten Atem zu verweilen, dann spiegeln diese Āsana nicht nur meine Ge­sundheit wieder, sondern auch den Zustand meiner geistigen Stabilität. Wenn man sich Texte wie die Haṭha Yoga Pradīpikā anschaut, findet man noch mehr und ganz andere Āsana als die bei Vyāsa erwähnten.

Die Entwicklung unterschiedlichster Asana in der späteren Ge­schichte des Yoga diente natürlich sicher auch dazu, Menschen, die an Problemen litten, auf ihrem Yoga­weg zu helfen, sie gesünder und belastungsfähiger zu machen. Es gab und gibt im Yoga noch einen weiteren Gedanken, Sinn und Zweck von Āsanapraxis betreffend. Es ist die Idee der Körperbeherr­schung – śarīra samyama. Āsana wurde als Mittel und Beweis für die Beherrschbarkeit des Körpers verstanden und eingesetzt, was die Entwicklung von mehr und mehr Āsana begünstigte. Der Fokus war hier mit Sicherheit nicht Prāṇāyāma und auch nicht die Meditation.

Auch Kinder lassen sich durch Āsana für das Yogaüben begeistern, eine Tatsache, die in Indien sehr wichtig war, sollten sie doch mit ihrer alten Tradition verbunden bleiben. Wir motivieren ein Kind nicht zum Yogaüben, wenn wir es jeden Tag im Lotussitz sitzen lassen!

Kör­perliche Herausforderungen sind es, die ein Kind interessieren.

Āsana sind also sowohl Positio­nen, die als Vehikel und Vorausset­zung für weitergehende Übungen des Yoga fungieren, sie können eben­so benutzt werden, um körperlich fit zu bleiben oder gesundheitliche Probleme zu beheben, sie können Mittel und Beweis für die Be­herr­­schung des Körpers sein. Und schließlich helfen sie, Kinder und Jugendliche für Yoga zu interessieren.

Viveka

Wir wollen noch einmal auf die Frage des dynamischen Übens im Āsana zurückkommen. Wenn Menschen das selbe Āsana wieder und wieder dynamisch in Verbindung mit dem Atem üben, wird gewöhnlich die Bewegung immer langsamer, der Atem nach und nach immer länger. Können wir aus dieser Beobachtung schließen, dass sich das Üben, wenn es nur intensiv genug ist, sich wie von selbst in Richtung Statik entwickelt?

T.K.V. Desikachar

Die Beobachtung ist zutreffend: Im dynamischen Üben selbst – so beobachten wir – werden die Übenden allmählich langsamer und ruhiger.

Sthiram, Stabilität, tritt in der Bewe­gung auf und wir können dann immer mehr verstehen, dass die Quali­tät von Stabilität nicht davon abhängt, ob ich wie ein Fels sitze, genauso wenig wie Gehen automatisch Instabilität bedeutet.

Wird jemand in den dynamischen An­nähe­rungen an eine Hal­tung langsamer und sein Atem länger, so sagt uns das zwei Din­ge:

  • Im dynamischen Üben selbst ist Ruhe aufgekommen.
  • Die Wahrschein­lichkeit ist groß, dass dieser Mensch in der statischen Variante der bisher dynamisch ausgeführten Übung mit Gewinn verweilen kann.

Im dynamischen Üben können wir viel Erfahrung sammeln. Ich möchte es nicht versäumen, noch einmal auf die Vorteile dynamischen Übens für den Atem hinzuweisen.

Atmen ist real, wirklich, keine Idee, keine Vorstellung.

Beim Einatmen wird Atem, Luft in den Körper hineingezogen und verlässt ihn beim Ausatmen durch eine Kon­traktion des Bauches. Diese Wirk­lich­keit des Atems muss in jedem Āsana ihren Platz haben. Der Atem muss in jeder Haltung meinen Kör­per so betreten oder verlassen, wie ich es ihm durch die Haltung nahelege und nicht irgendwie und zufällig. Dazu muss mein gesamtes Sy­stem darauf vorbereitet sein. Dyna­mische Bewegungen tragen dieser Tatsache Rechnung und entwickeln ein inneres Verständnis dieser Pro­zesse, die für ein wirkungsvolles Üben von Āsana unabdingbar sind.

Viveka

Geschieht etwas anderes in meinem System, wenn ich dynamisch übe oder wenn ich statisch in einem Āsana verweile?

T.K.V. Desikachar

Mein Vater hatte eine sehr klare Antwort darauf: Dynamische Bewegungen helfen der Zirkulation des ganzen Systems. Dabei ist nicht die Blutzirkulation gemeint, sondern das Zirkulieren von Energie. Aus dem gleichen Grund besteht ein Āsanakurs nicht nur aus einem oder einer Sorte Āsana, sondern setzt sich aus verschiedensten Übungen zusammen. Wir üben aus dem Stand heraus, wechseln zum Sitzen, zum Liegen, wieder zum Stehen und so weiter.

Dynamik ist Energiebewegung.

Dynamische Bewegungen haben also sehr wohl auch für sich selbst genommen eine große Bedeutung. Sie helfen uns, durchlässiger zu werden, die Kno­ten, die sich in unserem Alltag immer wieder bilden, zu lösen. Sta­tisch ausgeführte Āsana sind nun verantwortlich für den Aspekt der Reinigung des Systems. Wollen wir zum Beispiel mithilfe einer Āsanapraxis im Bereich des Unterbauches arbeiten, so müssen wir uns zu­nächst für eine Haltung entscheiden, die den Fokus dort setzt. Wir müssen sie so vorbereiten, dass wir in ihr verweilen und langsam, bewusst und aktiv unseren Bauch in der Ausatmung bewegen können. Das Āsana, das wir hierfür benutzen, muss nicht besonders schwierig oder kompliziert sein, jedes Āsana, das diese Bedingungen erfüllt, ist gut dafür.

Vorbereitet durch die Zirkulation von Energie in dynamischen Übungen wird jetzt Reinigung dort geschehen, wo wir sie in Gang setzen wollten. Mein Vater pflegte zu sagen: In einem Āsanakurs sollte mindestens ein Āsana vorkommen, in dem der oder die Übende für ein paar Minu­ten mit einem ruhigen Atem bleiben kann. Welches Āsana das genau sein sollte, ist nicht von Bedeutung. Es könnte vajrāsana sein, der Fersen­sitz, oder irgendein anderes – wir müssen nur darin verweilen können. Heutzutage müssen wir deshalb am Ende einer Praxis den oder die Übende(n) oftmals sogar auf einem Stuhl sitzen lassen. Worauf wir dabei allerdings sehr viel Wert legen, ist, dass er oder sie dabei achtsam ist und für eine gewisse Zeit ruhig und gleichmäßig atmet. Das Liegen auf dem Rücken, also śavāsana, scheint uns dafür nicht so geeignet wie eine Sitzposition, weil im Liegen schnell die Schwere oder Müdigkeit das Ruder übernimmt.

Dass einige der Āsana nie dynamisch geübt werden, liegt in ihrer Natur, ihrem Charakter. Es sind Umkehrpositionen wie śirṣāsana – Kopfstand – oder viparīta karanī – Schulterstand, halber Schulterstand. In diesen Fällen müssen wir den Körper sehr sorgsam durch andere Bewegungen vorbereiten, damit er – wie unser Atem und unser Geist – auch solche Posi­tionen akzeptieren kann. Kommen wir dann zu dem eigentlichen Āsana, so verweilen wir zunächst nur kurz, vielleicht vier Atemzüge, in der Haltung, später dann sechs, acht, zehn, zwanzig. Nebenbei gesagt, hat also auch dieses Vorgehen einen dynamischen Aspekt.

Ein weiteres sehr gutes Beispiel für die Wichtigkeit des dynamischen Übens bezieht sich auf Übungen, mit denen wir unerwünschte Wir­kun­gen von Āsana ausgleichen. Wir nennen diesen Gebrauch pratikriyāsana. Hat zum Beispiel jemand nach dynamischer Vorbereitung śalabhāsana über vier Atemzüge statisch geübt, dann bedarf es einer dynamisch ausgeführten Übung, um die übermäßige Spannung im Rücken und Nacken wieder zu lösen. Dieses Lösen muss unbedingt Schritt für Schritt passieren. Kon­frontieren wir ein System in einem Zustand von Spannung plötzlich mit einer neuen, entgegengesetzten Anforde­rung, so können wir, anstatt die unerwünschten Wirkungen zu eliminieren, mehr Schaden anrichten.

Ein Ausgleich sollte immer schritt­weise eingenommen werden.

In den alten Zeiten, in denen viele Yoga übende sehr gesund, sehr beweglich, sehr ausgeglichen waren, verfügten sie auch über die Fähigkeit, den Aus­gleich statisch zu üben. Mit solchen Zeiten und solchen Men­schen können wir uns heute nur noch schlecht vergleichen. Sicher kann auch heute für jemanden, der in seiner Praxis immer weiter vorankommt, der Ausgleich wahrscheinlich immer statischer werden.  Doch neben einer Yoga­praxis gibt es noch viele andere As­pekte, die unser Leben und das bestimmen, was für unseren Körper notwendig ist. Nicht jeden Tag geht es uns gleich gut, haben wir die glei­che Belastung. Aus diesem Grund würde ich selbst einem sehr Geübten immer vorschlagen, die Ausgleichsposition zunächst einige Male dynamisch zu machen, bevor er oder sie darin verweilt.

Viveka

Sie sagten, das Leben heu­te ist sehr anders als früher. Wir arbeiten stundenlang in ein und derselben Position, wir bewegen uns zu wenig, wir sitzen auf schlecht konstruierten Stühlen. Was heißt es für die Frage nach dynamischem und statischem Üben, wenn wir diese Situation in Betracht ziehen?

T.K.V. Desikachar

Wenn wir jemandem ein Āsanaprogramm vorschlagen, müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir es immer mit einem bestimmten Menschen zu tun haben. Das bedeutet, dass die Tech­niken des Yoga dem Indivi­duum angepasst werden müssen und nicht umgedreht.

Dieses Anpassen der Praxis an die jeweiligen Besonder­heiten eines Menschen nennen wir Viniyoga.

Viniyoga bedeutet: eine besondere, intensive Verbindung, und diese Verbindung herzustellen, darum geht es uns. Was nützt jemandem das schönste Āsana, wenn es nicht zu ihm oder ihr passt, sich nicht mit ihr auf gute Weise „verbindet“?

Die ganze Idee des Viniyoga besteht darin, den Menschen, die Person, die da kommt, zu respektieren, ernst zu nehmen.

Das ist, nebenbei gesagt, keine neue Idee. Die ältesten religiösen Rituale folgen die­­sem Gedanken genauso wie der Ayurveda, die indische Heilkunst. Es ist nur so, dass viele Menschen dieses Konzept nicht kennen oder sich nie Gedan­ken darüber gemacht haben.

Wenn also jemand mit einem bestimmten Bedürfnis kommt, so müssen wir einen Kurs entwickeln, einen Vor­schlag machen, der eine Antwort auf dieses Bedürfnis beinhaltet. Aus dieser einfachen Situa­tion heraus bestimmt sich, wie der Kurs aussieht und nicht daraus, dass wir eine bestimmte vorgefaßte Mei­nung haben, wie viel Dynamik oder Statik darin vorkommen muss.

Wir haben keine andere Wahl, als vom Indivi­duum auszugehen, und dieses Individuum kann man nicht an der Zeit Patañjalis oder Vyāsas messen.

Das Individuum befindet sich in einem rasanten Prozess der Evolution, der seinen Preis fordert. Selbst hier bei uns in Madras erfahren wir dies auf eindringliche Weise. So beobachten wir zum Beispiel heutzutage bei mehr und mehr Men­­schen ernsthafte Nacken­prob­leme oder Schwierigkeiten mit den Augen als Folge von Computer­arbeit. Noch vor zehn Jahren gab es so etwas hier nur kaum.

Die Antwort ist also: Entscheide, was nötig ist, respektiere die Mög­lichkeiten des Individuums und baue Schritt für Schritt Vorschläge auf, die diese Bedürfnisse beantworten, Woche für Woche, Monat für Mo­nat, Jahr für Jahr. Nur auf diese Art und Weise kann man den Yoga im modernen Kontext benutzen, ansonsten stirbt er und die Menschheit verliert etwas Großartiges. ▼

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Dieser Artikel ist ursprünglich
erschienen in Viveka Heft

Das Gespräch

Viveka

Wie kann statisches und dynamisches Üben von Āsana im Zusammenhang mit dem traditionellen Verständnis von Āsanapraxis eingeordnet werden?

T.K.V. Desikachar

Wenn wir uns die Definition von Āsana im wichtigsten Text über Yoga, dem Yoga Sūtra Patañjalis, an­schauen, so finden wir dort folgende Beschreibung – sthirasukham āsanam. Das Wort sthiram kann man in diesem Zusammen­hang als bleiben, verweilen verstehen, der Begriff sukham beschreibt ein Ge­fühl von Leichtigkeit, Wohlbefin­den. So also lautet die Definition von Āsana bei Patañjali.

Das bedeutet, hier wird ein besonderer Zu­stand beschrieben. Von diesem Ge­sichtspunkt aus gesehen hat das Yoga Sūtra Āsana also definiert als eine Haltung, in der wir für eine gewisse Zeit verweilen können und dies selbstverständlich leicht, also ohne Stress oder Schmerz.

Was der Begriff allerdings nicht definiert, ist den Weg, die Methode, wie man in diesen Zustand gelangt. Deshalb müssen wir noch einige Worte mehr darüber verlieren, was Āsana im Kontext des Yoga Sūtra eigentlich beinhaltet.

Wenn wir über Āsana sprechen, so reden wir über besondere Hal­tungen, an die wir aus unserer Alltagserfahrung heraus nicht gewöhnt sind.

Allein schon die Tat­sache, dass Āsana bei Patañjali eine besondere Definition erfährt, legt uns dieses Verständnis nahe. Wa­rum sollte Patañjali in einem so grundlegenden Yogatext eine Haltung definieren, die uns ohnehin vertraut ist, die wir von unseren alltäglichen Bewegungsabläufen her einzunehmen gewohnt sind? Angenommen, ich sitze normalerweise auf einem Stuhl wie jetzt gerade in unserem Gespräch, die Bei­ne übereinandergeschlagen, den linken Arm auf die Tischkante gestützt, in der rechten Hand einen Bleistift haltend – das ist kein Āsana.

Āsana ist immer etwas anders, verschieden von dem, was wir ge­wöhn­­­licherweise tun.

Indische Frauen arbeiten zum Beispiel über Stunden hinweg in einer hockenden Position, die wir unter den Āsana als utkatāsana beschrieben finden. Den­noch könnten wir nicht sagen, indische Frauen üben jeden Tag ausführlich utkatāsana; diese Hal­tung ist kein Āsana für sie. Manche von uns können stundenlang auf einem Stuhl sitzen, zu Hause oder im Büro, sie können das vielleicht sogar sehr still und unbewegt tun, ohne sich groß anzustrengen. Aber dennoch ist dies nicht Āsana.

Āsana sind also zunächst einmal Positionen, die unser Körper nicht gewohnt ist. Wir können Āsana darüber hinaus beschreiben als ein spezifisches Arrangement verschiedener Teile unseres Körpers zueinander; der Sanskritbegriff dafür lautet śarīra aṇga vinyāsa.

Aber Patañjali geht im Sūtra, das der oben beschriebenen Definition folgt, noch einen Schritt weiter. Er fragt danach, wie eine solche Hal­tung, zu bewerkstelligen ist, wie wir diesen besonderen Zustand von Verweilen in Leichtigkeit erreichen können?

Zunächst bedarf es unserer Vorstellungskraft – bhāvana: Wir müssen uns das Āsana, das wir üben wollen, visualisieren und auch, wie wir darin stabil und leicht sein können. Danach bleibt es uns nicht erspart, auch wirklich in diese Rich­tung hin zu handeln – prayatna, und zwar in der Art und Weise, dass allmählich die Anstrengungen, die uns dahin bringen, geringer und weniger schmerzlich werden. Um das Wie zu beschreiben, hat Pa­tañ­jali das Wort śaithilya benutzt. Es bezeichnet das Entstehen von mehr und mehr Freiheit und Leich­tigkeit in diesem Prozess. Das Wort hingegen, welches die Anstrengung selbst beschreibt, ist prayatna. Es vermittelt uns darüber hinaus auch den Gedanken, dass diese Anstren­gung – yatna – passend, richtig, adäquat – pra – sein sollte, denn Anstren­gung kann auch in die falsche Richtung gehen.

Wenn ich also Āsana üben möchte, Haltungen einnehmen möchte, die sich unterscheiden von dem, was ich gewöhnlich tue, so muss ich zunächst diese Haltungen visualisieren und dann Schritte unternehmen, die mich in diese Richtung voranbringen. Es müssen Schritte sein, die mir helfen, dorthin zu gelangen, die Position einzunehmen, und darin zu verweilen. Hier sind wir am ersten Punkt angelangt, der die Wich­tig­keit des dynamischen Übens deut­lich macht.

Dynamische Bewe­gungen sind das entscheidende Mittel, nach und nach die Mög­lichkeit zu verbessern, in einer gewünschten Haltung in einer Qualität verweilen zu können, die Patañjalis Anspruch genügen kann.

Stellen wir uns das einmal konkret vor. Angenommen, ich möchte uttānāsana, eine Vorbeuge aus dem Stand heraus, üben, bin aber eher steif. Ich stelle also meine Füße nebeneinander und versuche, mich nach vorn zu beugen. Vereinzelt beginnt es jetzt zu ziehen, vielleicht sogar zu schmerzen, weil mein Kör­per nicht so will, wie ich will. Zudem wird mir die Luft knapp, ich verspanne mich im Atem.

Es wird viel über die Frage des Schmerzes in der Āsanapraxis diskutiert. Ich bin überzeugt, dass Schmerz vermieden werden muss. Schmerz ist immer ein Hinweis darauf, dass der Körper nicht gut mit den Forderungen zurechtkommt, die man ihm stellt. Dass der Schmerz ein Botschafter ist, der uns sagt: Halte inne, deine Achtsam­keit war ungenügend, in diese Richtung kannst du so nicht weitergehen!

Eine Alternative dazu besteht nun darin, in dynamischem Wieder­holen meinen Körper immer ein wenig mehr dahinzubewegen, wohin ich gehen möchte. Jedes Mal, wenn ich mich in die Richtung von uttānāsana bewege, akzeptiert mein Kör­per diese Veränderung etwas besser. Ich erzwinge nichts, komme zurück und fahre so fort, bis ich endlich in der Haltung bleiben kann (Abb. 1). Daher haben sich die dynamischen Bewegungsabläufe als gute Vorbereitungen für das Verweilen in den jeweiligen Positio­nen erwiesen.

Dynamischen Bewegungsabläufe als gute Vorbereitungen für das statische Üben von uttānāsana.
Abb. 1

Wie lange das Ver­wei­len dann sinnvoll ist, ist eine weitere Frage. Sie bemisst sich zum Beispiel:

  • an der Reaktion, die mein Körper in dem Āsana zeigt
  • an der Anzahl der Atemzüge, die mir in dieser Position leicht fallen
  • an den Zielen, die ich mit meiner Praxis verfolge

Das dynamische Üben hat eine lange Tradition. Als mein Vater T. Krishnamacharya in den Dreißigerjahren Kinder und Jugend­liche unterrichtete, lehrte er sie die Āsana so, dass eines auf das andere folgte, mit dem vorigen und dem folgenden verbunden war, also in Āsanasequenzen, sogenannten Vinyāsa (Abb. 2). Wurde etwa ein Vinyāsa für paścimatānāsana geübt, so kam darin unweigerlich uttānāsana vor, dann vielleicht uttānāsana und eine weitere Haltung, etwa der Hund, der nach unten schaut, adhomukha śvānāsana, dann noch eine zusätzliche Haltung und so fort bis man bei paścimatānāsana ankam.

Ein Vinyāsa für Paścimatānāsana.
Abb. 2

Der erste Schritt dieses ganzen Pro­zesses bestand darin, dass man uttānāsana mehrere Male dynamisch übte und dann darin verweilte, danach den Hund mehrere Male dynamisch praktizierte, um ihn danach statisch einzunehmen und so fort (Abb. 3 - 5).

Ein Vinyāsa für uttānāsana.
Abb. 3
Ein Vinyāsa für ūrdhva mukhaśvānāsana.
Abb. 4
Ein Vinyāsa für ūrdhva mukhaśvānāsana und daṇḍāsana..
Abb. 5

Im endgültigen Vinyāsa war schließ­lich jedes dieser Āsana Teil eines dynamischen Ablaufes, mit Ausnahme des wichtigsten, zu dem die jeweilige Sequenz hinführte, dem Haupt­­āsana, das statisch geübt wurde.

Hinter dem dynamischen Üben steckt also das alte Wissen um Hil­fen, die man jemandem geben kann, damit er oder sie in einer Position verweilen kann, ohne darin Anstrengungen in die falsche Richtung zu unternehmen, ohne sich zu verspannen oder gar zu quälen.

Es ist die Idee von prayatna­śhaithilya, dem Verringern von Anspannung, die uns das dynamische Üben nahelegt, denn beim Verweilen im  Āsana geht es immer darum, etwas Positives zu erfahren, nicht Frustration oder Schmerz. Daher wurde das dynamische Üben ein Muss.

Sthirasukham āsanam und dynamisches Üben

Viveka

Kann die Qualität von sthirasukham, von Stabilität und Leichtigkeit auch auf das dynamische Üben bezogen werden?

T.K.V. Desikachar

Lassen Sie uns die Worte sthirasukham von verschiedenen Verständnisebenen her beleuchten.

Die eine bezieht sich auf den Körper und beinhaltet Stabilität einerseits sowie Leichtigkeit und Durchlässigkeit andererseits. Sthiram und sukham betreffen aber darüber hinaus das gesamte Befinden der Person, die übt. Aus dieser Sicht sollten wir in einer Hal­tung sowohl Wachheit als auch Wohlbefinden realisieren. Als Maß­stab dafür können wir getrost die Qualität des Atems im Āsana heranziehen.

Jeder, jede Übende sollte in der Lage sein, in jedem Āsana, das praktiziert wird, in einer guten Qua­lität aus- und einzuatmen.

Es ist nicht genug, in einem Āsana verweilen zu können, wenn dies nur mit flachem oder gar unruhigem Atem möglich ist. Auch der Aus­druck im Gesicht des Übenden zeigt etwas: Ich las gerade zufällig in dem berühmten Kom­mentar von Shankara zum Yoga Sūtra, was er zum Thema sthira­sukham āsanam zu sagen hat. Es heißt dort – Beim Ver­weilen im Āsana sollte immer ein kleiner Abstand zwischen dem Ober- und dem Unterkiefer sein. Die Zähne sollten die Zunge nicht bei­ßen, die Kiefer entspannt, das Ge­sicht sehr ruhig sein. Das Kinn sollte zum Hals hin gerichtet sein, die Au­gen so, dass man die Spitze der Nase sehen kann usw. – Diese Worte beschreiben keine besondere Form, sondern die Tat­sache, dass im Āsana eine große Acht­samkeit, eine Prä­senz des Geistes von uns verlangt wird. Es heißt, dass wir ein Āsana nicht machen, sondern dass wir in dem Āsana sind.

Ein weiteres Maß dafür, ob sthi­ra­sukham erreicht wurde, bietet der Zeitpunkt nach dem Āsana. Wie füh­len wir uns, wenn wir wieder zurück sind aus der Übung? Die Haltung wirkt nach, und das soll sie auch! Nach Patañjali hat gute Āsanapraxis ein besonderes Ergebnis; er nennt das tato dvandvānabighātaḥ: Āsanapraxis soll uns in die Lage versetzen, uns den unterschiedlichsten Situationen und Anforderungen anzupassen, mit ihnen umgehen zu können.

Zum Thema Āsana gibt es bei Pa­tañjali also drei Sūtren.

Und alles, was darin beschrieben wird, legt die schrittweise Annäherung an ein Āsana nahe. Letztendlich handelt es sich dabei um nichts anderes als um das Einsetzen des gesunden Menschen­verstandes.

Wenn ich aus dem hei­ßen Indien im Winter nach Deutsch­land komme, werde ich anfangs viel warme Kleidung überziehen und die Heizung weit aufdrehen. Nach vier oder fünf Tagen kann ich vielleicht die Handschuhe ablegen, wenn ich draußen herumlaufe und einen meiner drei Pullo­ver. Mein System muss sich eingewöhnen. Dynamisches Üben im Yoga ist nichts anderes.

Je­de dynamisch ausgeführte Position gibt dem Körper die Gelegenheit, sich innerhalb der individuellen Mög­lichkeiten nach und nach in die gewünschte Hal­tung einzugewöhnen.

Je vertrauter uns dann das Āsana ist, desto weniger benötigen wir das dynamische Üben. Warum? Der Körper setzt den Anforderungen und dem Atem in der Haltung immer weniger Widerstände entgegen. Wenn ich dann einatme, kann ich die Brust weiten, wenn ich ausatme, den Bauch aktiv bewegen. Die dynamischen Bewegungen bereiten also das ganze menschliche System darauf vor, in der gewünschten Position zu verweilen. Dieser Gedanke drückt sich auch in jenem Teil des Übens eines Āsana aus, den wir Āsana sthiti nennen.

Er ist besonders bei sehr fordernden Āsana von Wichtigkeit. Auch wenn wir ein Āsana durch dynamische Wiederholungen eingeleitet haben, nehmen wir noch nicht unmittelbar die endgültige oder vollständige – pūrnam – Haltung ein, sondern eine, die sehr nah an diese herankommt. Wir sind also schon fast in der Position, aber eben noch nicht ganz.

Nehmen wir noch einmal Uttānāsana als Beispiel. Die vollständige Haltung lässt sich so beschreiben: Die Füße stehen nebeneinander und wir sind so weit nach vorn gebeugt, dass die Stirn die Knie be­rührt und die Handflächen am Boden abgelegt sind. Wir nehmen diese Haltung aber nie ein, ohne vorher für eine gewisse Zeit das Āsana sthiti von Uttānāsana geübt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um ein anderes Āsana. Der einzige Unterschied zum vollständigen Uttānāsana besteht darin, dass wir vielleicht nur mit den Fingerspitzen den Boden berühren und den Kopf in einer gewissen Entfernung von den Knien haben (Abb. 6).

Ein Vinyāsa für uttānāsana mit āsana sthiti  und pūrnam āsana.
Abb. 6

Erst wenn ich die Prü­fung des Āsana sthiti bestehe, diese Position, also mit Leichtigkeit, beherrsche, sind die Vorausset­zun­gen gegeben, dass ich mit Gewinn von dort aus in die endgültige Position weitergehen kann. Das ist Sinn und Zweck des Āsana sthiti.

Für einige sehr fordernde Āsana wie Paścimatānāsana oder Uttānāsana hielt mein Vater im Unter­rich­ten das Prinzip von Āsana sthiti immer streng ein. In Indien wird übrigens alles immer schon in dieser Weise, Schritt für Schritt gelehrt. Musik, Tanz, was auch immer es sei.

Für den Yoga erscheint mir dynamisches Üben heute angesichts mangelnder Bewegung, des vielen Sitzens auf Stühlen usw. fast noch wichtiger als früher. Trotzdem dürfen wir dem Verweilen in einem Āsana keinesfalls wenig Wert beimessen. Das wäre ein großes Missverständnis; nein, das Gegenteil ist der Fall. Es geht jedoch darum, die Tech­niken und Werkzeuge zu finden und zu benutzen, die das auf eine sinnvolle Weise möglich machen.

Ab wann ist Üben statisch?

Viveka

Ab wann kann die Praxis eines Āsana statisch genannt werden?

T.K.V. Desikachar

Was bedeuten fünf Minuten für Sie, was ein Jahr für mich? Ein besonderes menschliches System lässt sich nicht auf der Basis von Sekunden, Minuten oder Stun­den messen.

  • Was Ihnen vielleicht in fünf Minuten passiert, geschieht bei mir in zehn Minuten.
  • Was sind fünf Minuten für ein fünfjähriges Kind? Etwa das Gleiche wie für eine Acht­zigjährige?

Zeit ist eine Übereinkunft und respektiert nicht, was in einem Menschen geschieht, welche Qualität sich entwickelt, welche Wirkung sich entfaltet. Der Maß­stab, den wir an die Praxis von Āsana anlegen, muss sich auf jede Person beziehen können, jedem Menschen gerecht werden.

Der Atem ist ein solcher Maßstab. Alle Zeit ist für uns Menschen am Atem meßbar.

Und etwas Weiteres, was dem Yoga wichtig ist, geschieht gleichsam von selbst: Wenn ich meinen Atem als Maß nehme, bin ich bei ihm, bin ich bei mir. Bin ich mit meiner Aufmerk­sam­keit beim Atem, so kann ich frühzeitig die Grenzen meines Kör­pers spüren. Sie sind jeden Tag anders, und nicht die Uhr sagt mir, wo sie heute sind oder morgen. Atem ist ein universelles Prinzip, das für jede/n ohne Ausnahme wertvoll ist und gelten kann. Im Kopfstand immer wieder nach der Uhr zu schielen ist Zerstreuung, Ablenkung, nicht Yoga. Im Atem ist die Uhr, nicht am Armband!

Das Sitzen im Prāṇāyāma und der Meditation

Viveka

Es gibt die Vorstellung, die Beschreibung von Āsana bei Patañjali würde sich nur auf eine besondere Haltung beziehen, nämlich auf die Sitzposition zum Prāṇāyāma und zur Meditation.

T.K.V. Desikachar

Patañjali hat uns nur die Charakteristika von Āsana beschrieben, Namen oder Beispiele finden wir bei ihm nicht. Aber schon sein erster Kommentator, Vyāsa, hat uns einige Āsana aufgezählt, die sowohl Sitzpositionen als auch sehr ungewöhnliche Positionen sind:

  • padmāsana – Lotussitz
  • svastikāsana – Kreuzsitz
  • daṇḍāsana – Stock
  • bakāsana – Krähe
  • uṣṭrāsana – Ka­mel
  • paryaṅkāsana – Variante von matsyāsana – Fisch
  • hastinśalāsana – Elefant

Auch wenn es also zweifellos so ist, dass mit Āsana bestimmte Sitz­positionen beschrieben sind, die jemandem als Position für Prāṇāyāma oder zur Meditation dienen können, so legt uns diese Aufzählung, die auch schon eineinhalb tausend Jahre alt ist, den Gedanken nahe, dass auch bereits bei Patañjali der Begriff Āsana über die ausschließ­liche Beschreibung sitzender Hal­tungen hinausgeht. Gerade, wenn wir wie Patañjali eine gewisse Be­herr­schung von Āsana als Voraus­setzung für Prāṇāyāma verstehen, geht der Inhalt von Āsanapraxis über das bloße Sitzen können hinaus. Allein durch die Tatsache, für das Üben von Prāṇāyāma eine bestimmte Sitzposition zu beherrschen und in ihr für längere Zeit verweilen zu können, ist man für Prāṇāyāma keineswegs genügend vorbereitet! Die Regulierung des Atems erfordert eine gute Atembewegung, die Fähig­keit, frei ein- und ausatmen zu können oder auch den Atem zu verhalten, und dies über eine gewisse An­zahl von Atemzügen, über eine längere Zeit also.

In sitzenden Posi­tionen allein kann der Körper diese Fähigkeiten nicht entwickeln und sitzende Positionen allein reichen auch nicht aus, diese Fähig­keiten, wenn wir sie einmal erlangt haben, zu erhalten. In den Anforderungen selbst also, die allein schon in der Funktion des Āsana als eine Bedingung für Prāṇāyāma liegen, sehe ich den Grund, warum Vyāsa viele und auch so unterschiedliche andere Āsana erwähnt hat.

Āsana sind auch dazu da, uns in allgemeiner und umfassender Weise körperlich fit zu machen. Und bin ich in der Lage, sehr unterschiedliche Āsana auszuführen und darin auch mit einem guten Atem zu verweilen, dann spiegeln diese Āsana nicht nur meine Ge­sundheit wieder, sondern auch den Zustand meiner geistigen Stabilität. Wenn man sich Texte wie die Haṭha Yoga Pradīpikā anschaut, findet man noch mehr und ganz andere Āsana als die bei Vyāsa erwähnten.

Die Entwicklung unterschiedlichster Asana in der späteren Ge­schichte des Yoga diente natürlich sicher auch dazu, Menschen, die an Problemen litten, auf ihrem Yoga­weg zu helfen, sie gesünder und belastungsfähiger zu machen. Es gab und gibt im Yoga noch einen weiteren Gedanken, Sinn und Zweck von Āsanapraxis betreffend. Es ist die Idee der Körperbeherr­schung – śarīra samyama. Āsana wurde als Mittel und Beweis für die Beherrschbarkeit des Körpers verstanden und eingesetzt, was die Entwicklung von mehr und mehr Āsana begünstigte. Der Fokus war hier mit Sicherheit nicht Prāṇāyāma und auch nicht die Meditation.

Auch Kinder lassen sich durch Āsana für das Yogaüben begeistern, eine Tatsache, die in Indien sehr wichtig war, sollten sie doch mit ihrer alten Tradition verbunden bleiben. Wir motivieren ein Kind nicht zum Yogaüben, wenn wir es jeden Tag im Lotussitz sitzen lassen!

Kör­perliche Herausforderungen sind es, die ein Kind interessieren.

Āsana sind also sowohl Positio­nen, die als Vehikel und Vorausset­zung für weitergehende Übungen des Yoga fungieren, sie können eben­so benutzt werden, um körperlich fit zu bleiben oder gesundheitliche Probleme zu beheben, sie können Mittel und Beweis für die Be­herr­­schung des Körpers sein. Und schließlich helfen sie, Kinder und Jugendliche für Yoga zu interessieren.

Viveka

Wir wollen noch einmal auf die Frage des dynamischen Übens im Āsana zurückkommen. Wenn Menschen das selbe Āsana wieder und wieder dynamisch in Verbindung mit dem Atem üben, wird gewöhnlich die Bewegung immer langsamer, der Atem nach und nach immer länger. Können wir aus dieser Beobachtung schließen, dass sich das Üben, wenn es nur intensiv genug ist, sich wie von selbst in Richtung Statik entwickelt?

T.K.V. Desikachar

Die Beobachtung ist zutreffend: Im dynamischen Üben selbst – so beobachten wir – werden die Übenden allmählich langsamer und ruhiger.

Sthiram, Stabilität, tritt in der Bewe­gung auf und wir können dann immer mehr verstehen, dass die Quali­tät von Stabilität nicht davon abhängt, ob ich wie ein Fels sitze, genauso wenig wie Gehen automatisch Instabilität bedeutet.

Wird jemand in den dynamischen An­nähe­rungen an eine Hal­tung langsamer und sein Atem länger, so sagt uns das zwei Din­ge:

  • Im dynamischen Üben selbst ist Ruhe aufgekommen.
  • Die Wahrschein­lichkeit ist groß, dass dieser Mensch in der statischen Variante der bisher dynamisch ausgeführten Übung mit Gewinn verweilen kann.

Im dynamischen Üben können wir viel Erfahrung sammeln. Ich möchte es nicht versäumen, noch einmal auf die Vorteile dynamischen Übens für den Atem hinzuweisen.

Atmen ist real, wirklich, keine Idee, keine Vorstellung.

Beim Einatmen wird Atem, Luft in den Körper hineingezogen und verlässt ihn beim Ausatmen durch eine Kon­traktion des Bauches. Diese Wirk­lich­keit des Atems muss in jedem Āsana ihren Platz haben. Der Atem muss in jeder Haltung meinen Kör­per so betreten oder verlassen, wie ich es ihm durch die Haltung nahelege und nicht irgendwie und zufällig. Dazu muss mein gesamtes Sy­stem darauf vorbereitet sein. Dyna­mische Bewegungen tragen dieser Tatsache Rechnung und entwickeln ein inneres Verständnis dieser Pro­zesse, die für ein wirkungsvolles Üben von Āsana unabdingbar sind.

Viveka

Geschieht etwas anderes in meinem System, wenn ich dynamisch übe oder wenn ich statisch in einem Āsana verweile?

T.K.V. Desikachar

Mein Vater hatte eine sehr klare Antwort darauf: Dynamische Bewegungen helfen der Zirkulation des ganzen Systems. Dabei ist nicht die Blutzirkulation gemeint, sondern das Zirkulieren von Energie. Aus dem gleichen Grund besteht ein Āsanakurs nicht nur aus einem oder einer Sorte Āsana, sondern setzt sich aus verschiedensten Übungen zusammen. Wir üben aus dem Stand heraus, wechseln zum Sitzen, zum Liegen, wieder zum Stehen und so weiter.

Dynamik ist Energiebewegung.

Dynamische Bewegungen haben also sehr wohl auch für sich selbst genommen eine große Bedeutung. Sie helfen uns, durchlässiger zu werden, die Kno­ten, die sich in unserem Alltag immer wieder bilden, zu lösen. Sta­tisch ausgeführte Āsana sind nun verantwortlich für den Aspekt der Reinigung des Systems. Wollen wir zum Beispiel mithilfe einer Āsanapraxis im Bereich des Unterbauches arbeiten, so müssen wir uns zu­nächst für eine Haltung entscheiden, die den Fokus dort setzt. Wir müssen sie so vorbereiten, dass wir in ihr verweilen und langsam, bewusst und aktiv unseren Bauch in der Ausatmung bewegen können. Das Āsana, das wir hierfür benutzen, muss nicht besonders schwierig oder kompliziert sein, jedes Āsana, das diese Bedingungen erfüllt, ist gut dafür.

Vorbereitet durch die Zirkulation von Energie in dynamischen Übungen wird jetzt Reinigung dort geschehen, wo wir sie in Gang setzen wollten. Mein Vater pflegte zu sagen: In einem Āsanakurs sollte mindestens ein Āsana vorkommen, in dem der oder die Übende für ein paar Minu­ten mit einem ruhigen Atem bleiben kann. Welches Āsana das genau sein sollte, ist nicht von Bedeutung. Es könnte vajrāsana sein, der Fersen­sitz, oder irgendein anderes – wir müssen nur darin verweilen können. Heutzutage müssen wir deshalb am Ende einer Praxis den oder die Übende(n) oftmals sogar auf einem Stuhl sitzen lassen. Worauf wir dabei allerdings sehr viel Wert legen, ist, dass er oder sie dabei achtsam ist und für eine gewisse Zeit ruhig und gleichmäßig atmet. Das Liegen auf dem Rücken, also śavāsana, scheint uns dafür nicht so geeignet wie eine Sitzposition, weil im Liegen schnell die Schwere oder Müdigkeit das Ruder übernimmt.

Dass einige der Āsana nie dynamisch geübt werden, liegt in ihrer Natur, ihrem Charakter. Es sind Umkehrpositionen wie śirṣāsana – Kopfstand – oder viparīta karanī – Schulterstand, halber Schulterstand. In diesen Fällen müssen wir den Körper sehr sorgsam durch andere Bewegungen vorbereiten, damit er – wie unser Atem und unser Geist – auch solche Posi­tionen akzeptieren kann. Kommen wir dann zu dem eigentlichen Āsana, so verweilen wir zunächst nur kurz, vielleicht vier Atemzüge, in der Haltung, später dann sechs, acht, zehn, zwanzig. Nebenbei gesagt, hat also auch dieses Vorgehen einen dynamischen Aspekt.

Ein weiteres sehr gutes Beispiel für die Wichtigkeit des dynamischen Übens bezieht sich auf Übungen, mit denen wir unerwünschte Wir­kun­gen von Āsana ausgleichen. Wir nennen diesen Gebrauch pratikriyāsana. Hat zum Beispiel jemand nach dynamischer Vorbereitung śalabhāsana über vier Atemzüge statisch geübt, dann bedarf es einer dynamisch ausgeführten Übung, um die übermäßige Spannung im Rücken und Nacken wieder zu lösen. Dieses Lösen muss unbedingt Schritt für Schritt passieren. Kon­frontieren wir ein System in einem Zustand von Spannung plötzlich mit einer neuen, entgegengesetzten Anforde­rung, so können wir, anstatt die unerwünschten Wirkungen zu eliminieren, mehr Schaden anrichten.

Ein Ausgleich sollte immer schritt­weise eingenommen werden.

In den alten Zeiten, in denen viele Yoga übende sehr gesund, sehr beweglich, sehr ausgeglichen waren, verfügten sie auch über die Fähigkeit, den Aus­gleich statisch zu üben. Mit solchen Zeiten und solchen Men­schen können wir uns heute nur noch schlecht vergleichen. Sicher kann auch heute für jemanden, der in seiner Praxis immer weiter vorankommt, der Ausgleich wahrscheinlich immer statischer werden.  Doch neben einer Yoga­praxis gibt es noch viele andere As­pekte, die unser Leben und das bestimmen, was für unseren Körper notwendig ist. Nicht jeden Tag geht es uns gleich gut, haben wir die glei­che Belastung. Aus diesem Grund würde ich selbst einem sehr Geübten immer vorschlagen, die Ausgleichsposition zunächst einige Male dynamisch zu machen, bevor er oder sie darin verweilt.

Viveka

Sie sagten, das Leben heu­te ist sehr anders als früher. Wir arbeiten stundenlang in ein und derselben Position, wir bewegen uns zu wenig, wir sitzen auf schlecht konstruierten Stühlen. Was heißt es für die Frage nach dynamischem und statischem Üben, wenn wir diese Situation in Betracht ziehen?

T.K.V. Desikachar

Wenn wir jemandem ein Āsanaprogramm vorschlagen, müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir es immer mit einem bestimmten Menschen zu tun haben. Das bedeutet, dass die Tech­niken des Yoga dem Indivi­duum angepasst werden müssen und nicht umgedreht.

Dieses Anpassen der Praxis an die jeweiligen Besonder­heiten eines Menschen nennen wir Viniyoga.

Viniyoga bedeutet: eine besondere, intensive Verbindung, und diese Verbindung herzustellen, darum geht es uns. Was nützt jemandem das schönste Āsana, wenn es nicht zu ihm oder ihr passt, sich nicht mit ihr auf gute Weise „verbindet“?

Die ganze Idee des Viniyoga besteht darin, den Menschen, die Person, die da kommt, zu respektieren, ernst zu nehmen.

Das ist, nebenbei gesagt, keine neue Idee. Die ältesten religiösen Rituale folgen die­­sem Gedanken genauso wie der Ayurveda, die indische Heilkunst. Es ist nur so, dass viele Menschen dieses Konzept nicht kennen oder sich nie Gedan­ken darüber gemacht haben.

Wenn also jemand mit einem bestimmten Bedürfnis kommt, so müssen wir einen Kurs entwickeln, einen Vor­schlag machen, der eine Antwort auf dieses Bedürfnis beinhaltet. Aus dieser einfachen Situa­tion heraus bestimmt sich, wie der Kurs aussieht und nicht daraus, dass wir eine bestimmte vorgefaßte Mei­nung haben, wie viel Dynamik oder Statik darin vorkommen muss.

Wir haben keine andere Wahl, als vom Indivi­duum auszugehen, und dieses Individuum kann man nicht an der Zeit Patañjalis oder Vyāsas messen.

Das Individuum befindet sich in einem rasanten Prozess der Evolution, der seinen Preis fordert. Selbst hier bei uns in Madras erfahren wir dies auf eindringliche Weise. So beobachten wir zum Beispiel heutzutage bei mehr und mehr Men­­schen ernsthafte Nacken­prob­leme oder Schwierigkeiten mit den Augen als Folge von Computer­arbeit. Noch vor zehn Jahren gab es so etwas hier nur kaum.

Die Antwort ist also: Entscheide, was nötig ist, respektiere die Mög­lichkeiten des Individuums und baue Schritt für Schritt Vorschläge auf, die diese Bedürfnisse beantworten, Woche für Woche, Monat für Mo­nat, Jahr für Jahr. Nur auf diese Art und Weise kann man den Yoga im modernen Kontext benutzen, ansonsten stirbt er und die Menschheit verliert etwas Großartiges. ▼

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erschienen in Viveka Heft
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