Diese Artikelreihe widmet sich ganz der Yogapraxis.
Egal, ob du mehr über Meditation oder Prāṇāyāma erfahren möchtest, fundierte Informationen zu einzelnen Āsana suchst oder dich für bestimmte Zielgruppen interessierst – hier wirst du fündig!
Äußere Veränderungen waren schon immer eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Yogas.
Unter der Überschrift Tradition – Yoga im Wandel findest du daher nicht nur Artikel zu Hintergrund, Geschichte und wichtigen traditionellen Texten und Schriften, sondern auch Beiträge, die sich unter dem Stichwort TravellingYoga mit Veränderungen und notwendigen Anpassungen im Yoga auseinandersetzen.
Wie kann die Wirkung von Āsanas verstanden werden? In anderen Artikeln wurde bereits darauf eingegangen, dass einige der weitverbreiteten Erklärungsversuche zur Wirkweise von Āsana einer tiefergehenden Prüfung nicht standhalten; ein fundierter Austausch über nachvollziehbare Erfahrungen und Beobachtungen wird allzu oft ersetzt durch pseudowissenschaftliche Erklärungen, Versprechungen und mechanistischen Vorstellungen von der Funktion des menschlichen Körpers und Geistes.
Tatsächlich ist der Mensch aber ein vieldimensionales und komplexes Wesen, und Yoga eine Methode, die sich in jeder Übung vieler Ebenen und Möglichkeiten bedient. Ihre Wirkweise zu erklären, benötigt deshalb einen Ansatz, der die Besonderheit eines jeden Menschen ebenso berücksichtigt wie die Vielschichtigkeit der Übungen des Yoga. Es ist der Yoga selbst, der einen solchen Ansatz entwickelt hat und im Yoga Sūtra zur Diskussion stellt. Seine Grundzüge behandelt der folgende Artikel aus der Serie: Wirkungen von Āsana.
Der Bauer durchsticht den Damm – So wirkt Yoga
Wie kann die Wirkung von Āsanas verstanden werden? In anderen Artikeln wurde bereits darauf eingegangen, dass einige der weitverbreiteten Erklärungsversuche zur Wirkweise von Āsana einer tiefergehenden Prüfung nicht standhalten; ein fundierter Austausch über nachvollziehbare Erfahrungen und Beobachtungen wird allzu oft ersetzt durch pseudowissenschaftliche Erklärungen, Versprechungen und mechanistischen Vorstellungen von der Funktion des menschlichen Körpers und Geistes.
Tatsächlich ist der Mensch aber ein vieldimensionales und komplexes Wesen, und Yoga eine Methode, die sich in jeder Übung vieler Ebenen und Möglichkeiten bedient. Ihre Wirkweise zu erklären, benötigt deshalb einen Ansatz, der die Besonderheit eines jeden Menschen ebenso berücksichtigt wie die Vielschichtigkeit der Übungen des Yoga. Es ist der Yoga selbst, der einen solchen Ansatz entwickelt hat und im Yoga Sūtra zur Diskussion stellt. Seine Grundzüge behandelt der folgende Artikel aus der Serie: Wirkungen von Āsana.
Der Bauer durchsticht den Damm – So wirkt Yoga
Wie kann die Wirkung von Āsanas verstanden werden? In anderen Artikeln wurde bereits darauf eingegangen, dass einige der weitverbreiteten Erklärungsversuche zur Wirkweise von Āsana einer tiefergehenden Prüfung nicht standhalten; ein fundierter Austausch über nachvollziehbare Erfahrungen und Beobachtungen wird allzu oft ersetzt durch pseudowissenschaftliche Erklärungen, Versprechungen und mechanistischen Vorstellungen von der Funktion des menschlichen Körpers und Geistes.
Tatsächlich ist der Mensch aber ein vieldimensionales und komplexes Wesen, und Yoga eine Methode, die sich in jeder Übung vieler Ebenen und Möglichkeiten bedient. Ihre Wirkweise zu erklären, benötigt deshalb einen Ansatz, der die Besonderheit eines jeden Menschen ebenso berücksichtigt wie die Vielschichtigkeit der Übungen des Yoga. Es ist der Yoga selbst, der einen solchen Ansatz entwickelt hat und im Yoga Sūtra zur Diskussion stellt. Seine Grundzüge behandelt der folgende Artikel aus der Serie: Wirkungen von Āsana.
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Āsanas wirken – ohne Zweifel
Sie wirken auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichsten Ebenen. Und sie wirken unabhängig davon, wie viel erklärbar von dem ist, was ihre Praxis erreicht. Trotzdem ist das Bedürfnis nach Erklärungen für die Wirkweise von Āsana so alt wie ihr Gebrauch selbst. Gute Gründe für die Suche nach geeigneten Erklärungskonzepten gab und gibt es viele.
Ein besseres Verständnis der Wirkung von Āsanas kann helfen,
eine Grundlage für den intelligenten und wirkungsvollen Gebrauch von Āsana zu schaffen.
unsere Neugierde zu befriedigen: Wie funktioniert es, dass sich aus einer Āsanapraxis ein besseres Lebensgefühl entwickelt? Wie kann aus einer Meditation eine neue Antwort auf eine alte Frage entstehen? Wie wird durch eine Āsanapraxis ein kranker Rücken gesünder?
wesentliche Erfahrungen im täglichen Umgang mit Yogapraxis zu erklären: Wie kommt es zum Beispiel, dass die gleiche Übung bei verschiedenen Menschen so unterschiedlich wirken kann? Wie lassen sich überhaupt die großen individuellen Unterschiede in der Erfahrung mit Yogapraxis erklären?
nicht nur die positiven Wirkungen von Yogapraxis zu erklären: warum können Yogaübungen Menschen auch Schaden zufügen?
die Grenzen von Yogapraxis verständlicher zu machen: Warum ändert sich manchmal so wenig?
auch die Grenzen der Erklärungskonzepte selbst zu reflektieren: Was lässt sich wirklich erklären? Wo fehlen solche Erklärungen (noch)?
praxisbezogen zu denken und zu handeln: Was braucht es, damit ein Üben zu positiven Veränderungen führt? Wie kann die Wirkweise von Yogapraxis beeinflusst werden? Was kann solche Veränderungen behindern oder unmöglich machen?
sich in traditionellen Erklärungsversuchen ebenso zurechtzufinden wie in jenen Erkenntnissen, die uns die moderne Wissenschaft zur Verfügung stellt: Was sind in den alten Texten auch heute noch nützliche Erklärungsversuche? Was ist zu verstehen als Versprechungen, die zu einer Yogapraxis ermuntern sollten? Was sind Konzepte, die ihre Relevanz verloren haben? Was ist Aberglauben? Welche Erklärungen und Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft haben im Zusammenhang mit dem Wirkmechanismus von Yoga eine wirkliche, tiefere Bedeutung?
und einen nachvollziehbaren und von Dogmen freien Umgang mit den Übungen des Yogas zu pflegen. Nicht zu hinterfragende Glaubenssätze sind für eine Erfahrungslehre wie Yoga untauglich.
Im praktischen Umgang mit diesen Ansprüchen bewährt sich auch heute noch ein Erklärungsmodell, das vor über zweitausend Jahren im Yoga selbst entwickelt wurde. Patañjali stellt es im vierten Kapitel des Yoga Sūtra vor. Er bedient sich dabei eines in der indischen Tradition wohlbekannten Bildes: Ein Bauer öffnet einen Damm, das Wasser fließt, die Saat wächst (Abb. 1). Das Bild zeigt den Ausschnitt aus einer Thangka, die im 18. Jahrhundert zur Darstellung der Lebensgeschichte Milarepas in Nordindien entstanden ist.
So einfach dieses Bild erscheint, so tiefgehend ist sein Ansatz, so praktisch und hilfreich die daraus folgenden Konsequenzen. Weshalb es Sinn ergibt, das entsprechende Sūtra im nächsten Kapitel genauer zu betrachten.
Wie verändern sich Menschen?
Patañjali fragt sich zu Beginn des vierten Kapitels, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Mensch sich verändert.
Wie kommt es, dass wir neue Fähigkeiten entwickeln?
Woher kommen diese neuen Fähigkeiten?
Woher kommt der gesündere Rücken, woher der ruhigere Geist, woher die größere Gelassenheit?
Um diese Fragen beantworten zu können, braucht es ein Verständnis dessen, was Patañjali den Wandel, parināma, nennt. Dinge wandeln sich, Menschen wandeln sich. Nichts ist so sicher wie die Tatsache, dass Dinge und Menschen sich stetig verändern.
jatyantara pariṇāmaḥ prakṛti pūrāt
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 2
Etwas verändert sich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Aus einer Knospe wird eine Blüte, ein ruhiger Geist gerät in Aufregung, ein unruhiger Geist findet Ausrichtung. Ein Mensch wird krank, ein Mensch gesundet. Ein Stück Holz verbrennt zu Asche. Jemand lernt Geige spielen …
Bei all diesen Phänomenen, so Patañjali, ist nichts wirklich Neues entstanden. Vielmehr treten bisher verborgene Möglichkeiten und Eigenschaften hervor. Sie erscheinen nur deshalb als neu, weil sie bisher nicht sichtbar waren. Von nichts kommt nichts. Asche aus dem verbrannten Holz ist nicht wirklich neu, sondern nur eine neue Ordnung aus schon vorher Vorhandenem.
Krankheit ist eine immer vorhandene Möglichkeit, in die das menschliche System geraten kann.
Sie ist kein aus dem Nichts oder vom Himmel erschaffener Dämon, sondern eine Verschiebung vorhandener Gleichgewichte. Geigenspiel zu lernen, gründet auf einer vorhandenen Begabung. Vorhandene Ressourcen des Hörens, des Gefühls für Melodie und Harmonie, der motorischen Fähigkeiten der Finger, Hände und Arme werden entwickelt und auf besondere Weise zusammengefügt, nicht aber aus dem Nichts neu erschaffen.
Etwas verändert sich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Entwicklung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Patañjali formuliert diese These hier nicht zum ersten Mal. Vor allem im 3. Kapitel diskutiert das Yoga Sūtra die Bedingungen für Veränderung (Sūtra 3.13 ff). Auch dort wird Veränderung als ein Prozess beschrieben, der zwar von Zeit und äußeren Einflüssen abhängig ist, aber schließlich nichts anderes hervorbringt, als eine doch schon immer vorhandene Möglichkeit, immer vorhandene Eigenschaft. Wenn jemand erst heute ein gutes Herz entwickelt (durch Yoga, durch Erfahrung, durch Zufall), dann war diese Eigenschaft als Möglichkeit schon immer vorhanden. Etwas hinderte sie aber bisher an ihrer Entfaltung. Das gilt natürlich genauso für den Hass, der in jemandem entsteht. Ein Menschenverächter bleibt zur größten Liebe fähig, allerdings auch der Weiseste zu größtem Hass. Nichts ist von der Möglichkeit des Wandels, von parināma ausgenommen.
Wichtig ist Patañjali aber vor allem die gute Botschaft dieses Konzeptes: Wir haben alle positiven Potenziale schon in uns. Wir müssen sie nicht erwerben, sie können nicht erkauft werden. Wenn sie sich nicht zeigen, dann deshalb, weil sie an ihrer Entfaltung gehindert werden. Im Yoga, so eine der folgenreichsten Thesen dort, geht es vor allem anderen darum, diese Hindernisse zu erkennen und zu reduzieren. Gelingt dies, dann werden sich unsere positiven Möglichkeiten durchsetzen.
Viele Yogabücher möchten uns glauben machen, dass die Wirkung von Āsana auf diese Weise beschrieben werden könnte: Etwas verändert sich lediglich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Das Konzept des Yoga Sūtra widerspricht dieser mechanistischen Vorstellung. Wer sich in einem offenen und intensiven Dialog mit Yoga Übenden der Wirklichkeit und Vielfalt der Wirkungen von Āsanapraxis unvoreingenommen aussetzt, wird Patañjalis Modell bestätigt finden. Es lässt sich vereinfacht so darstellen:
Was bewirken Übungen?
Patañjali führt im vierten Kapitel des Yoga Sūtra diese Überlegungen weiter:
Wie müssen wir uns einen Veränderungsprozess vorstellen, wenn er im Rahmen eines Übungssystems wie des Yogas geschieht?
Wie wirkt Yoga?
Welche Rolle spielen seine Übungen?
Welche Rolle diejenigen, die diese Übungen einer Person vermitteln?
Für die Antwort auf diese Fragen benutzt Patañjali das Bild des Bauern, der den Damm öffnet.
Das, was Veränderung erzeugt (nimitta), wirkt nur indirekt (aprayojakam). Die Rolle dieser Kraft ist keine andere als die eines Bauern (kṣetria), der ein Hindernis (varana) beseitigt (bheda).
Im traditionellen indischen Ackerbau sind die Felder in kleine Parzellen aufgeteilt, jede sind rundherum von einem Erdwall umgeben. Alle diese Parzellen grenzen an ein System von Gräben, das mit Wasser geflutet werden kann. Ist die Saat auf einer Parzelle eingebracht, wird der Erdwall mit dem Spaten durchstochen. Das Wasser überflutet das entsprechende Feld und nach einiger Zeit beginnt die Saat zu wachsen.
Die zentrale Botschaft dieses in der indischen Tradition berühmten Bildes:
Jede Aktivität, die den Körper oder Geist eines Menschen beeinflussen will, wirkt niemals direkt.
Sie ist vielmehr der Anstoß für einen Prozess, dessen Entwicklung wesentlich von dem abhängt, was in der „Erde des gewässerten Feldes“ verborgen liegt. Patañjali versteht dieses Modell als allgemeingültiges und bezieht es auf alle Beziehungen von Ursache und Wirkung und es gilt damit auch für das Verständnis von Āsanapraxis.
Für das Verständnis der Wirkung von Āsanas liest sich das Bild des Dämme stechenden Bauers so:
Zuerst ist ein Impuls da, ein Anstoß: Der Damm wird gebrochen. Der Bauer mit seinem Werkzeug, dem Spaten, steht für einen intelligent vollzogenen Eingriff (der Sanskrit-Begriff dafür ist nimitta). Bezogen auf den Yoga bedeutet dies: Ein Āsana wird auf intelligente Weise gelehrt und praktiziert. Nach dem Spatenstich strömt das Wasser und erreicht das Feld. Das bewässerte Feld steht für eine komplexe Struktur, ein besonderes System, den Menschen. Dieses System reagiert nun auf den Impuls, den der Bauer gegeben hat. Die Art und Weise seiner Reaktion hängen von vielen Faktoren ab:
Auf welchen Boden trifft das Wasser?
Auf welche Saat?
Zu wenig Wasser zum Beispiel lässt die Keime verdorren, bei zu viel Wasser dagegen verfault die Saat.
Vor allem: das gleiche Wasser wird auf unterschiedlichen Feldern sehr unterschiedliche Wirkung zeigen.
Das menschliche System reagiert auf eine Āsanapraxis immer in der ihm eigenen Dynamik. Schließlich wächst ein sichtbares, spürbares Ergebnis heran. Ohne den Bauern, der den Damm gestochen hat, wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. Aber was wir nun als Wirkung sehen, hat mit dem Bauern nichts mehr zu tun. Sein Spatenstich ist längst Vergangenheit, kein Bauer mehr weit und breit. Alle Aufmerksamkeit liegt auf dem Feld, und was wir wachsen sehen, sind seine bisher dort schlummernden Möglichkeiten.
Kurz zusammengefasst: Yogapraxis ist ein Impuls, ein intelligent geführter Anstoß, der das System Mensch in Bewegung bringt. Erst in dieser Reaktion entwickelt sich das, was wir schließlich als Wirkung einer Praxis beobachten und erleben.
Wer immer nur auf die Handgriffe des Bauern schaut, wird nie verstehen können, wie aus einem Reiskorn eine Ähre wächst. Wer nur die Āsanas anschaut, wird in ihnen keine Antwort auf die Frage nach ihrer Wirkung finden.
Für das Verständnis von Yogapraxis hat dieses Modell weitreichende Folgen. So gilt es bei der Diskussion von Āsanawirkungen zwei Ebenen voneinander zu unterscheiden:
Die Aktivität des Bauern (unter Nutzung seines Werkzeugs). Wenn wir eine Āsanapraxis oder ein einzelnes Āsana analysieren, können wir noch wenig über seine Wirkung aussagen. Warum? Weil wir dabei nur auf die Arbeit des Bauern schauen, aber nicht auf die spätere Ernte! Was wir an dieser Stelle vielmehr diskutieren können und sollten: Welche Impulse vermag ein Āsana zu setzen? Ein guter Bauer benötigt ein fundiertes Wissen über den richtigen Gebrauch seines Werkzeugs und ein Verständnis jener Zusammenhänge, die bei der Anlage und Bewässerung des Feldes eine Rolle spielen. Welche Impulse das Werkzeug Āsana geben kann, beantwortet sich vorwiegend über die Frage: Welche Anforderungen stellt dieses Āsana, diese Āsanapraxis? Wir werden noch sehen, dass dabei ein umfangreiches Verständnis der möglichen Problembereiche und Risiken von großer Bedeutung ist: Wann fließt zu viel Wasser, wann zu wenig oder zur falschen Zeit …?
Das Wachsen der Feldfrucht (das eigentliche Ergebnis). Die Wirkung von Āsanapraxis ist nach Patañjalis Modell nur zu verstehen im Zusammenhang mit der besonderen Person, die diese Praxis übt. Alles, was wir an einem Menschen während einer Āsanapraxis beobachten (Beweglichkeiten, Streitigkeiten, Stabilität, Instabilität, Asymmetrien usw.); alles, was uns ein Mensch als Erfahrung aus der Praxis eines Āsanas berichtet (Wohlbefinden, Schmerz, Schwierigkeiten, positive Veränderungen usw.) ist ein Stück Beschreibung des Feldes, dessen Saat nun zu wachsen beginnt und schließlich Früchte trägt. Um im Bild zu bleiben: - zum einen wächst das Korn aus sich selbst heraus, ganz ohne sein Zutun, seine Rolle beschränkt sich auf das Setzen der hoffentlich richtigen Impulse. - zum anderen ist die entscheidende Voraussetzung für eine gute Ernte seine Fähigkeit, beim Wachsen des Korns den Zustand des Feldes lesen und verstehen zu können. Wann braucht es wieder Wasser? Fehlt ihm Dünger? Wächst zu viel Unkraut mit? Haben Schädlinge das Korn befallen …?
Āsana: Der Bauer und sein Werkzeug
Beginnen wir mit dem Bauern und seinem Werkzeug: Er setzt einen Impuls, indem er einen Erdwall durchsticht und Wasser zum Fließen bringt.
Āsanas setzen Impulse, indem sie einen Menschen mit bestimmten Anforderungen konfrontieren. Welche Impulse ein Āsana zu geben vermag, lässt sich aus den Anforderungen ablesen, die es stellt. Eine Vorbeuge zum Beispiel fordert eine Dehnung der Körperrückseite. Dieser Impuls wird an die übende Person gegeben. Das unterscheidet die Vorbeuge auch von einer Rückbeuge, die diesen besonderen Impuls nicht geben kann. So stellt jedes Āsana andere Anforderungen. Sie zu verstehen und voneinander unterscheiden zu können, entspricht dem Wissen des Bauern um seine Tätigkeiten auf dem Feld und dem dafür notwendigen und nützlichen Werkzeug.
Bei entsprechender Ausbildung und Erfahrung ist es möglich, ein umfangreiches Verständnis der Anforderungen eines jeden Āsanas zu gewinnen. Damit wissen wir natürlich bisher nicht, wie eine bestimmte Person auf einen besonderen Impuls reagieren wird. Die Dehnung der Körperrückseite, die etwa ein uttānāsana mit gestreckten Beinen verlangt, wird bei der einen die Beweglichkeit vergrößern, bei einer anderen den unteren Rücken überlasten und beim dritten den unteren Rücken entspannen. Ohne den durch das Āsana gesetzten Impuls zu verstehen und ohne zu wissen, welche Anforderungen wir gestellt haben, arbeiten wir unbewusst und ziellos. Es ist, als wären wir ein Bauer, der zwar auf dem Feld hackt und Wasser verteilt, aber weder weiß, wie man einen Spaten richtig hält, noch wozu Wasser nützlich ist.
Die Impulse, die Āsanas setzen, betreffen dabei verschiedene Ebenen einer Person: die des Körpers ebenso wie die des Mentalen, also die Ebene der Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Gefühle.
Während sich die Anforderungen eines Āsanas auf der körperlichen Ebene recht klar umreißen lassen, ist dies auf der Ebene des Mentalen sehr viel schwieriger möglich. Welche Impulse, welche Anforderungen setzt ein Āsana zum Beispiel auf der psychischen Ebene?
Für jemanden mag das Üben eines körperlich einfachen Āsanas wie apanāsana (Abb. 4) mit einem inneren Widerstand verbunden sein. Es zu praktizieren, fordert die Überwindung dieses Widerstands. Es ist damit ein wesentlicher Impuls des apanāsana für diese Person – wie immer die Reaktion darauf und damit die Wirkung ausfallen wird. Für jemanden anderen dagegen mag apanāsana die liebste Übung sein. Der Impuls, den dieses Āsana hier gibt, ist offensichtlich ein ganz anderer. Für die eine wird die Praxis des Sonnengrußes den Impuls, die Anforderung enthalten: Überwinde Deine Trägheit! Für die andere die Anforderung, sich damit auseinanderzusetzen, dass der Übungsablauf heute sehr langweilig empfunden wird.
Was auf der körperlichen Ebene als Impuls und Anforderung einfach beschreibbar ist, verschließt sich auf der Ebene des Mentalen einer eindeutigen Zuordnung.
Auf der körperlichen Ebene fordert etwa die Position von vīrabhadrāsana (Abb. 5) für jede Übende ohne Frage eine Dehnung und Weitung des Brustbereichs. Sie setzt keinen Impuls, diesen Bereich etwa zusammenzuziehen oder zu krümmen. Welchen Impuls sie auf der Ebene der Gefühle setzt, ist sehr viel weniger klar zu definieren. Auch wenn eine solche Assoziation vielleicht nahe liegen mag: Es widerspricht zum Beispiel aller Erfahrung, dass diese Haltung auf die gleiche eindeutige Weise so etwas wie eine „innere Öffnung“ bewirkt. Ein Mensch kann dieses Āsana jahrelang regelmäßig und intensiv üben und trotzdem bleibt er seinen Mitmenschen gegenüber so verschlossen wie am ersten Tag der Praxis. Statt „Öffnung“ verbindet jemand mit dieser Haltung vielleicht hauptsächlich das Gefühl großer Stabilität. Und wieder jemand anderes wird sich von der dafür nötigen Spannung emotional positiv angesprochen fühlen.
Natürlich erleben Yogapraktizierende immer wieder, dass ihnen beim Üben wirklich das Herz aufgeht, ohne dass ihnen dieses Gefühl gut gemeint eingeredet wurde. Diese Wirkung ist aber kaum einem besonderen Āsana zuzuschreiben, sondern der Übungssituation insgesamt. Wer sich von seinen TeilnehmerInnen aber einmal ganz unbefangen das innere Fühlen und emotionale Erleben bei der Praxis eines bestimmten Āsana erzählen lässt, wird vor allem eines lernen:
Die dabei ausgelösten Empfindungen könnten bei den verschiedenen TeilnehmerInnen vielfältiger, unerwarteter und veränderlicher kaum sein.
Das ist kein Grund zur Verunsicherung. Vielmehr ist die Erkenntnis dieser Vielfalt eine Aufforderung, sich auch noch nach dem Durchstechen des Damms dafür zu interessieren, was auf dem gewässerten Feld heranwächst. Nur so kann gelernt werden, mit den unterschiedlichsten und auf dieser Ebene kaum vorhersehbaren Wirkungen von Āsanapraxis verantwortungsvoll umzugehen.
Es bleibt festzuhalten: Von welchem Charakter ein Āsana „an sich“ ist (ohne dass wir eine bestimmte Person im Auge haben, die es üben wird), lässt sich also vorwiegend auf der körperlichen Ebene befriedigend beschreiben. Āsanas auf diese Weise verstehen zu lernen, ist die wichtigste Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit diesem Werkzeug.
Welche Anforderungen stellt dieses Āsana?
Wie kann ich erkennen, dass jemand an einer seiner Anforderungen zu scheitern droht?
Welche dieser Anforderungen birgt häufig ein Risiko in sich?
Aus diesem Verständnis der Anforderungen entwickelt sich ein Wissen um die Impulse, die Anstöße, die ein bestimmtes Āsana zu geben imstande sind. Damit ist das Fundament gelegt, ein geschickter Bauer zu werden. Patañjalis Bild lehrt uns aber, dass damit nur der eine Teil der Wirkweise von Āsana verstanden ist. Was schließlich auf einem Feld heranwächst, erklärt sich nicht aus dem Bemühen des Bauern, sondern aus den Eigenschaften, Potenzialen und Strukturen dieses besonderen Feldes.
System Mensch: Das Feld
Wie viele Menschen, die ihre Arbeit lieben und wertschätzen, neigen auch YogalehrerInnen dazu, ihre eigene Rolle für die Wirkung einer Āsanapraxis zu überschätzen.
Stellen wir uns folgende Situation vor: Wir treffen auf einem Sonnenblumenfeld einen Mann, der eine der Sonnenblumen an der Blüte gepackt hat und daran kräftig zieht. „Was machen Sie da?“, fragen wir. „Ich sorge dafür, dass diese Sonnenblume schnell und hoch wächst!“, antwortet er. Weil wir seiner Erklärung nicht recht folgen können, setzen wir nach: „Sie ziehen an der Blume, weil sie dadurch größer werden soll?“ „Genau! Ich ziehe sie nach oben und sie wächst schneller nach oben!“ Kein Zweifel, unser Mann hat nicht verstanden, wie Blumen wachsen.
Patañjalis Bauer ist da klüger. Auf das Wachsen einer Pflanze können wir Einfluss nehmen, indem wir für ausreichend Wasser sorgen. Indem wir Unkraut jäten, indem wir Dünger aufbringen. Und das alles zur rechten Zeit und in rechtem Maß. Auf einem Sonnenblumenfeld wächst kein Reis. Auf Sandboden werden gute Kartoffeln, aber keine Rhododendron gedeihen. Patañjalis Modell lehrt uns in diesem Sinne ganz besonders Bescheidenheit. Nicht der Bauer lässt das Korn wachsen, sondern es wächst aus sich selbst heraus.
Die einzige Aufgabe des Bauern ist es, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die dieses Wachstum behindern könnten: Es darf nicht zu trocken werden, nicht zu nass, das Unkraut muss beseitigt werden, manchmal braucht es Dünger.
Die Arbeit einer Yogalehrerin, eines Yogalehrers gleicht der unseres Bauern. Beim Unterrichten von Yoga ist es deshalb die wesentliche Aufgabe, Hindernisse aus dem Weg zu räumen:
die Āsanas so zu lehren, dass sie keinen Schaden zufügen, dass mögliche Risiken reduziert werden.
es muss dafür gesorgt sein, dass in einer Praxis nicht zu viel und nicht zu wenig gefordert wird.
Fehler beim Üben werden korrigiert.
Übungen müssen interessant bleiben, immer neu ansprechen und bisweilen braucht es für den Schritt hin zum Üben auch Worte der Ermutigung.
Was Wirkungen entstehen lässt, ist eine Kraft, die dem übenden Menschen innewohnt, nicht das Āsana und schon gar nicht der oder die Unterrichtende.
Ein Āsana – unterschiedliche Wirkungen
Neben dem Blick auf die doch bescheidene Rolle der Yogalehrerin, des Yogalehrers, ist Patañjalis Modell vor allem aber ein besonderer Ansatz zur Erklärung der Wirkweise von Yogapraxis und damit eben auch von Āsana:
Ihre Wirkung erklärt sich wesentlich aus der Dynamik des Gesamtsystems jenes Menschen, auf den der Impuls einer Āsanapraxis trifft. Eine Vorbeuge wie paścimatānāsana (Abb. 6) setzt körperlich einen eindeutigen Impuls: Unter anderem als Dehnung der Rückseite des Körpers, als Betonung der Ausatembewegung, als starke Beugung in den Hüften.
Für einen ersten Menschen kann dieses Āsana vor allem so wirken:
die Dehnung der rückwärtigen Beinmuskulatur wird verbessert (weil die Beine so steif sind, werden vor allem sie in der Dehnung erreicht, der Rücken dagegen kaum)
Vertiefung des Atems insgesamt
der Nacken reagiert auf den starken Zug an den Beinen mit Verspannung
innere Ruhe stellt sich ein
Bei jemand Zweiten kann der gleiche Impuls sich so äußern:
der Rücken wird belebt, der untere Rücken entspannt sich
auch hier vertieft sich der Atem insgesamt
in den Hüften entwickelt sich ein leichter Schmerz
die Verdauung wird angeregt
es stellt sich keine innere Ruhe ein, im Gegenteil, der Übende fühlt sich eher aufgekratzt
Eine Dritte wird vor allem folgende Wirkungen erfahren:
der untere Rücken entwickelt eine zunehmende Spannung
eine große Unzufriedenheit beherrscht den Geist: Warum kann ich meinen Körper nicht so belasten wie alle anderen hier im Raum?
Und der vierte Gruppenteilnehmer schließlich wird sich vielleicht ganz in einem ungewohnten, aber außerordentlich angenehmen und beglückenden Atemerleben wiederfinden.
Diese unterschiedlichen Wirkungen sind nur dann überraschend, wenn wir glauben, jedes Feld wäre wie das andere.
Kein Mensch gleicht dem anderen, ein gleicher Impuls wird unterschiedliche Wirkungen hervorrufen.
Nehmen wir das sehr einfache Beispiel apanāsana (Abb. 4). Das Heranziehen der Beine führt bei vielen Menschen zu einer Bewegung des Beckens und dadurch dehnt sich der untere Rücken. Wegen dieser Wirkung (Dehnung und dadurch Entspannung des unteren Rückens) ist es als Ausgleichsübung nach fordernden Rückbeugen so gut geeignet. Aber diese Wirkung gilt eben nicht für alle Menschen.
Bei Übenden, die in den Hüften sehr flexibel sind, bewegen sich im apanāsana allein die Hüftgelenke. Das Becken bleibt davon unberührt, der untere Rücken erfährt keinerlei Dehnung. Der Impuls apanāsana führt bei einem solchen Menschen einfach nicht zu der Wirkung: Rückendehnung und Entspannung. Der Damm wurde geöffnet, das Wasser ist geflossen, aber die erwartete Frucht nicht gewachsen.
Diese Situation muss uns aber auch nicht hilflos machen gegenüber einer scheinbar unüberschaubaren und unberechenbaren Vielzahl von Wirkungsmöglichkeiten. Im Gegenteil. Wir beobachten, dass apanāsana nicht die gewünschte Wirkung zeigt und haben dabei gleichzeitig das System, auf das dieser Impuls getroffen ist, besser verstanden. Dieses Verständnis erlaubt uns jetzt jenes Āsana, jenen Spatenstich zu finden, der auch diesem besonderen Feld diese Wirkung entlockt: in unserem Fall zum Beispiel cakravākāsana, einer Vorbeuge aus dem Vierfüßlerstand. Jedes Āsana-Üben öffnet das Buch, das uns vom Inneren eines Feldes berichtet.
Es gehört zu den schönsten Seiten des Yogaunterrichtens, so viel über die Besonderheiten und Vielfalt von Menschen lernen und mit diesem Wissen Nützliches in Gang zu setzen: Yogapraxis so zu lehren, dass sie einen Menschen angemessen erreichen kann.
In dem Moment, in dem jemand eine Übung praktiziert, wird etwas von den Eigenschaften des bewässerten Feldes preisgegeben. Jetzt kann gesehen werden, wie sich der Rücken unter der gegebenen Vorbeuge formt, jetzt kann berichtet werden, in welche Richtung ein vīrabhadrāsana gefühlt wird. Jede Wirkung, die bei einer Yogapraxis beobachtet oder berichtet wird, lehrt besseres Verständnis.
Dieses Verstehen macht es schließlich möglich, Wirkungen vorherzusehen: Wenn diese Person schon bei einer einfachen Vorbeuge vom Stuhl aus Spannung im unteren Rücken spürt, wird sich diese Wirkung beim Vorbeugen aus dem Stand sicher intensivieren. Um die Impulse zu wissen, die ein Āsana zu geben vermag, die Reaktionen darauf zu beobachten und die Wirkweise bei einem besonderen Menschen zu verstehen; daraus können die richtigen Schlüsse gezogen werden, die sich auf zukünftige Wirkungen beziehen. Das gilt für positive Wirkungen ebenso wie für schädliche und deshalb zu vermeidende.
Dieser Prozess ist gerade auch im Rahmen eines Gruppenunterrichts möglich.
Es bedarf dafür allerdings einer wesentlichen Voraussetzung: Der oder die Unterrichtende muss sich als Bauer oder Bäuerin verstehen und nicht als Schöpfer der Pflanzen. Nicht das Dozieren einer Lehre, einer Übung oder gar einer bestimmten Weltsicht steht im Mittelpunkt. Die Haltung im Unterrichten muss vielmehr die von Lernenden sein. Diese Bereitschaft, lernend zu bleiben, offen zu sein für vielleicht Unerwartetes, ist die Grundlage für ein Verstehen der Wirkung von Yogapraxis. Und ist damit auch die Grundlage eines guten Yogaunterrichts. ▼
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Āsanas wirken – ohne Zweifel
Sie wirken auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichsten Ebenen. Und sie wirken unabhängig davon, wie viel erklärbar von dem ist, was ihre Praxis erreicht. Trotzdem ist das Bedürfnis nach Erklärungen für die Wirkweise von Āsana so alt wie ihr Gebrauch selbst. Gute Gründe für die Suche nach geeigneten Erklärungskonzepten gab und gibt es viele.
Ein besseres Verständnis der Wirkung von Āsanas kann helfen,
eine Grundlage für den intelligenten und wirkungsvollen Gebrauch von Āsana zu schaffen.
unsere Neugierde zu befriedigen: Wie funktioniert es, dass sich aus einer Āsanapraxis ein besseres Lebensgefühl entwickelt? Wie kann aus einer Meditation eine neue Antwort auf eine alte Frage entstehen? Wie wird durch eine Āsanapraxis ein kranker Rücken gesünder?
wesentliche Erfahrungen im täglichen Umgang mit Yogapraxis zu erklären: Wie kommt es zum Beispiel, dass die gleiche Übung bei verschiedenen Menschen so unterschiedlich wirken kann? Wie lassen sich überhaupt die großen individuellen Unterschiede in der Erfahrung mit Yogapraxis erklären?
nicht nur die positiven Wirkungen von Yogapraxis zu erklären: warum können Yogaübungen Menschen auch Schaden zufügen?
die Grenzen von Yogapraxis verständlicher zu machen: Warum ändert sich manchmal so wenig?
auch die Grenzen der Erklärungskonzepte selbst zu reflektieren: Was lässt sich wirklich erklären? Wo fehlen solche Erklärungen (noch)?
praxisbezogen zu denken und zu handeln: Was braucht es, damit ein Üben zu positiven Veränderungen führt? Wie kann die Wirkweise von Yogapraxis beeinflusst werden? Was kann solche Veränderungen behindern oder unmöglich machen?
sich in traditionellen Erklärungsversuchen ebenso zurechtzufinden wie in jenen Erkenntnissen, die uns die moderne Wissenschaft zur Verfügung stellt: Was sind in den alten Texten auch heute noch nützliche Erklärungsversuche? Was ist zu verstehen als Versprechungen, die zu einer Yogapraxis ermuntern sollten? Was sind Konzepte, die ihre Relevanz verloren haben? Was ist Aberglauben? Welche Erklärungen und Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft haben im Zusammenhang mit dem Wirkmechanismus von Yoga eine wirkliche, tiefere Bedeutung?
und einen nachvollziehbaren und von Dogmen freien Umgang mit den Übungen des Yogas zu pflegen. Nicht zu hinterfragende Glaubenssätze sind für eine Erfahrungslehre wie Yoga untauglich.
Im praktischen Umgang mit diesen Ansprüchen bewährt sich auch heute noch ein Erklärungsmodell, das vor über zweitausend Jahren im Yoga selbst entwickelt wurde. Patañjali stellt es im vierten Kapitel des Yoga Sūtra vor. Er bedient sich dabei eines in der indischen Tradition wohlbekannten Bildes: Ein Bauer öffnet einen Damm, das Wasser fließt, die Saat wächst (Abb. 1). Das Bild zeigt den Ausschnitt aus einer Thangka, die im 18. Jahrhundert zur Darstellung der Lebensgeschichte Milarepas in Nordindien entstanden ist.
So einfach dieses Bild erscheint, so tiefgehend ist sein Ansatz, so praktisch und hilfreich die daraus folgenden Konsequenzen. Weshalb es Sinn ergibt, das entsprechende Sūtra im nächsten Kapitel genauer zu betrachten.
Wie verändern sich Menschen?
Patañjali fragt sich zu Beginn des vierten Kapitels, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Mensch sich verändert.
Wie kommt es, dass wir neue Fähigkeiten entwickeln?
Woher kommen diese neuen Fähigkeiten?
Woher kommt der gesündere Rücken, woher der ruhigere Geist, woher die größere Gelassenheit?
Um diese Fragen beantworten zu können, braucht es ein Verständnis dessen, was Patañjali den Wandel, parināma, nennt. Dinge wandeln sich, Menschen wandeln sich. Nichts ist so sicher wie die Tatsache, dass Dinge und Menschen sich stetig verändern.
jatyantara pariṇāmaḥ prakṛti pūrāt
Yoga Sūtra, 4. Kapitel - Sūtra 2
Etwas verändert sich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Aus einer Knospe wird eine Blüte, ein ruhiger Geist gerät in Aufregung, ein unruhiger Geist findet Ausrichtung. Ein Mensch wird krank, ein Mensch gesundet. Ein Stück Holz verbrennt zu Asche. Jemand lernt Geige spielen …
Bei all diesen Phänomenen, so Patañjali, ist nichts wirklich Neues entstanden. Vielmehr treten bisher verborgene Möglichkeiten und Eigenschaften hervor. Sie erscheinen nur deshalb als neu, weil sie bisher nicht sichtbar waren. Von nichts kommt nichts. Asche aus dem verbrannten Holz ist nicht wirklich neu, sondern nur eine neue Ordnung aus schon vorher Vorhandenem.
Krankheit ist eine immer vorhandene Möglichkeit, in die das menschliche System geraten kann.
Sie ist kein aus dem Nichts oder vom Himmel erschaffener Dämon, sondern eine Verschiebung vorhandener Gleichgewichte. Geigenspiel zu lernen, gründet auf einer vorhandenen Begabung. Vorhandene Ressourcen des Hörens, des Gefühls für Melodie und Harmonie, der motorischen Fähigkeiten der Finger, Hände und Arme werden entwickelt und auf besondere Weise zusammengefügt, nicht aber aus dem Nichts neu erschaffen.
Etwas verändert sich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Entwicklung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Patañjali formuliert diese These hier nicht zum ersten Mal. Vor allem im 3. Kapitel diskutiert das Yoga Sūtra die Bedingungen für Veränderung (Sūtra 3.13 ff). Auch dort wird Veränderung als ein Prozess beschrieben, der zwar von Zeit und äußeren Einflüssen abhängig ist, aber schließlich nichts anderes hervorbringt, als eine doch schon immer vorhandene Möglichkeit, immer vorhandene Eigenschaft. Wenn jemand erst heute ein gutes Herz entwickelt (durch Yoga, durch Erfahrung, durch Zufall), dann war diese Eigenschaft als Möglichkeit schon immer vorhanden. Etwas hinderte sie aber bisher an ihrer Entfaltung. Das gilt natürlich genauso für den Hass, der in jemandem entsteht. Ein Menschenverächter bleibt zur größten Liebe fähig, allerdings auch der Weiseste zu größtem Hass. Nichts ist von der Möglichkeit des Wandels, von parināma ausgenommen.
Wichtig ist Patañjali aber vor allem die gute Botschaft dieses Konzeptes: Wir haben alle positiven Potenziale schon in uns. Wir müssen sie nicht erwerben, sie können nicht erkauft werden. Wenn sie sich nicht zeigen, dann deshalb, weil sie an ihrer Entfaltung gehindert werden. Im Yoga, so eine der folgenreichsten Thesen dort, geht es vor allem anderen darum, diese Hindernisse zu erkennen und zu reduzieren. Gelingt dies, dann werden sich unsere positiven Möglichkeiten durchsetzen.
Viele Yogabücher möchten uns glauben machen, dass die Wirkung von Āsana auf diese Weise beschrieben werden könnte: Etwas verändert sich lediglich aufgrund einer bloßen Verschiebung, einer Neuordnung seiner inneren Eigenschaften.
Das Konzept des Yoga Sūtra widerspricht dieser mechanistischen Vorstellung. Wer sich in einem offenen und intensiven Dialog mit Yoga Übenden der Wirklichkeit und Vielfalt der Wirkungen von Āsanapraxis unvoreingenommen aussetzt, wird Patañjalis Modell bestätigt finden. Es lässt sich vereinfacht so darstellen:
Was bewirken Übungen?
Patañjali führt im vierten Kapitel des Yoga Sūtra diese Überlegungen weiter:
Wie müssen wir uns einen Veränderungsprozess vorstellen, wenn er im Rahmen eines Übungssystems wie des Yogas geschieht?
Wie wirkt Yoga?
Welche Rolle spielen seine Übungen?
Welche Rolle diejenigen, die diese Übungen einer Person vermitteln?
Für die Antwort auf diese Fragen benutzt Patañjali das Bild des Bauern, der den Damm öffnet.
Das, was Veränderung erzeugt (nimitta), wirkt nur indirekt (aprayojakam). Die Rolle dieser Kraft ist keine andere als die eines Bauern (kṣetria), der ein Hindernis (varana) beseitigt (bheda).
Im traditionellen indischen Ackerbau sind die Felder in kleine Parzellen aufgeteilt, jede sind rundherum von einem Erdwall umgeben. Alle diese Parzellen grenzen an ein System von Gräben, das mit Wasser geflutet werden kann. Ist die Saat auf einer Parzelle eingebracht, wird der Erdwall mit dem Spaten durchstochen. Das Wasser überflutet das entsprechende Feld und nach einiger Zeit beginnt die Saat zu wachsen.
Die zentrale Botschaft dieses in der indischen Tradition berühmten Bildes:
Jede Aktivität, die den Körper oder Geist eines Menschen beeinflussen will, wirkt niemals direkt.
Sie ist vielmehr der Anstoß für einen Prozess, dessen Entwicklung wesentlich von dem abhängt, was in der „Erde des gewässerten Feldes“ verborgen liegt. Patañjali versteht dieses Modell als allgemeingültiges und bezieht es auf alle Beziehungen von Ursache und Wirkung und es gilt damit auch für das Verständnis von Āsanapraxis.
Für das Verständnis der Wirkung von Āsanas liest sich das Bild des Dämme stechenden Bauers so:
Zuerst ist ein Impuls da, ein Anstoß: Der Damm wird gebrochen. Der Bauer mit seinem Werkzeug, dem Spaten, steht für einen intelligent vollzogenen Eingriff (der Sanskrit-Begriff dafür ist nimitta). Bezogen auf den Yoga bedeutet dies: Ein Āsana wird auf intelligente Weise gelehrt und praktiziert. Nach dem Spatenstich strömt das Wasser und erreicht das Feld. Das bewässerte Feld steht für eine komplexe Struktur, ein besonderes System, den Menschen. Dieses System reagiert nun auf den Impuls, den der Bauer gegeben hat. Die Art und Weise seiner Reaktion hängen von vielen Faktoren ab:
Auf welchen Boden trifft das Wasser?
Auf welche Saat?
Zu wenig Wasser zum Beispiel lässt die Keime verdorren, bei zu viel Wasser dagegen verfault die Saat.
Vor allem: das gleiche Wasser wird auf unterschiedlichen Feldern sehr unterschiedliche Wirkung zeigen.
Das menschliche System reagiert auf eine Āsanapraxis immer in der ihm eigenen Dynamik. Schließlich wächst ein sichtbares, spürbares Ergebnis heran. Ohne den Bauern, der den Damm gestochen hat, wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. Aber was wir nun als Wirkung sehen, hat mit dem Bauern nichts mehr zu tun. Sein Spatenstich ist längst Vergangenheit, kein Bauer mehr weit und breit. Alle Aufmerksamkeit liegt auf dem Feld, und was wir wachsen sehen, sind seine bisher dort schlummernden Möglichkeiten.
Kurz zusammengefasst: Yogapraxis ist ein Impuls, ein intelligent geführter Anstoß, der das System Mensch in Bewegung bringt. Erst in dieser Reaktion entwickelt sich das, was wir schließlich als Wirkung einer Praxis beobachten und erleben.
Wer immer nur auf die Handgriffe des Bauern schaut, wird nie verstehen können, wie aus einem Reiskorn eine Ähre wächst. Wer nur die Āsanas anschaut, wird in ihnen keine Antwort auf die Frage nach ihrer Wirkung finden.
Für das Verständnis von Yogapraxis hat dieses Modell weitreichende Folgen. So gilt es bei der Diskussion von Āsanawirkungen zwei Ebenen voneinander zu unterscheiden:
Die Aktivität des Bauern (unter Nutzung seines Werkzeugs). Wenn wir eine Āsanapraxis oder ein einzelnes Āsana analysieren, können wir noch wenig über seine Wirkung aussagen. Warum? Weil wir dabei nur auf die Arbeit des Bauern schauen, aber nicht auf die spätere Ernte! Was wir an dieser Stelle vielmehr diskutieren können und sollten: Welche Impulse vermag ein Āsana zu setzen? Ein guter Bauer benötigt ein fundiertes Wissen über den richtigen Gebrauch seines Werkzeugs und ein Verständnis jener Zusammenhänge, die bei der Anlage und Bewässerung des Feldes eine Rolle spielen. Welche Impulse das Werkzeug Āsana geben kann, beantwortet sich vorwiegend über die Frage: Welche Anforderungen stellt dieses Āsana, diese Āsanapraxis? Wir werden noch sehen, dass dabei ein umfangreiches Verständnis der möglichen Problembereiche und Risiken von großer Bedeutung ist: Wann fließt zu viel Wasser, wann zu wenig oder zur falschen Zeit …?
Das Wachsen der Feldfrucht (das eigentliche Ergebnis). Die Wirkung von Āsanapraxis ist nach Patañjalis Modell nur zu verstehen im Zusammenhang mit der besonderen Person, die diese Praxis übt. Alles, was wir an einem Menschen während einer Āsanapraxis beobachten (Beweglichkeiten, Streitigkeiten, Stabilität, Instabilität, Asymmetrien usw.); alles, was uns ein Mensch als Erfahrung aus der Praxis eines Āsanas berichtet (Wohlbefinden, Schmerz, Schwierigkeiten, positive Veränderungen usw.) ist ein Stück Beschreibung des Feldes, dessen Saat nun zu wachsen beginnt und schließlich Früchte trägt. Um im Bild zu bleiben: - zum einen wächst das Korn aus sich selbst heraus, ganz ohne sein Zutun, seine Rolle beschränkt sich auf das Setzen der hoffentlich richtigen Impulse. - zum anderen ist die entscheidende Voraussetzung für eine gute Ernte seine Fähigkeit, beim Wachsen des Korns den Zustand des Feldes lesen und verstehen zu können. Wann braucht es wieder Wasser? Fehlt ihm Dünger? Wächst zu viel Unkraut mit? Haben Schädlinge das Korn befallen …?
Āsana: Der Bauer und sein Werkzeug
Beginnen wir mit dem Bauern und seinem Werkzeug: Er setzt einen Impuls, indem er einen Erdwall durchsticht und Wasser zum Fließen bringt.
Āsanas setzen Impulse, indem sie einen Menschen mit bestimmten Anforderungen konfrontieren. Welche Impulse ein Āsana zu geben vermag, lässt sich aus den Anforderungen ablesen, die es stellt. Eine Vorbeuge zum Beispiel fordert eine Dehnung der Körperrückseite. Dieser Impuls wird an die übende Person gegeben. Das unterscheidet die Vorbeuge auch von einer Rückbeuge, die diesen besonderen Impuls nicht geben kann. So stellt jedes Āsana andere Anforderungen. Sie zu verstehen und voneinander unterscheiden zu können, entspricht dem Wissen des Bauern um seine Tätigkeiten auf dem Feld und dem dafür notwendigen und nützlichen Werkzeug.
Bei entsprechender Ausbildung und Erfahrung ist es möglich, ein umfangreiches Verständnis der Anforderungen eines jeden Āsanas zu gewinnen. Damit wissen wir natürlich bisher nicht, wie eine bestimmte Person auf einen besonderen Impuls reagieren wird. Die Dehnung der Körperrückseite, die etwa ein uttānāsana mit gestreckten Beinen verlangt, wird bei der einen die Beweglichkeit vergrößern, bei einer anderen den unteren Rücken überlasten und beim dritten den unteren Rücken entspannen. Ohne den durch das Āsana gesetzten Impuls zu verstehen und ohne zu wissen, welche Anforderungen wir gestellt haben, arbeiten wir unbewusst und ziellos. Es ist, als wären wir ein Bauer, der zwar auf dem Feld hackt und Wasser verteilt, aber weder weiß, wie man einen Spaten richtig hält, noch wozu Wasser nützlich ist.
Die Impulse, die Āsanas setzen, betreffen dabei verschiedene Ebenen einer Person: die des Körpers ebenso wie die des Mentalen, also die Ebene der Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Gefühle.
Während sich die Anforderungen eines Āsanas auf der körperlichen Ebene recht klar umreißen lassen, ist dies auf der Ebene des Mentalen sehr viel schwieriger möglich. Welche Impulse, welche Anforderungen setzt ein Āsana zum Beispiel auf der psychischen Ebene?
Für jemanden mag das Üben eines körperlich einfachen Āsanas wie apanāsana (Abb. 4) mit einem inneren Widerstand verbunden sein. Es zu praktizieren, fordert die Überwindung dieses Widerstands. Es ist damit ein wesentlicher Impuls des apanāsana für diese Person – wie immer die Reaktion darauf und damit die Wirkung ausfallen wird. Für jemanden anderen dagegen mag apanāsana die liebste Übung sein. Der Impuls, den dieses Āsana hier gibt, ist offensichtlich ein ganz anderer. Für die eine wird die Praxis des Sonnengrußes den Impuls, die Anforderung enthalten: Überwinde Deine Trägheit! Für die andere die Anforderung, sich damit auseinanderzusetzen, dass der Übungsablauf heute sehr langweilig empfunden wird.
Was auf der körperlichen Ebene als Impuls und Anforderung einfach beschreibbar ist, verschließt sich auf der Ebene des Mentalen einer eindeutigen Zuordnung.
Auf der körperlichen Ebene fordert etwa die Position von vīrabhadrāsana (Abb. 5) für jede Übende ohne Frage eine Dehnung und Weitung des Brustbereichs. Sie setzt keinen Impuls, diesen Bereich etwa zusammenzuziehen oder zu krümmen. Welchen Impuls sie auf der Ebene der Gefühle setzt, ist sehr viel weniger klar zu definieren. Auch wenn eine solche Assoziation vielleicht nahe liegen mag: Es widerspricht zum Beispiel aller Erfahrung, dass diese Haltung auf die gleiche eindeutige Weise so etwas wie eine „innere Öffnung“ bewirkt. Ein Mensch kann dieses Āsana jahrelang regelmäßig und intensiv üben und trotzdem bleibt er seinen Mitmenschen gegenüber so verschlossen wie am ersten Tag der Praxis. Statt „Öffnung“ verbindet jemand mit dieser Haltung vielleicht hauptsächlich das Gefühl großer Stabilität. Und wieder jemand anderes wird sich von der dafür nötigen Spannung emotional positiv angesprochen fühlen.
Natürlich erleben Yogapraktizierende immer wieder, dass ihnen beim Üben wirklich das Herz aufgeht, ohne dass ihnen dieses Gefühl gut gemeint eingeredet wurde. Diese Wirkung ist aber kaum einem besonderen Āsana zuzuschreiben, sondern der Übungssituation insgesamt. Wer sich von seinen TeilnehmerInnen aber einmal ganz unbefangen das innere Fühlen und emotionale Erleben bei der Praxis eines bestimmten Āsana erzählen lässt, wird vor allem eines lernen:
Die dabei ausgelösten Empfindungen könnten bei den verschiedenen TeilnehmerInnen vielfältiger, unerwarteter und veränderlicher kaum sein.
Das ist kein Grund zur Verunsicherung. Vielmehr ist die Erkenntnis dieser Vielfalt eine Aufforderung, sich auch noch nach dem Durchstechen des Damms dafür zu interessieren, was auf dem gewässerten Feld heranwächst. Nur so kann gelernt werden, mit den unterschiedlichsten und auf dieser Ebene kaum vorhersehbaren Wirkungen von Āsanapraxis verantwortungsvoll umzugehen.
Es bleibt festzuhalten: Von welchem Charakter ein Āsana „an sich“ ist (ohne dass wir eine bestimmte Person im Auge haben, die es üben wird), lässt sich also vorwiegend auf der körperlichen Ebene befriedigend beschreiben. Āsanas auf diese Weise verstehen zu lernen, ist die wichtigste Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit diesem Werkzeug.
Welche Anforderungen stellt dieses Āsana?
Wie kann ich erkennen, dass jemand an einer seiner Anforderungen zu scheitern droht?
Welche dieser Anforderungen birgt häufig ein Risiko in sich?
Aus diesem Verständnis der Anforderungen entwickelt sich ein Wissen um die Impulse, die Anstöße, die ein bestimmtes Āsana zu geben imstande sind. Damit ist das Fundament gelegt, ein geschickter Bauer zu werden. Patañjalis Bild lehrt uns aber, dass damit nur der eine Teil der Wirkweise von Āsana verstanden ist. Was schließlich auf einem Feld heranwächst, erklärt sich nicht aus dem Bemühen des Bauern, sondern aus den Eigenschaften, Potenzialen und Strukturen dieses besonderen Feldes.
System Mensch: Das Feld
Wie viele Menschen, die ihre Arbeit lieben und wertschätzen, neigen auch YogalehrerInnen dazu, ihre eigene Rolle für die Wirkung einer Āsanapraxis zu überschätzen.
Stellen wir uns folgende Situation vor: Wir treffen auf einem Sonnenblumenfeld einen Mann, der eine der Sonnenblumen an der Blüte gepackt hat und daran kräftig zieht. „Was machen Sie da?“, fragen wir. „Ich sorge dafür, dass diese Sonnenblume schnell und hoch wächst!“, antwortet er. Weil wir seiner Erklärung nicht recht folgen können, setzen wir nach: „Sie ziehen an der Blume, weil sie dadurch größer werden soll?“ „Genau! Ich ziehe sie nach oben und sie wächst schneller nach oben!“ Kein Zweifel, unser Mann hat nicht verstanden, wie Blumen wachsen.
Patañjalis Bauer ist da klüger. Auf das Wachsen einer Pflanze können wir Einfluss nehmen, indem wir für ausreichend Wasser sorgen. Indem wir Unkraut jäten, indem wir Dünger aufbringen. Und das alles zur rechten Zeit und in rechtem Maß. Auf einem Sonnenblumenfeld wächst kein Reis. Auf Sandboden werden gute Kartoffeln, aber keine Rhododendron gedeihen. Patañjalis Modell lehrt uns in diesem Sinne ganz besonders Bescheidenheit. Nicht der Bauer lässt das Korn wachsen, sondern es wächst aus sich selbst heraus.
Die einzige Aufgabe des Bauern ist es, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die dieses Wachstum behindern könnten: Es darf nicht zu trocken werden, nicht zu nass, das Unkraut muss beseitigt werden, manchmal braucht es Dünger.
Die Arbeit einer Yogalehrerin, eines Yogalehrers gleicht der unseres Bauern. Beim Unterrichten von Yoga ist es deshalb die wesentliche Aufgabe, Hindernisse aus dem Weg zu räumen:
die Āsanas so zu lehren, dass sie keinen Schaden zufügen, dass mögliche Risiken reduziert werden.
es muss dafür gesorgt sein, dass in einer Praxis nicht zu viel und nicht zu wenig gefordert wird.
Fehler beim Üben werden korrigiert.
Übungen müssen interessant bleiben, immer neu ansprechen und bisweilen braucht es für den Schritt hin zum Üben auch Worte der Ermutigung.
Was Wirkungen entstehen lässt, ist eine Kraft, die dem übenden Menschen innewohnt, nicht das Āsana und schon gar nicht der oder die Unterrichtende.
Ein Āsana – unterschiedliche Wirkungen
Neben dem Blick auf die doch bescheidene Rolle der Yogalehrerin, des Yogalehrers, ist Patañjalis Modell vor allem aber ein besonderer Ansatz zur Erklärung der Wirkweise von Yogapraxis und damit eben auch von Āsana:
Ihre Wirkung erklärt sich wesentlich aus der Dynamik des Gesamtsystems jenes Menschen, auf den der Impuls einer Āsanapraxis trifft. Eine Vorbeuge wie paścimatānāsana (Abb. 6) setzt körperlich einen eindeutigen Impuls: Unter anderem als Dehnung der Rückseite des Körpers, als Betonung der Ausatembewegung, als starke Beugung in den Hüften.
Für einen ersten Menschen kann dieses Āsana vor allem so wirken:
die Dehnung der rückwärtigen Beinmuskulatur wird verbessert (weil die Beine so steif sind, werden vor allem sie in der Dehnung erreicht, der Rücken dagegen kaum)
Vertiefung des Atems insgesamt
der Nacken reagiert auf den starken Zug an den Beinen mit Verspannung
innere Ruhe stellt sich ein
Bei jemand Zweiten kann der gleiche Impuls sich so äußern:
der Rücken wird belebt, der untere Rücken entspannt sich
auch hier vertieft sich der Atem insgesamt
in den Hüften entwickelt sich ein leichter Schmerz
die Verdauung wird angeregt
es stellt sich keine innere Ruhe ein, im Gegenteil, der Übende fühlt sich eher aufgekratzt
Eine Dritte wird vor allem folgende Wirkungen erfahren:
der untere Rücken entwickelt eine zunehmende Spannung
eine große Unzufriedenheit beherrscht den Geist: Warum kann ich meinen Körper nicht so belasten wie alle anderen hier im Raum?
Und der vierte Gruppenteilnehmer schließlich wird sich vielleicht ganz in einem ungewohnten, aber außerordentlich angenehmen und beglückenden Atemerleben wiederfinden.
Diese unterschiedlichen Wirkungen sind nur dann überraschend, wenn wir glauben, jedes Feld wäre wie das andere.
Kein Mensch gleicht dem anderen, ein gleicher Impuls wird unterschiedliche Wirkungen hervorrufen.
Nehmen wir das sehr einfache Beispiel apanāsana (Abb. 4). Das Heranziehen der Beine führt bei vielen Menschen zu einer Bewegung des Beckens und dadurch dehnt sich der untere Rücken. Wegen dieser Wirkung (Dehnung und dadurch Entspannung des unteren Rückens) ist es als Ausgleichsübung nach fordernden Rückbeugen so gut geeignet. Aber diese Wirkung gilt eben nicht für alle Menschen.
Bei Übenden, die in den Hüften sehr flexibel sind, bewegen sich im apanāsana allein die Hüftgelenke. Das Becken bleibt davon unberührt, der untere Rücken erfährt keinerlei Dehnung. Der Impuls apanāsana führt bei einem solchen Menschen einfach nicht zu der Wirkung: Rückendehnung und Entspannung. Der Damm wurde geöffnet, das Wasser ist geflossen, aber die erwartete Frucht nicht gewachsen.
Diese Situation muss uns aber auch nicht hilflos machen gegenüber einer scheinbar unüberschaubaren und unberechenbaren Vielzahl von Wirkungsmöglichkeiten. Im Gegenteil. Wir beobachten, dass apanāsana nicht die gewünschte Wirkung zeigt und haben dabei gleichzeitig das System, auf das dieser Impuls getroffen ist, besser verstanden. Dieses Verständnis erlaubt uns jetzt jenes Āsana, jenen Spatenstich zu finden, der auch diesem besonderen Feld diese Wirkung entlockt: in unserem Fall zum Beispiel cakravākāsana, einer Vorbeuge aus dem Vierfüßlerstand. Jedes Āsana-Üben öffnet das Buch, das uns vom Inneren eines Feldes berichtet.
Es gehört zu den schönsten Seiten des Yogaunterrichtens, so viel über die Besonderheiten und Vielfalt von Menschen lernen und mit diesem Wissen Nützliches in Gang zu setzen: Yogapraxis so zu lehren, dass sie einen Menschen angemessen erreichen kann.
In dem Moment, in dem jemand eine Übung praktiziert, wird etwas von den Eigenschaften des bewässerten Feldes preisgegeben. Jetzt kann gesehen werden, wie sich der Rücken unter der gegebenen Vorbeuge formt, jetzt kann berichtet werden, in welche Richtung ein vīrabhadrāsana gefühlt wird. Jede Wirkung, die bei einer Yogapraxis beobachtet oder berichtet wird, lehrt besseres Verständnis.
Dieses Verstehen macht es schließlich möglich, Wirkungen vorherzusehen: Wenn diese Person schon bei einer einfachen Vorbeuge vom Stuhl aus Spannung im unteren Rücken spürt, wird sich diese Wirkung beim Vorbeugen aus dem Stand sicher intensivieren. Um die Impulse zu wissen, die ein Āsana zu geben vermag, die Reaktionen darauf zu beobachten und die Wirkweise bei einem besonderen Menschen zu verstehen; daraus können die richtigen Schlüsse gezogen werden, die sich auf zukünftige Wirkungen beziehen. Das gilt für positive Wirkungen ebenso wie für schädliche und deshalb zu vermeidende.
Dieser Prozess ist gerade auch im Rahmen eines Gruppenunterrichts möglich.
Es bedarf dafür allerdings einer wesentlichen Voraussetzung: Der oder die Unterrichtende muss sich als Bauer oder Bäuerin verstehen und nicht als Schöpfer der Pflanzen. Nicht das Dozieren einer Lehre, einer Übung oder gar einer bestimmten Weltsicht steht im Mittelpunkt. Die Haltung im Unterrichten muss vielmehr die von Lernenden sein. Diese Bereitschaft, lernend zu bleiben, offen zu sein für vielleicht Unerwartetes, ist die Grundlage für ein Verstehen der Wirkung von Yogapraxis. Und ist damit auch die Grundlage eines guten Yogaunterrichts. ▼
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